Kapitel 49
„Wow es ist echt aufregend, dass ich gleich meine Eltern kennenlernen" sage ich zu Ced und beiße in das Brot, was Aura uns als Proviant mitgegeben hat.
Vor ein paar Stunden sind wir in Richtung Adresse meiner Eltern losgezogen, natürlich in langsamem Tempo, sodass Ced nicht überanstrengt wird.
Nach einer Internetrecherche ist mir auch bewusst geworden, dass ich den Campingplatz Himmelkron kenne. Er liegt nur eine halbe Stunde mit dem Auto von meinem Zuhause entfernt. Meine wahren Eltern wohnen allerdings in der gegengesetzten Richtung, weshalb ich das Gebiet hier nicht kenne. Auch Ced hatte gesagt, dass er hier nur einmal drüber geflogen sei, mehr aber auch nicht.
Nun sitzen wir an einem Holztisch mit festgemachten Bänken am Rand von einem kleinen Dorf und essen unsere mitgebrachten Sachen, da es schon früher Nachmittag ist.
„Ja das ist es wirklich. Ich hätte auch nicht gedacht, dass wir sie unter diesen Umständen finden würden" bestätigt er nickend.
„Das stimmt. Und wir wissen nicht mal, ob sie etwas von Wandlern wissen"
„Naja, wir müssen stark davon ausgehen, dass sie keine Ahnung haben. Oder kennst du jemanden, der sich einem Menschen offenbart hat"
Ich überlege und schüttele dann mit dem Kopf. Es ist zwar nicht verboten sich mit Menschen anzufreunden, aber aus Angst, dass einem etwas passieren würde, tut das kaum ein Wandler.
Sollte ich meinen Eltern dann überhaupt etwas von meiner Luchs Existenz erzählen? Oder könnte das schon zu viel für sie sein. Schwierig...
Ich seufze und stütze mich mit meinen Ellenbogen auf der glatten Holzfläche ab.
Ced schiebt währenddessen seinen letzten Bissen Brot in seinen Mund und steht dann auf: „Wollen wir weiter?"
„Kannst du denn schon wieder?" frage ich und stehe auf. Ich strecke meine Arme und meine Gelenke knacken einmal kurz, sodass ich überrascht zusammenzucke.
„Natürlich, wir gehen doch nur und die anderen sollen nicht so übertreiben, mir geht's gut" sagt Ced grinsend.
„Wenn du dich sehen würdest, wüsstest du, warum man sich Sorgen um dich machen könnte" antworte ich und deute auf sein Gesicht. Dieses ist nämlich immer noch mit blauen Flecken übersäht und seine Wunde an der Stirn ist dabei zu verkrusten. Auf seinem restlichen Körper sind bestimmt die gleichen Verletzungen zu finden, aber durch die Klamotten bleiben sie versteckt.
„Ach was, ich sehe mich doch manchmal im Spiegel an"
„Manchmal" meine ich lachend und schultere meinen Rucksack, der nicht so schwer bepackt ist und Ced schnappt sich seine wenigen Sachen, die er dabei hat und stopft sie in seine Hosen und Jackentaschen: das Parfüm, Schlüssel, sein Handy und der Zettel mit dem ausgedruckten Zeitungsartikel über mein Verschwinden.
„Los geht's, es ist nicht mehr weit. Hoffentlich sind deine Eltern überhaupt zuhause" sagt Ced.
„Hoffentlich" murmele ich und kralle mich an meinen Rucksack Riemen fest.
Ich reibe mit meinen Händen über meine Hose, um den Schweiß zu entfernen. Mir ist nicht warm, ich bin auch nicht krank, sondern einfach furchtbar aufgeregt.
Jeden Schritt, der mich näher zu der Adresse führt, macht mich nervöser. Auf diesen Moment habe ich seit Wochen hingearbeitet und bin durch halb Deutschland gelaufen. Es kommt mir surreal vor mein Ziel gleich erreicht zu haben. Es macht mir Freunde, aber auch Angst, denn ich habe keine Ahnung, wie das gleich mein Leben wieder verändern könnte.
Was ist, wenn meine wahren Eltern, durch den Zeitungsartikel habe ich herausgefunden, dass sie Nora und Sebastian heißen, wollen, dass ich bei ihnen bleibe.
Niemals könnte ich meine Rabenfamilie verlassen, wenn sie mich denn überhaupt noch wollen. Vielleicht vermissen mich Nora und Sebastian unglaublich und können es nicht ertragen, wenn ich wieder gehe.
Ich habe sie nie bewusst kennengelernt, aber sie mich schon. Zumindest mich als Baby.
Würde ich dann, wie bei geschiedenen Eltern mal da und mal dort wohnen? Würde das überhaupt gehen und was will ich eigentlich?
Möchte ich drei Familien haben? Die Raben, den Zoo und die Menschen? Wie bunt und stabil kann eine Familie sein, wenn ich das einzige feste Stück in dieser Verbindung bin?
