Kapitel 34

Aua, mein Kopf...
Es tut alles so weh. Was ist passiert?
Ich hebe meine Hand und presse sie gegen meinen Kopf, der ziemlich stark schmerzt. Doch das, was meinen Kopf berührt, ist nicht meine Hand, sondern eine Pfote.
Sofort schießen wieder die Bilder in meinen Kopf. Vom Kampf mit Terry, die Flucht vor den Puma Geschwistern und die Rettung durch Ced.
Aber wo bin ich jetzt?
Ich reiße meine Augen auf und ich kann kaum etwas erkennen. Die Nacht spendet wenig Licht und meine Augen müssen sich erstmal daran gewöhnen.
„Was zur Hölle?!" rufe ich aus, als ich bemerke, dass ich auf einem Ast einer sehr sehr hohen Tanne liege.
Wie bin ich hier hergekommen?!
Meine Krallen graben sich in den Ast, da sich der Baum durch den Wind leicht bewegt. Durch meine unsicheren Bewegungen schabt die Rinde an meinen blutigen Wunden und ich beiße die Zähne zusammen.
„Gut, dass du wach bist" höre ich Ceds Stimme und ich schaue mich um.
In seiner Vogelgestalt sitzt Ced einige Äste über mir, auf noch dünneren Ästen muss gesagt werden und schaut emotionslos zu mir herunter.
Kein Wunder, dass ich ihn erst nicht gesehen habe, sein dunkles Federkleid tarnt ihn sehr gut und die verräterischen weißen Federn versteckt er unter seinen Flügeln.
„Was ist los, Ced?" frage ich verwirrt, über Ceds Ausdruckslosigkeit.
„Was los ist?!" meint dieser empört und fliegt zu meinem Ast herunter, sodass wir uns direkt in die Augen schauen.
„Ich sag dir mal was gerade los ist, Irina! Du schleichst dich mitten in der Nacht weg, ohne mir was zu sagen. Und dann begegnest du augenscheinlich dieser Terry und fängst auch noch an dich mit ihr zu prügeln. Ich meine, wie kommst du auf so eine bescheuerte Idee?!"
„Ich... ich wollte dir Bescheid sagen, aber das ging nicht..." meine ich stotternd.
„Das ging nicht?! Warum sollte das nicht gehen? Ich meine, du bist ne Raubkatze und hast ne gute Nase, Gehör und Geruch, du musst sie doch wohlrechtzeitig bemerkt haben?!"
„Aber Ced... der Wind..." versuche ich zu erklären, doch er unterbricht mich.
„Jaja der Wind, genau... Und noch was verstehe ich nicht. Wie konntest du Steve und Scarlett nicht bemerken?! Ich meine du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass Terry alleine ist?!" sagt Ced und Wut und Enttäuschung schwingt in seiner Stimme eindeutig mit.
„Ich hab sie wirklich nicht bemerkt. Auf mich hat es so gewirkt als wäre Terry alleine" sage ich verzweifelt und ein eisiger Wind weht durch mein Fell, sodass sich eine Gänsehaut bildet.
„Aber wie konntest du so leichtsinnig sein? Wir hatten so Glück, dass wir das Trio in den letzten Tagen nicht getroffen haben, aber sobald ich dich alleine lasse, läufst du direkt in ihre Arme, gewinnst zwar einen Kampf, aber bist trotzdem viel zu schlimm verletzt! Wer weiß wie lange das alles zum Heilen brauchen wird..."
„Es tut mir wirklich leid, Ced. Ehrlich" ich starre auf meinen blutverschmierten Tatzen und kann meinem Beschützer nicht in die Augen sehen.
Ced seufzt und schüttelt dann den Kopf:
„Ich weiß, dass es dir leid tut, aber manchmal verstehe ich dich einfach nicht. Du möchtest unbedingt herausfinden, wer du bist und dann werden dir Steine in den Weg gelegt: Der Arzt, die Reise, das Lügen, das Trio. Und gekonnt umgehst du alles oder meistert es, weil du die Wahrheit suchst, aber dann läufst du blind in eine Falle hinein, lässt dich provozieren und gehst beinahe drauf! Wie passt das alles zusammen? Irina, was ist dein Ziel?"
„Ich will die Wahrheit doch herausfinden und ich geb doch auch mein Bestes, das gerade eben war nicht meine Absicht..." ich schaue zu Ced und versuche ihm mitzuteilen, dass es wirklich so ist. Doch dieser scheint innerlich so verletzt und enttäuscht zu sein, dass er sich zur Seite dreht und in den Himmel starrt.

Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und ich denke in der Stille über all das nach was gerade passiert ist.
