Kapitel 39

„Frau Pfeifenbart?" frage ich eine Frau, die etwas älter als meine Mutter zu sein scheint.
„Ja, das bin ich. Was wollt ihr beiden denn?"
„Wir möchten gerne mit Ihnen reden. Könnten wir kurz reinkommen?"
Etwas verwundert sieht Frau Pfeifenbart uns an, doch als sich ihre Nase kurz bewegt und sie unseren Geruch wahrnimmt, geht ihr ein Licht auf und sie öffnet die Tür in das Familienhaus, sodass wir eintreten können.
„Du bist auch ein Luchs und was bist du?" fragt Frau Pfeifenbart an Ced gerichtet, als die Tür geschlossen ist.
„Ich bin ein Fischadler" erwidert Ced.
„Ach wie schön. Meine Freundin ist auch ein Fischadler, kommst du auch von hier?"
„Nein, ich komme von der Nordsee"
„Das ist ja weit weg, naja kommt mit in die Küche, dort können wir uns unterhalten"
Wir nicken und folgen ihr in den nächsten Raum.
„Mit wem wohnen Sie denn alles hier, das ist ja ein großes Haus?" frage ich neugierig als ich wir in die große Küche eintreten.
„Mit meinem Mann und zwei Kindern. Naja, früher waren wir zu fünft, aber das ist schon lange her"
Ich horche auf; meint Frau Pfeifenbart etwa, dass sie ein Kind verloren hat? Könnte sie meine Mutter sein? Bin ich das verlorene Kind?
„Bedeutet das, Sie haben ein Kind verloren?" fragt Ced vorsichtig.
„Ja vor vielen Jahren ist mein erster Sohn gestorben, er hatte Krebs und die Ärzte hatten keine große Hoffnung"
„Das tut uns wirklich leid" meint Ced mitfühlend für uns beide.
„Danke, aber es ist nun mal so wie es ist. Ich werde mich immer an ihn erinnern. Dort oben hängt ein Bild. Aber das wollt ihr vermutlich gar nicht hören, warum wolltet ihr mit mir sprechen?"

Enttäuscht fange ich an, Frau Pfeifenbart meine Geschichte zu erzählen.
Doch sie ist nicht meine Mutter und ich bin nicht ihr verlorenes Kind.
„Es tut mir leid, aber wie ihr wisst, hatte ich nie eine Tochter"
„Ja das stimmt wohl" meint Ced nickend, doch dann fällt sein Blick auf etwas bei mir und er fragt Frau Pfeifenbart: „Kennen Sie zufällig weitere Luchse. Zum Beispiel eine gewisse Sionara?"
Ced scheint wohl den Zettel in meiner Tasche erspäht zu haben, denn Sionara ist die letzte Person auf meiner Liste. Und somit meine letzte Hoffnung.
„Oh ja ich kenne eine Sionara, ebenfalls ein Luchs und eine Freundin von mir"
„Wirklich?! Das ist ja großartig. Wo wohnt sie denn?" frage ich begeistert.
„In Köln."
„Ohh" meinen Ced und ich gleichzeitig. Köln ist ganz schön weit weg.
„Können Sie uns vielleicht sagen, ob ihre Freundin meine Mutter sein könnte?" frage ich nach.
„Also das ist ausgeschlossen. Sionara ist lesbisch und erst seit kurzem mit ihrer Freundin verlobt. Ich wüsste davon, wenn sie ein Kind gehabt hätte. Ihr könnt sie aber auch direkt anrufen, wenn ihr wollt."
„Nein danke, ich glaube Ihnen und vielen Dank für Ihre Hilfe" sage ich etwas enttäuscht.
„Das ist doch selbstverständlich. Kommt, ich bring euch zur Tür"
Mit diesen Worten verlassen Ced und ich das Haus von der Luchs Familie und gehen die Straße entlang.
Der Wind weht uns um die Ohren und eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen.

