Kapitel 47

Nach Hause...
Tja, wenn das so einfach wäre. Es ist leider komplizierter als ich dachte. Und etwas, woran ich heute Morgen auch nicht gedacht habe, erklärt mir Ced so auf dem Rückweg:
„Ist dir bewusst Irina, dass du jetzt nicht einfach nach Hause zurück kannst? Das Trio wusste von Terry schon vorher, wo du wohnst, aber jetzt wissen sie mit Sicherheit, dass du hier bist. Sie können dich zwar nicht in der Öffentlichkeit angreifen, aber sie können dich erstens beschatten und dich irgendwann heimlich überfallen oder zweitens diesen Arzt informieren, der ein genauso großes Problem ist. Du musst mit uns mitkommen und erst, wenn die Dinge sich geklärt haben, kannst du zurück zu deiner Familie"
„Aber wann werden die Dinge geklärt sein?" hatte ich dann gefragt.
Doch das konnten Ced und Vivien mir dann auch nicht erklären. Sie hätten Ideen, aber diese seien noch nicht spruchreif.

Nun stehen wir vor Sammys Haus und ich umarme sie ganz fest, schließlich weiß ich nicht, was als nächstes passieren wird und wann wir uns wiedersehen.
„Pass bloß auf dich auf" murmelt sie mir ins Ohr und drückt mich ebenfalls.
„Du auch" kann ich nur antworten und lasse meine beste Freundin zurück.
Da Vivien nun kein Fahrrad mehr hat, schieben Matteo und ich und laufen neben Ced und Vivien her. Es ist seltsam ich habe die beiden vorher noch nie so innig erlebt. Beide Blicke sind liebevoller, aber auch voller Sorge um den anderen.
Und irgendwie macht mich das traurig. Ich bin nicht eifersüchtig, ich möchte schließlich keine Beziehung mit Ced, aber ich fühle mich wie alleine gelassen.
Natürlich ist dieses Gefühl absolut falsch, offensichtlich habe ich Freunde, die mich unterstützen, dafür müsste ich mich nur umsehen.
Aber das kann ich nicht, alles fühlt sich schwer an, sodass mein Blick nur gerade nach vorne gerichtet ist und ich den Beginn unserer Straße sehen kann.
„Ischt alles gut, Irina?" fragt mich Matteo etwas besorgt, sodass ich nun doch zu meinem treuen Freund schaue.
„Ja, ist alles gut. Ich bin nur erschöpft. War heute einfach ein bisschen viel" antworte ich und reibe mit meiner Hand über die Stirn.
Matteo nickt nur nachdenklich und verabschiedet sich dann von uns, als wir sein Haus erreichen.
Etwas verloren stehen jetzt nur noch Vivien, ich und Ced mitten auf der Straße herum.
„Und was tue ich jetzt?" frage ich und schaue in die beiden Gesichter.
„Um was wir dich bitten, ist vermutlich nicht schön für dich, aber du musst zu deinen Eltern, sie anlügen und dann holen wir dich und deine Sachen durch dein Fenster raus. Und dann müssen wir nach Hause, so schnell wie möglich" antwortet Ced sachlich, aber mit einem Unterton, der sagt „Ich weiß, dass du das eigentlich nicht möchtest, aber es geht nicht anders"
Ich nicke, obwohl mir ein Kloß im Hals steckt.
Es bereitet mir ein sehr ungutes Gefühl, das zu tun. Ich habe meine Eltern in den letzten Tagen schon so viel verletzt und sie haben mir verziehen und unterstützen mich. Schon fast unlogisch viel haben sie mir durchgehen lassen und jetzt soll ich sie wieder verletzten... Wann wird das Lügen endlich aufhören?
„Aber ich muss ihnen einen Zettel hinterlassen, sie machen sich sonst zu große Sorgen"
„Das kannst du machen, aber du musst verhindern, dass die Polizei nach dir sucht" antwortet Vivien und beobachtet das Haus meiner Familie.
Nickend drehe ich mich um und gehe langsam in Richtung Haus.
„Und ihr werdet dann gleich oben bei mir sein?" ich schaue noch einmal über die Schulter zurück und Ced nickt kräftig: „Keine Sorge, wir bekommen das hin" er lächelt mir aufmunternd zu.