Wie konnte ich nur so dumm sein und auf Terry hereinfallen!? Ced hat Recht, ich hätte fliehen sollen... ich hätte die nötige Zeit gehabt und habe es doch nicht getan. Aber warum? Was ist mit mir los?
Ein schrecklicher Gedanke kommt mir. So schrecklich, dass ich ihn gar nicht wahrhaben will, doch leider passt alles viel zu sehr.
Krächzend spreche ich es leise aus: „Vielleicht hatte Herr Doktor Ursus doch Recht, Ced. Vielleicht bin ich nicht normal und gehöre in eine geschlossene Klinik, wo ich andere nicht in Gefahr bringen kann..."
„Das ist nicht dein Ernst, Irina?" fragt Ced schockiert und dreht sich zu mir um.
„Doch" der Kloß in meinem Hals wird größer und ich halte meine aufkommenden Tränen zurück
„Seit meiner Wandlung habe ich mich verändert, ich bin aggressiver geworden und bringe andere nur noch in Gefahr"
„Nein, das stimmt nicht, Irina! Rede dir das nicht ein, den sonst wird es irgendwann wirklich so"
Ced hüpft auf einen Ast gegenüber von mir und wandelt sich dort in seine menschliche Gestalt. Der Ast knartscht und Ced hält sich schnell am Stamm fest, da er eigentlich zu schwer ist. Doch der Ast hält und Ced hängt unsere Rucksäcke an einen anderen Ast, dann wendet er sich wieder mir zu.
In seinen Augen ist sowohl die Emotionslosigkeit als auch die Wut verflogen und ich spüre Mitleid und einen Hauch von Verzweiflung.
„Wir haben es so weit geschafft. Du darfst jetzt nicht aufgeben! Wir bekommen das hin" meint Ced und berührt mit seiner Hand meine Vorderpfote.
Seine Berührung beruhigt mich, doch dann fällt mein Blick auf Ceds blutiges Shirt und seine vernarbten Wunden und ich muss schlucken.
„Aber ich bringe dich doch nur in Gefahr! Du musstest früher mit Steve und Scarlett kämpfen und deine Wunde sind immer noch zu sehen. Und jetzt wo ich da bin, musst du das wieder. Alles ist meine Schuld... überall ist viel zu viel Blut"
„Ach man Irina, du verstehst das nicht. Sieh mal, ja es stimmt, wenn ich alleine reisen würde, könnte ich einfach vor den Pumas wegfliegen und mir würde nicht passieren und deshalb reise ich auch so oft alleine. Aber was mache ich, wenn ich nicht reise?"
„Du bist bei den anderen"
„Genau! Und von denen können die Wenigsten fliegen oder sich richtig verteidigen. Freunde und Familie bei sich zu haben, bedeutet manchmal Schaden zu bekommen, um andere zu schützen. Hätte ich Mika dabei gehabt, hätte er nichts machen können. Mandarin würde im Notfall auch kämpfen, aber keiner hat so viel Erfahrung wie ich. Es gibt immer jemanden der der Beschützer ist, ob es die Beteiligten nun einsehen wollen oder nicht"
„Aber ich habe dich doch verletzt..." meine ich und deute mit einem Nicken auf sein Shirt.
„Du meinst das Blut auf meinem Shirt? Das ist nicht meins, sondern aus deinen Wunden. Ich wurde hier überhaupt nicht verletzt, außer als ich mit meinem Dickkopf in Terry hineingeflogen bin. Da kann ich nicht abstreiten, dass ich leichte Kopfschmerzen habe. Und natürlich Rückenschmerzen, schließlich musste ich zwei Rucksäcke alleine tragen" sagt Ced spaßend und ich kann langsam wieder über Ceds Sprüche lächeln.

Vielleicht hat Ced auch Recht mit dem, was er sagt, aber trotzdem erklärt das nicht, warum ich mich seit meiner ersten Wandlung so verändert habe.
„Aber wäre es nicht trotzdem sinnvoll zu einem Arzt zu gehen? Also wegen meiner Veränderung?" meine ich zu Ced und dieser überlegt kurz.
„Natürlich kannst du das machen, aber vielleicht nicht zu diesem Bären Arzt und vielleicht auch nicht jetzt. Lieber, wenn wir deine Eltern gefunden haben, okay?"
„Okay" sage ich nickend und lege meinen Kopf auf meine Vorderbeine. Ich spüre, wie meine Wunden mir die Kräfte langsam rauben, aber auch wie mein Körper die Wunden verheilt.
Wandler Körper heilen schneller als die von einem normalen Menschen, aber so schnell hätte ich auch nicht gedacht.
„Ced? Ich habe noch zwei Fragen"
„Ja?"
„Wie sind wir hier hochgekommen und wo ich das Trio hin? Und was passiert mit meinen Wunden, wenn ich mich zurück in einen Menschen wandele?"
