Kapitel 29

Mein Rucksack steht im Flur, während Ced seinen schon auf dem Rücken hat. Ich hebe meinen hoch und schultere ihn, zum Glück ist er nicht mehr so schwer wie am Anfang.
„Und ihr kommt in den nächsten Tagen wieder?" fragt Juno, die wie die anderen an der Haustür und im Flur steht.
„Versprochen Juno" antworte ich und nicke ihr zu. Und ich verspreche es wirklich, wenn irgendwann die ganze Sache mit meinen Eltern geklärt ist, werde ich trotzdem immer wieder kommen, um diese "Ersatzfamilie" zu besuchen.
Ced und ich winken den anderen noch zu und wollen uns dann auf den Weg machen, als Aura noch aus der Tür tritt und zu uns eilt.
„Irina, etwas Wichtiges müssen wir noch schnell klären, bevor Ced vergisst es dir zu erklären"
Verwundert zieht Ced die Augenbraue nach oben und schaut Aura fragend an.
„Der Punkt ist, wenn irgendwann mal etwas passiert oder ihr über dieses Haus oder uns als Gruppe redet, benutzt den Begriff „Zoo". Jeder von uns weiß was damit gemeint ist, aber andere Leute werden an einen städtischen Tierpark denken, wenn sie es hören. Vermutlich wirst du es nicht brauchen, aber es ist wichtig, dass du es weißt" schließt Aura ihre Erklärung.
„Alles klar, dann weiß ich Bescheid" sage ich nickend und in Ceds Blick kann ich lesen, dass er tatsächlich vergessen hätte, es mir zu erzählen und deshalb den Vortrag von seiner Freundin nicht kommentiert.
Nun verabschiedet sich auch Aura von uns und ich und mein Bodyguard machen uns auf den Weg nach Leipzig zur Familie Lynx.

„Wie kommen wir denn am besten nach Leipzig?" fragt Ced und ich schaue auf die ausgebreitete Karte, wir sind schon aus der Stadt hinausgekommen und sind nun in einem kleineren Vorort.
Ich deute auf die Straßen und unseren Standort: „Also wir sind im Moment hier und dort ist Leipzig. Wir haben die Adresse und Namen, die Familie steht aber nicht im Telefonbuch, sodass wir auch nicht anrufen können. Da wir keine Zugtickets kaufen können, höchstens Bustickets, müssen wir laufen. Das dauert etwa einen halben Tag"
„Hhm okay und welchen Weg würdest du gehen?" fragt Ced und schaut mich interessiert an.
„Ich denke die Wege durch die Dörfer sind am besten. Dort können wir immer wieder Pausen machen"
„Ich will deine Pläne nicht durchkreuzen, aber ich denke wir sollten von so wenig Menschen wie möglich gesehen werden. Und in Dörfern kennt halt leider jeder jeden" meint Ced schulterzuckend.
„Da hast du vielleicht Recht. Welchen Weg würdest du denn gehen?"
„Sieh mal, hier diese Autobahn. Sie führt fast direkt nach Leipzig und in der Nähe ist eigentlich immer dichter Wald mit keinen Wander- oder Fahrradwegen. Wenn wir dort langgehen, sieht man uns kaum. Außerdem bist du als Luchs und ich als Adler dann schneller unterwegs"