Der erste Schritt ist der schwierigste, versuche ich mir einzureden. Und wenn ich den gemacht habe, dann ziehe ich es durch und alles wird gut. Ich komme mit Vivien und Ced in den Zoo, wir besiegen das Trio, finden meine Eltern und alles klärt sich auf. Punkt!
Entschlossen atme ich noch einmal ein, schließe dann die Tür mit meinem Schlüssel auf und betrete mein geliebtes Zuhause, welches mir nun vor Angst die Luft abschnürt.

Drei.
Zwei.
Eins.
Los.
Mit einem aufgesetzten, aber möglichst natürlichem, Lächeln betrete ich unser Wohnzimmer. Mein Rucksack lehnt zum Glück noch hier unten an der Treppe, meine Eltern scheinen damit nichts gemacht zu haben.
„Ah Schatz, da bist du ja" sagt meine Mutter beiläufig, während sie im Wohnzimmer ein Buch liest, „Wir haben schon gegessen, aber es sind noch Brötchen da, wenn du willst"
„Nein, alles ist gut," meine erste Lüge, „ich hab schon gegessen" Und meine zweite.
„Und was ist mit der Schule, Schatz? Wirst du morgen hingehen?" fragt min Vater, der gerade von oben die Treppen herunterkommt und seinen Blick durchs gemütliche Wohnzimmer schweifen lässt.
„Ich weiß nicht"
Ich versuche nicht zu krächzen und räuspere mich deswegen bevor ich fortfahre: „Ich denke ich werde das morgen früh entscheiden, wenn ich aufstehe, okay? Aber ich will jetzt auch lieber meine Ruhe haben und ins Bett gehen" sage ich und komme mir schon fast etwas zu dreist vor, aber mein Vater nickt nur verständnisvoll.
„Na dann gute Nacht"
„Gute Nacht" sagt auch meine Mutter.
„Ja, gute Nacht" murmele ich und lächele noch einmal in den Raum hinein. Doch als ich meinen Rucksack hochnehme, drehe ich mich noch kurz um und versuche meine Stimme zu kontrollieren, damit ich nicht zu traurig klinge:
„Ich liebe euch"
Mit diesen Worten verlasse ich das Erdgeschoss und schleiche hoch in meinem Zimmer.