„Uff, die erste Frage ist etwas komplizierter zu erklären, also zuerst zu deiner zweiten Frage: Du weißt ja, dass wenn du als Luchs schmutzig wirst, dass der Dreck dann nach der Wandlung nicht auf dir oder deinen Klamotten sein wird. Das Blut aus deinem Fell wird auch weg sein, wenn du dich wieder in einen Luchs wandelst. Der Punkt sind aber deine Wunden: Diese werden zwar schneller heilen als bei Menschen, aber sie werden trotzdem weiter bluten und dir in beiden Gestalten Schmerzen hinzufügen. Bedeutet also, du hast die Wunden als Luchs als auch als Mensch"
„Heißt das, wir können später auch einfach zu einem Menschen Arzt gehen, der mich behandelt?"
„Theoretisch ja, praktisch nein. Da du überall Kratz und Beißwunden hast, müsstest du erklären, woher du diese Verletzungen hast. Und da du noch minderjährig bist, müssten die Ärzte deine Eltern informieren. Tja und den Rest kannst du dir selbst denken..."
Oh ja das kann ich. Meine Eltern würden mich auf der Stelle einfangen und dann erstmal nicht mehr aus unserem Haus rauslassen.
„Aber wer behandelt denn dann meine Wunden?"
„Aura kann das machen und sogar falls deine Wunden genäht werden müssen, haben wir dafür die nötigen Sachen da"
Aua, ans Nähen möchte ich gerade gar nicht denken...
„Und was ist mit meiner ersten Frage?" meine ich zu Ced.
„Ja wie gesagt, das ist etwas kompliziert und vermutlich hast du auch noch nie davon gehört"
„Ich hab von vielem noch nicht gehört. Zum Beispiel wenn ich an Vivien oder an Iven und Oren denke"
„Tja, aber das sind auch genetische Außergewöhnlichkeiten. Was ich getan habe, könnte illegal sein, weil es die biologischen Möglichkeiten sprengt" meint Ced etwas ernster.
„Oh okay. Aber du hast es getan, also spann mich nicht so lange auf die Folter" sage ich und stupse ihn leicht mit meiner Nase an.
Ced nickt und fängt dann an zu erzählen:
„Als ich damals noch alleine lebte, habe ich mal an einem windigen Tag einen Wandler am Strand gefunden. Er wirkte ziemlich chaotisch und alleine. Wir kamen ins Gespräch, weil niemand sonst da war und er erzählte mir, dass er hauptsächlich in seiner Tiergestalt sei und abseits von der Gesellschaft lebt"
„Welches Tier ist er denn?"
„Björn, so nannte er sich, war eine Schwalbe. Mehr aus seiner Hintergrundgeschichte erzählte er nicht. Aber er zeigte mir etwas. Wir wussten beide schon, dass es möglich ist Gegenstände mitzuwandeln, aber Björn wollte weitergehen. In seiner Menschengestalt ging er in die Stadt, berührte Menschen und versuchte sie zu oder mitzuwandeln. Allerdings geschah nichts, Menschen besitzen zu wenig tierische DNA, damit das möglich wäre. Der Aufbau eines Körpers ist einfach zu komplex. Doch dann traf er ein junges Wandler Mädchen, die erst seit kurzem ihre Wandlung hinter sich hatte. Warum das Mädchen sich auf Björns Experimente einließ, weiß ich nicht, doch sie stimmte zu. Und dann gelang es ihm, er wandelte sich, berührte dabei das Mädchen und sie verschwamm mit seiner Gestalt. Wie ein Gegenstand"
„Aber wie ist sowas möglich?!" frage ich erstaunt, da sowas wirklich biologisch nicht möglich sein sollte.
„Ich weiß es nicht und Björn auch nicht, aber liebte seine neue Entdeckung. Er wandelte sich zurück und wollte das Mädchen fragen, wie es war. Doch diese war ohnmächtig und konnte sich nicht daran erinnern, irgendwas während der Wandlung gesehen zu haben. Enttäuscht versuchte Björn es weiter, aber auch in ihrer Tierform war das Mädchen erst ohnmächtig und auch danach ohne Erinnerung. Trotzdem war er zuerst zufrieden mit seiner Entdeckung: Wandler können andere mittransportieren. Allerdings vergaß er einen wichtigen Aspekt. Das Gewicht. Als er versuchte einen erwachsenen Wandler mitzuwandeln gelang es ihm zwar, doch an Bewegungen oder Fliegen war nicht zu denken. Gegenstände werden etwas leichter, wenn sie mitgewandelt werden. Personen nicht.