Ich weiß ja nicht mal, ob ich meine wahren Eltern mag, vielleicht wollen sie mich gar nicht oder erkennen mich nicht, meine Augenfarbe ist schließlich komplett anders und es sind viele Jahre vergangen.
Und wenn ich dann bei ihnen wohnen würde, müsste ich ihnen vom Luchs erzählen, darum würde kein Weg herum finden. Aber was ist, wenn sie dann Angst vor mir bekommen oder mich in eine Klink geben?!
Ich zucke zusammen, als ich einen Druck auf meiner Schulter spüre und drehe meinen Kopf ruckartig in die Richtung. Ein Hissen entweicht mir vor Schreck.
Doch der Druck bleibt, es ist nur Ceds Hand, die auf meiner Schulter ruht und er sieht mich besorgt an.
Nicht besorgt, weil ich ihn angefaucht habe, sondern mit einem mehr nachdenklichen Blick.
„Tut mir leid" murmele ich beschämt und schlage mir meine Hände vor die Augen und bleibe stehen.
„Es ist in Ordnung. Irina, ich glaube du machst dir gerade zu viele Gedanken. Du bist gar nicht bei dir und deine Hände schwitzen, obwohl kalter Wind weht" antwortet er ruhig.
„Ja, du hast Recht" sage ich leise und nehme meine Hände von den Augen.
Ich war gerade so in Gedanken, dass ich gar nicht gemerkt habe wo wir stehen. Wir stehen mitten in einer kleinen Vorstadt. Das bunte Laub weht um unsere Füße herum und links von uns hört man Kinderlachen. Dort muss ein Spielplatz oder so etwas sein.
Ich stehe also mitten zwischen Häusern, vor allem Menschenhäusern, und hätte fast für einen Moment die Kontrolle verloren.
Gefährlich war die Situation für Ced nicht, ich hätte ihn niemals verletzt, dafür hätte ich zu schnell geschaltet, wer er ist.
Ich war die Gefahr und die Bedrohte zugleich. Hätte ich mich aus Stress gewandelt, hätten wir ein großes Problem gehabt. Vor allem da nun ein älterer Mann an uns vorbeiläuft und mich mit seltsamen Blicken durchlöchert.
Im Allgemeinen scheint hier viel mehr los zu sein als bei mir zuhause. Viel mehr Leute sind unterwegs, mehr Autos fahren und Hunde bellen.
Aber vielleicht kommt mir das hier auch nur so viel vor.
„Irina?" fragt Ced vorsichtig und schon wieder zucke ich zusammen, doch diesmal habe ich mich vollständig unter Kontrolle.
Ich schaue zu ihm herüber und nickend fragend, während wir hier auf dem Bürgersteig stehen und der Wind durch Ceds Haare weht und sie verwuschelt.
„Wir sind da" antwortet er und deutet mit seiner Hand auf ein Haus in der nächsten Straße.
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter, der plötzlich entstanden ist und frage nach: „Dort wohnen sie?"
Ich bekomme ein Nicken als Antwort.
Langsam setze ich einen Schritt vor den anderen und gehe zu diesem Haus, wo meine wahre Familie wohnt.
Es ist ein Reihenhaus, in so einem, wo ich auch wohne und das löst bei mir ein leichtes schmerzhaftes Ziehen in meinem Herz aus.
Als würde ich nur in Zeitlupe vorankommen, gehe ich über die Straße, Ced dicht an meiner Seite.
Das Haus kommt immer näher und näher und plötzlich stehe ich vor der Haustür.
Ich ziehe die Luft ein und blicke die Hauswand nach oben, auf einmal wirkt das Gebäude zu mächtig, als könnte mich nur seine Präsenz erdrücken.
„Sie wohnen noch hier, wir haben Glück" sagt Ced und deutet auf das Klingelschild.
Mein Blick folgt seinen Finger „Nora und Sebastian Schneider" steht auf der Taste.
Wenn ich meinen Finger jetzt bewege und auf die Klingel drücke, werde ich meine Eltern kennenlernen. Langsam strecke ich meinen Finger aus und mir läuft ein Schweißtropfen die Stirn herunter. Nur noch ein paar Centimeter...
„Ich kann das nicht!" rufe ich aus und trete schwer atmend von der Tür zurück.
Ich stemme meine Hände in die Waden und starre auf den Boden. Ced kommt zu mir und kniet sich vor mir hin, sodass ich ihm in die Augen schaue.
„Was ist los? Warum kannst du es nicht?" fragt er besorgt.
„Ich weiß es nicht" murmele ich und meine es auch so, ich weiß nicht, was mich zurückhält.
„Macht es dir Angst?" fragt Ced und ich nicke, vermutlich lässt sich mein Gefühl so am besten beschreiben.
„Aber du brauchst keine Angst haben, die sind bestimmt total nett. Und du hast so lange nach ihnen gesucht" sagt er aufmunternd.