„Was machen wir denn jetzt, Ced?"
„Ich weiß es ehrlichgesagt nicht. Pfeifenbart und Sionara waren die letzten auf deiner Liste und alle Leute, wo wir waren, waren nicht deine Eltern"
„Das stimmt, ich müsste eigentlich nochmal mit Frau Simons reden, vielleicht hat sie wen vergessen"
„Das kannst du ja machen, aber nicht jetzt. Ich würde sagen wir machen uns jetzt auf den Weg zurück zum Zoo. Bis wir dort ankommen ist es eh morgen und dann kannst du sie anrufen. Am Freitagabend wirst du sie vermutlich nicht mehr erreichen können" sagt Ced und zuckt mit den Schultern.
„Da hast du auch wieder Recht und wie kommen wir jetzt nach Hause?"
„Wir können ein Stück mit dem Bus fahren und den Rest laufen wir. Meinst du, du kannst schon wieder in der Luchsform laufen, das würde die Dauer des Weges um einiges verkürzen?"
„Ich kann es nachher ausprobieren. Wann sind wir denn dann morgen da?"
„Ich denke am Nachmittag. Schließlich müssen wir zwischendurch noch schlafen"
Gähnend nicke ich und setze mich langsam in Bewegung. Ced folgt mir lachend und fängt dann an eine Melodie zu pfeifen, die ich nicht kenne.

In Gedanken versunken steige ich mit Ced in den nächsten Bus in Richtung zu Hause ein und lasse mich auf den Platz ganz hinten fallen. Während Ced vorne die Karten kauft, lehne ich meinen Kopf an die kalte nasse Scheibe und beobachte die sich bewegenden Lichter.
In Gedanken bin ich immer noch bei meinen Eltern; bei beiden, meine wahren Eltern und meine Eltern, die ich mein Leben lang kenne. Es ist zum verrückt werden, warum ist alles so verzwickt?
Ich spüre noch wie Ced sich neben mich setzt, doch mein Kopf fühlt sich so schwer an. Als ich meine Augen kurz schließe, bekomme ich sie vor Müdigkeit nicht mehr auf und schlafe im schaukelnden leeren Bus ein.

„Irina?" fragt Ced und tippt mir in die Seite
„Ja?" frage ich verwundert und schaue mich um. Ced und ich stehen wenige Meter vor dem Wandler Haus bei den Schrebergärten. Es ist Samstagnachmittag.
„Du warst schon wieder so in Gedanken und wärst fast ins Beet gelaufen" sagt Ced und deutet auf den Boden. Und tatsächlich stehe ich schon fast mit einem Fuß in einem Beet mit Blumen und Unkraut drinnen.
„Sorry, ich war einfach in Gedanken" meine ich kopfschüttelnd. Schon die letzten Stunden, nach der Busfahrt und nach unserem kurzen Schlaf in einem alten Hochstand, war ich in Gedanken versunken gewesen. Ced war weit über mir geflogen, während meine Pfoten über das nasse Laub trappten, ich war in gewisser Weise alleine in meinem Kopf gewesen. Und in diesem drehten sich so viele Themen und Fragen.
Ich habe heute auch gemerkt, wie wenig Zeit ich hatte, alles Geschehene zu verarbeiten und dass es bewundernswert ist, dass ich nur diesen eine Zusammenbruch mit Oren hatte. Wer weiß wie kaputt meine Psyche schon ist?
„Das habe ich gemerkt" sagt Ced und lächelt mir zu. Er scheint gemerkt zu haben, dass ich im Moment nicht für Späße zu gebrauchen bin.
„Na komm las uns reingehen. Ich wette einer von den Jungs hat uns schon bemerkt, ich habe nämlich oben im Fenster Wuschelhaare gesehen" meint Ced locker und deutet nach oben.
Und tatsächlich, als Ced die Tür aufschließen will, öffnet Iven, oder Oren?, die Tür mit Mika im Gespann.
„Na Oren, hast du uns vermisst? Hi Mika"
Verdammt, doch nicht Iven, sondern Oren, denke ich schmunzelnd.
„Hi" sagt Mika und winkt mir und Ced zu.
„Na klar, hab ich euch vermisst, ne halbe Woche ohne euch fühlt sich an wie ein ganzer Monat. Ced, du musst Juno unbedingt bei ihren Hausaufgaben helfen, ich kann keine Sachkunde mehr sehen" sagt Oren lachend und hält sich seine Hand vor die Augen, sodass seine roten lockigen Haare auf und ab wippen.
„Das mach ich doch gerne. Wo sind die anderen denn?" fragt Ced.
„Mandarin ist in ihrem Zimmer und der Rest ist einkaufen" sagt Mika.
„Alles klar. Wollen wir Mandarin kurz von unserer Reise erzählen, bevor du deine Lehrerin anrufst?" fragt Ced an mich gerichtet.
„Ja können wir machen. Oren, wärst du so lieb und würdest kurz meinen Rucksack in Ceds Zimmer bringen?"
„Du meinst wohl ins Chaos Zimmer, aber ja klar kann ich machen" sagt Oren grinsend.
„Danke" antworte ich lachend und reiche ihm meinen Rucksack, da sich mein Rücken schon ganz schwer anfühlt.
Oben angekommen, treten Ced und in Mandarins und Auras Zimmer ein, während Mika unten in der Küche geblieben ist.
„Ah ihr zwei seid wieder da" heißt Mandarin uns freudig Willkommen und dreht sich an ihrem Arbeitstisch um.
„Ja und es gibt einiges zu erzählen" sagt Ced.
„Na dann schießt mal los" antwortet Mandarin gespannt und ich fange an unsere kurze Reise zu erzählen.