Natürlich wollte ich es ausprobieren, als Björn mir davon erzählte und es stimmt: Ich konnte ihn mitwandeln, doch fliegen konnte ich mit ihm erst, als er in seiner leichten Tiergestalt war"
„Wow, das ist echt krass" meine ich immer noch schockiert.
„Ja, das ist es tatsächlich" sagt Ced nickend.
„Und das hast du mit mir gemacht? Du hast mich deshalb hochgehoben und deswegen bin ich ohnmächtig geworden?"
„Ja, es war unsere einzige Rettung. Als Luchs bist du um einiges leichter, als als Mensch und hier oben in diesem Baum konnte uns das Trio nicht erreichen"
„Sind sie denn im Moment unter uns?" frage ich und schaue nach unten. Doch der Baum ist so hoch, dass ich leichte Höhenangst bekomme und meinen Blick wieder auf Ced richte.
„Nein, sie sind auf der Suche nach uns. Als ich mich mit dir gewandelt habe, konnten sie sich nicht erklären, wo du hin bist und mir konnten sie nicht folgen. Nachdem ich dich hier oben abgesetzt habe, habe ich ein Kleidungsstück von dir, keine Ahnung welches, zum Rande des Waldes gebracht, um unsere Verfolger auf eine falsche Fährte zu bringen"
„War ich denn so lange ohnmächtig?" frage ich verdutzt.
„Also eine Stunde bestimmt. Das kann aber auch an deinen Wunden liegen, die dich zusätzlich schwächen"
„Und warum denkst du, dass das illegal ist?" frage ich Ced nachdenklich.
„Hattest du Schmerzen?" fragt Ced schon fast rhetorisch und ich fange an zu nicken. Die Schmerzen waren schon sehr schlimm gewesen...
„Siehste. Diese Wandlung ist biologisch eigentlich nicht möglich, sehr schmerzhaft und wurde von einem eventuell verrückten Typ entdeckt. Das klingt doch alles schon illegal. Von Björn habe ich dann auch nie wieder was gehört, er ist mit seiner Entdeckung wohl nie an die Öffentlichkeit gegangen oder er wurde dran gehindert..."
„Oh ich verstehe" antworte ich ernst. Wer weiß ob dieser Björn noch lebt, denn wenn die Gesellschaft schon Probleme mit falschen Wandlern hat, will ich nicht wissen was mit solchen Erkenntnissen passiert.
„Bevor ich das heute mit dir gemacht habe, habe ich die Wandlung schon zwei Mal gemacht. Einmal bei Björn und einmal bei Juno."
„Mit Juno? Warum denn das?" frage ich überrascht.
„Mir war bewusst, dass diese Wandlung schmerzhaft ist, aber sie kann auch eine Rettung in der Not sein. Aura konnte ich nicht wandeln, Mandarin wollte es nicht, aber Juno stellte sich zu verfügen. Es war wohl ihre kindliche Naivität und im Nachhinein bereue ich es auch irgendwie, aber indirekt hat es dich gerettet. Juno wandelte ich einmal mit und dann ließ ich es sein. Auch den anderen Wandlern, die nach Juno in den Zoo kamen, erzählten wir nichts von Björns Erkenntnis. Niemand sollte das trainieren oder können, es sollte reichen, wenn ich es kann"
„Das ist schon eine wirklich krasse Geschichte, Ced"
„Ich weiß und wäre das heute auch nicht passiert, hätte ich dir auch nie davon erzählt"

„Bist du denn noch sauer auf mich, weil ich vorhin so waghalsig war?" frage ich Ced, nach einer kurzen Zeit des Schweigens, zerknirscht und schaue auf meine Krallen.
„Nicht mehr. Vorhin schon, aber ich verzeihe dir und glaube dir, dass es nicht anders ging. Aber ich hoffe, dass dir das Erlebnis eine Lehre sein wird, besser aufzupassen"
„Oh ja das war es" meine ich nickend, „Und wie kommen wir jetzt wieder herunter?"
„Also wenn du nicht nochmal gewandelt werden willst, musst du alleine runter klettern.
„Das bekomme ich hin" meine ich selbstbewusster als ich eigentlich bin und stehe langsam auf. Im Gegensatz zu Ceds Ast knackt meiner gar nicht und ich fühle mich auf einmal viel sicherer.
Vorsichtig mache ich mich auf den Weg nach unten von Ast zu Ast.
„Geh du schonmal vor, ich komme gleich nach und fange dich im Notfall unten auf!" ruft Ced mir grinsend zu und ich verdrehe lächelnd die Augen. Dann höre ich wie Ced unsere Rucksäcke löst, sich wandelt und dann an mir vorbei nach unten saust.
„Angeber!" rufe ich ihm zu und höre von Ced nur ein Lachen.
Ehrleichtert atme ich auf. Ced ist endlich wieder wie früher.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top