„Das ist es ja" ich richte mich auf und Ced steht wieder auf, während ich fortfahre:
„Ich hab so lange darauf hin gearbeitet sie zu finden und jetzt wo ich da bin, kommt es mir falsch vor. Ich habe Angst, was nach diesem Klingeln passieren wird. Und ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist sie kennenzulernen.
Ced, dieser Weg mit dir soll nicht enden, ich will nicht, dass das aufhört. Dass ich mich frei fühle, obwohl ich gejagt werde. Dass ich sein kann, wer ich bin, obwohl es mich nicht geben dürfte. Dass ich ein Ziel habe, obwohl ich es in Wahrheit nicht erreichen will"
Und wie ich mich versehen kann, liege ich in Ceds Armen und er hält mich ganz doll fest. Tränen laufen mir aus den Augen, die ich mir nicht mal erklären kann, während er über meine Haare streicht und mir wortlos ein Gefühl von Sicherheit gibt.
„Unsere Reise wird nie enden, Irina" flüstert er mir beruhigend zu „wir werden immer irgendein Ziel finden, eine Mission, in der wir frei sein können. Das wird nicht aufhören, vertrau mir. Vielleicht verfolgen wir dann auch mal ein Ziel und ein Abenteuer, wo ich ein Ziel erreichen will. Schließlich bist du ja fast schon allwissend" sagt er grinsend und ich muss trotz meiner Tränen lächeln.
„Siehste, schon wird's besser" sagt er und ich löse mich langsam aus seiner Umarmung.
„Danke Ced" krächze ich und er klopft mir lieb auf die Schulter.
„Wollen wir erstmal durchs Fenster schauen und sehen, ob deine Eltern da sind?" fragt Ced und ich nicke „Das wäre wohl am besten"
Vorsichtig schleichen wir in den Garten, unbemerkt von den Passanten und den Nachbarn und zusammen schauen wir durch das Glas eines Wohnzimmerfensters.
Und tatsächlich sitzt dort eine schwarzhaarige Familie. Ein Mann mit dunklen Haaren, die schon leichte Graufärbungen haben, eine Frau mit langen offenen schwarzen Haaren und zwei Mädchen, beide kurze Haare. Die beiden müssen so etwa in Zoes Alter sein.
Das ist meine Familie.
„Wow, deine Mutter siehst du wirklich sehr ähnlich" flüstert Ced und er hat recht, diese Frau könnte ich sein, nur in älter.
Meine Familie sitzt gerade an einem Tisch und isst Kuchen. Alles wirkt sehr warm und freundlich, es wird gelacht und meine Mutter streicht sich genauso durch die Haare, wie ich es manchmal tue.
„Schau mal, Irina, das Bild, da bist du" sagt Ced aufgeregt und tippt mich an.
Ich folge seinem Blick und tatsächlich, hinter den Personen hängt ein Bild an einer Pinnwand und das kleine Baby könnte tatsächlich ich sein. Allerdings hat Ced bessere Augen als ich und kann das Bild wohl schärfer sehen, um es genau identifizieren zu können.
„Weißt du Ced, die Kinder sind so alt wie meine Schwester"
„Ja und?" fragt er nach, er scheint nicht genau zu wissen, warum ich ihm das sage.
„Schau dir die vier an. Sehen sie für dich glücklich aus?"
„Ja, sehr. Die sind bestimmt sehr freundlich" erwidert er.
„Ich glaube, sie brauchen mich nicht. Nein, das ist falsch. Ich weiß, dass sie auch ohne mich glücklich sind. Meine Eltern haben mich verloren und dann weiter gemacht. Sie haben wieder Kinder bekommen und sind glücklich. Ich spüre, dass ich ihr Leben nur negativ aufwühlen würde, wenn sie mich kennenlernen würde"
„Bedeutet das, du möchtest nicht, dass sie dich kennenlernen?" fragt Ced nach.
Ich nicke.
„Und du bist dir sicher?"
Ich nicke wieder und werfe noch einmal einen Blick auf Nora, Sebastian und auf ihre Töchter. Meine Entscheidung steht fest.
„Ich bin mir sicher, Ced. Ich hätte sie gerne kennengelernt, aber es ist besser so, das Leben muss weiter gehen"
Ced nickt: „Ich verstehe"
„Lass uns gehen" sage ich entschlossen. Noch ein letztes Mal werfe ich einen Blick durchs Fenster und murmele ein „Auf Wiedersehen" und gehe dann entschlossen wieder zurück auf die Straße.
Wir machen uns wieder auf den Weg zurück nach Hause, zum Hauptquartier. Und kein einziges Mal drehe mich zu dem Haus von Familie Schneider um. Sie sind glücklich, ich bin zufrieden. Mein Ziel ist erreicht, ich habe meine wahren Eltern gefunden.
Nun muss ich mich auf das nächste Rätsel begeben:
Wer ist dieser Werluchs, der mich verwandelt hat?
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