Als ich meine Zimmertür hinter mir schließe, erschlägt mich mein Zimmer mit seiner Intensivität. Eigentlich war ich nicht so lange weg, aber es fühlt sich an, als wären es Ewigkeiten.
Und alles ist noch so wie ich es zurückgelassen habe, meine Klamotten für meine Geburtstagsfeier liegen noch herum, mein Bett scheint unberührt und auch meine Schulsachen liegen kreuz und quer auf meinem Schreibtisch, als hätte ich vor ein paar Minuten noch daran gearbeitet.
Aber noch etwas anderes steht auf dem Schreibtisch, ich trete hervor und nehme das Geschenk von Matteo hoch. Das kalte Glas kühlt meine warme Hand und die filigranen Spitzen der Äste und der Rabenflügel stechen leicht in meine Hand, aber es schmerzt nicht.
Damals, am Abend vor meinem 16 Geburtstag, hatte ich ganz andere Erwartungen was passieren solle.
Matteo war gekommen, um mich aufzumuntern, um mir Mut für die nächsten Tage zu geben. Mut zu geben, dass ich mich bald in einen Raben wandeln würde, was nie passiert ist und auch nicht passieren wird.
Schon alleine die Vorstellung sich in einen Raben zu wandeln ist jetzt für mich seltsam. Ich frage mich, ob das allen falschen Wandlern so geht. Vielleicht sollte ich das mal Ced fragen oder Kieron.
Auch wenn es von außen scheint, als wäre Kieron glücklich, kaufe ich ihm das nicht 100-prozentig ab. Warum sollte er uns sonst helfen? Er weiß, dass ich ein besonderer Wandler bin, schließlich hat er den Zusammenhang zwischen meinen Augen und Haaren erkannt, und deshalb weiß er auch, dass es gefährlich sein könnte, sich für mich einzusetzen.
Eigentlich müsste ich ihm mehr danken, als nur danke zu sagen.
Ob ich vielleicht... grübele ich, als es plötzlich leise an mein Fenster klopft.
Schnell drehe ich mich um und sehe, dass Ced vor meinem Fenster schwebt und mit seinem Schnabel gegen das Glas klopft.
Man, da hätte ich fast schon meinen Ausbruch-Plan vergessen.
Ich öffne hastig das Fenster und Ced kommt in meinem Zimmer und landet auf meinem Bett.
Wie seltsam, Ced war noch nie in meinem Zimmer. Generell hat er vorher meine Familie und mein Zuhause noch nie gesehen, aber es fühlt sich nicht bedrängend oder unangenehm an.
„Können wir los?" fragt Ced mit einem Nicken in Richtung Fenster.
„Ja, ich nehme meinen Rucksack wieder mit" und deutet mit der Hand auf mein Gepäck.
Während ich meinen Rucksack schultere, hüpft Ced los, sodass er auf meiner Fensterbank sitzt. Ich schalte mein Zimmerlicht aus und trete dann zu ihm. Als ich aus dem Fenster herunterschaue, sehe ich unten Vivien stehen und winken.
„Was hat das Trio dir eigentlich angetan und zu dir gesagt" frage ich sorgenvoll, als ich sehe wie Ced seinen Flügel etwas steif bewegt.
„Das erzähle ich dir wann anders" antwortet er und ich versuche es mit einem anderen Thema.
„Aber wie komm ich denn da runter?" frage ich etwas nervös.
„Du wandelst dich und kletterst dann runter" meint Ced locker und geht somit auf meine Ablenkung ein.
„Runterklettern, aber die Pflanzen halten mich doch niemals?" antwortet ich mit Bedenken.
„Doch das glaubt schon und im Notfall fängt dich Vivien auf, schließlich bist du als Luchs etwas leichter" Ced zwinkert mir zu.
„Na gut" stöhne ich und muss an den Moment denken, wo ich auf dem Dach der Gärtnerei stand.
„Oh ich muss noch schnell einen Zettel schreiben!" meine ich aufgeregt und krame aus meinem Schrank ein Blatt Papier hervor, auf das ich schreibe:

Mama, Papa,
Es tut mir leid, dass ich euch schon wieder verlassen muss, aber die Lage ist ernst, Ihr müsst mir vertrauen, dass ich das schaffe. Bitte ruft nicht die Polizei. Sobald ich kann, melde ich mich.
Ich liebe euch.
Irina