„Also, das ist wirklich ärgerlich. Deine Eltern wissen Bescheid und erlauben dir es zwar, aber deine wahren Eltern hast du nicht gefunden"
„Stimmt" erwidere ich schulterzuckend „aber ich will jetzt meine Lehrerin anrufen und sie fragen, ob ihr noch was einfällt. Vielleicht kann ich meine Eltern morgen überzeugen, dass ich noch weitersuchen darf"
„Das wäre natürlich toll. Schon seltsam, dass du uns morgen erstmal verlassen wirst" sagt Mandarin seufzend.
„Für mich ist es auch seltsam" entgegne ich und Ced nickt ebenfalls.
„Aber jetzt ist noch nichts entschieden. Ich ruf jetzt Frau Simons an" sage ich entschlossen, um meine innere Unruhe zu vertreiben.
Ich hole den Zettel heraus und wähle Frau Simons Nummer, während Ced und Mandarin mir zusehen.

„Hallo, hier ist Anna Simons"
„Frau Simons? Hier ist Irina"
„Oh hallo Irina. Gut von dir zu hören. Warst du schon erfolgreich?"
„Nein leider nicht, ich habe alle von Ihrer Liste abgearbeitet, aber niemand von denen waren meine Eltern. Fallen Ihnen vielleicht noch mehr Leute ein?" frage ich nach.
„Nicht direkt. Aber gestern ist mir etwas eingefallen, aber das kann ich jetzt nicht am Telefon besprechen, es ist nämlich etwas nicht so normales und vielleicht bin ich auch einfach verrückt" meint sie unsicher.
Verwirrt nicke ich: „Ich komme morgen wieder nach Hause, können wir dann reden?"
„Ja das passt. Komm am besten um 13 Uhr zur Schule und dann erzähle ich es dir"
„Super, dann bis dann!" meine ich überrascht und lege auf.
„Frau Simons will mir morgen in der Schule etwas über irgendwas Geheimnisvolles erzählen, was ihr noch eingefallen ist" erkläre ich Ced und Mandarin.
„Seltsam" meint Mandarin und runzelt die Stirn.
„Naja wir werden schon sehen, ob es uns weiterhilft und wenn nicht, dann ist es auch nicht schlimm" sagt Ced und klopft mir auf die Schulter.
„Genau" erwidere ich und grübele vor mich hin: Was ist Frau Simons bloß eingefallen?

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