Ich lege den Zettel sichtbar auf mein Bett und kneife dann entschlossen die Augen zu und atme noch einmal tief durch.
Dann lasse ich das Feuer meine Haut verbrennen und wenige Momente später, stehe ich gewandelt auf meinem Fußboden.
Etwas unruhig wippe ich von der einen Tatze auf die andere. Mein Zuhause jetzt wieder zurückzulassen, ist ein seltsames Gefühl.
„Na komm, du schaffst das" muntert mich Vivien leise von unten auf. So leise, dass es vermutlich nur ich wegen meinem guten Gehör bemerken kann.
Ich gebe mir einen Ruck und klettere auf die schmale Fensterbank. Dann setze ich rückwärts meinen Fuß in einen der Pflanzenschlingen und teste meinen Halt und die Wirkung meines Gewichts. Überrascht stelle ich dabei fest, die Ranken bewegen sich zwar leicht, doch sie müssten mich halten.
So setze ich einen Pfote nach der anderen gezielt in bestimmte Stellen und meine ausgefahrenen Krallen bieten einen zusätzlichen Halt.
Doch etwa zwei Meter über dem Boden, geht es auf einmal nicht weiter. Die Pflanzen sind an dieser Stelle nicht gut gewachsen, sodass ich keinen guten Halt finde.
„Du kannst in meine Arme springen, ich fange dich auf" flüstert Vivien zu mir hoch und ich sehe im Augenwinkel wie Ced mir ermutigend zunickt.
„Okay" murmle ich etwas unsicher und vermeide runterzusehen, da ich schon weiß wo Vivien steht.
In Gedanken zähle ich von drei runter und bei null, lasse ich mich mit dem Rücken voran fallen.
Huch was mach ich da?
Frage ich mich noch als mein Körper sich von alleine dreht und wendet und ich plötzlich mit meinen Beinen nach unten in Viviens Arm lande.
Diese gibt nur ein leises „Uff" von sich, hält mich aber sicher fest. Dann setzt sie mich ab und meint grinsend:
„Es stimmt wohl, dass alle Katzen auf ihren Füßen landen, so schnell hätte ich mich nicht drehen können"
„Aber ich habe das gar nicht absichtlich gemacht, es ist einfach passiert" meine ich nachdenklich.
„Dann ist es halt so" sagt Ced der in seiner Menschengestalt neben mir kniet und anerkennend auf meine Schulter klopft. „Okay, los geht's. Wir sollten uns erst wandeln, wenn wir wieder im Wald sind, auch wenn hier nur Wandler wohnen, ist das zu riskant"
„Können wir vielleicht noch vorher zur Schule?" frage ich vorsichtig.
„Was willst du denn da?" die Überraschung ist Ced deutlich anzusehen.
„Ich möchte noch mit Kieron reden und ihm danken, naja und..."
„Oh ich weiß, was du vorhast. Du willst Kieron von unserem Zoo erzählen, habe ich Recht?" unterbricht mich Vivien wissend.
„Ja das hatte ich tatsächlich vor. Aber natürlich nur, wenn ihr einverstanden seid"
„Ich kenne ihn nicht, dass musst du entscheiden, Vivien"
Vivien scheint kurz zu grübeln, aber nickt dann: „Ich glaube, wir können ihm vertrauen"
„Danke" antworte ich strahlend und gemeinsam machen wir uns auf dem Weg zum Internat der Schule.

Dort angekommen, zeige ich Ced ein Bild von Kieron, und er fliegt los, um vor den Fenstern Ausschau zu halten. Wäre ich nämlich wieder losgeklettert, hätte das zu lange gedauert.
Nach einigen Minuten scheint Ced die Eule gefunden zu haben, denn kurz darauf kommt er mit Kieron durch ein Fenster im dritten Stock heruntergeflogen.
Beide wandeln sich in ihre menschliche Gestalt und Kieron meint freudig, aber auch verwundert:
„Also ich hätte nicht gedacht, dass ihr es so einfach schafft Ced zu befreien und mich dann jetzt noch besuchen würdet"
„Ja, wir hatten wirklich Glück und wir wollten uns nochmal wirklich bei dir bedanken" sage ich aufrichtig.
„Wir falschen Wandler halten eben zusammen" antwortet der Junge und ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen.
„Ja" sage ich und verschweige, dass ich mehr bin als Kieron glaubt.
„Zumindest möchten wir dir etwas anbieten, Vivien und Ced wohnen mit anderen Wandlern zusammen in einem Haus, wo jeder er selbst sein kann und wenn du möchtest, darfst du auch dorthin kommen" erzähle ich.
„Oh, das scheint wirklich eine große Ehre zu sein. Vielen Dank. Und und wie komme ich da hin?"
„Hier" meint Vivien und zeigt ihm über Google Maps den Ort vom Zoo. Kieron nickt und scheint sich alles einzuprägen.
„Das ist wirklich sehr nett von euch, wenn ich Zeit habe, werde ich mal vorbeikommen" lächelnd streicht er sich durch die Haare.
Daraufhin trennen wir uns wieder voneinander. Während Kieron zurück in sein Zimmer fliegt, machen Vivien, Ced und ich uns auf dem Weg zum nächsten Wald.
Dort angekommen, wandeln wir uns.
Doch diesmal läuft Vivien als Wolf neben mir her, um mir Gesellschaft zu leisten. Ich finde das unglaublich nett von ihr, da ich weiß, wie gern sie mit Ced fliegen würden.
Zusammen laufen wir über Wiesen und durch Wälder. Nach Hause. Und es fühlt sich an, als wären wir ein kleines Rudel. Das andere Trio.


(2281 Wörter)

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