Ich muss an heute Vormittag denken und schüttele den Kopf, ich will mich nicht wandeln, wenn es nicht sein muss.
„Nein Ced, lass uns lieber auf Wanderwegen gehen" meine ich ernst, doch Ced lässt nicht locker.
„Aber warum, denn nicht? Glaub mir, wir sind dann schneller und ich muss ja auch nicht so hoch fliegen, sodass ich bei dir bin"
„Ich will einfach nicht!" meine ich verzweifelt und wende den Blick ab, weil ich Ced nicht in die Augen sehen kann.
Ced seufzt und zieht vorsichtig mich und meine Sachen schweigend aus dem Dorf heraus zu einem abgesägten Baumstamm. Er deutet mir an mich zu setzen und ich setze mich, da ich nicht weiß, was Ced vorhat.
Er setzt sich vor mir im Schneidersitz hin und schaut mir dann direkt in die Augen. Ich weiche seinem Blick aus.
„In Ordnung, du willst nicht, aber wir müssen klären warum. Sonst wird diese Reise nicht funktionieren. Verstehst du?"
„Ja..." murmele ich und verstehe ihn auch, aber etwas in mir weigert sich ihm von dem Erlebnis zu erzählen.
„Ist es wegen dem, was heute Vormittag war?"
„Heute Vormittag?! Ich dachte da hast du geschlafen!" sage ich entsetzt.
„Das habe ich auch, aber Oren hat mir erzählt, dass irgendwas mit dir war. Er wusste nicht was genau passiert war und was er tun soll, deshalb hat er es mir vor dem Frühstück erzählt"
Ich hätte Oren wohl sagen müssen, dass er das nicht weitererzählen soll, aber jetzt ist es zu spät sauer auf mich oder ihn zu sein. Und irgendwie kann ich Oren auch verstehen, in einem Haushalt wo alle psychisch belastet sind, sollte man sich gegenseitig unterstützen.
Ich seufze und lasse meine inneren Mauern fallen: „Ja es stimmt, es ist wegen heute Morgen"
„Und was ist passiert?" fragt Ced ruhig und nicht aufdringlich.
„Weißt du, ich habe über meine Familie nachgedacht und euch. Und ihr alle seid ja auch total nett, aber in dem Moment hatte ich Angst, dass ich nie wieder zurück in mein richtiges Leben, zu meiner Familie und Freunden, kommen kann. Und dann habe ich Panik bekommen und konnte mich nicht kontrollieren, sodass ich kurz davor war mich zu wandeln. Naja, und dann ist Oren gekommen und hat mich sozusagen vor dem Schlimmsten bewahrt"
Ced hört mir geduldig zu nickt und denkt aber über seine nächsten Worte nach, bevor er sie ausspricht: „Ich verstehe. Ich verstehe auch deine Angst oder einfach den Grund, warum du dich nicht wandeln willst. Aber du weißt vermutlich auch, dass das auf Dauer nicht die Lösung sein wird"
„Ich weiß" murmele ich und starre zu Boden.
„Und das ist schon mal ein guter Ansatz. Wenn du dich nicht mehr wandelst, wäre es als würdest du einen Teil deiner Persönlichkeit vergraben. Eine Charaktereigenschaft, die dich zu etwas einzigartigen und Besonderem macht. Niemand ist deswegen wie du"
„Ich weiß und vor ein paar Tagen schien das auch alles nicht so schlimm zu sein, aber jetzt ist nichts Festes mehr da, was mich retten könnte"
„Natürlich hast du etwas: Mich und den Zoo, deine anderen Freunde und deine Familie"
„Aber ich bin von zuhause abgehauen und hab meine Eltern belogen! Warum sollten sie mich wieder aufnehmen?" rufe ich verzweifelt und unterdrücke die aufkommenden Tränen.

„Schau nicht weg Irina, schau mich an. Deine Eltern werden dich auch weiterhin lieben. Sie haben dich aufgenommen und wussten welche Gefahren das mit sich bringt und sie wussten auch, dass die Frage nach deinen Eltern dich nicht in Ruhe lassen wird, wenn du die Wahrheit erfährst. Und der Arzt und das Trio, welche dir Probleme machen, wenn du wieder bei deinen Eltern bist: Holt euch einen Anwalt und verklagt sie. Wirklich, so etwas kann schon helfen. Hätte ich die Möglichkeit gehabt, hätte ich es auch getan, aber du hast die Möglichkeit"
Ich schaue zu Ced und weiß aber nicht was er mir sagen möchte: „Ja Ced, vielleicht ist es so, aber wie soll mir das beim Wandeln und der Kontrolle helfen?"
„Deine Sorgen und Gedanken sind das Problem. In deinem Kopf denkst du, dass du ganz alleine wärst und in einem Trümmerhaufen feststecken würdest. Aber das stimmt nicht. Ich habe dir gerade gezeigt, dass dieser Trümmerhaufen nur für dich so aussieht und ansonsten sehr stabil und sicher. Deshalb müssen wir jetzt dich heilen und deine Sicht"
„Meine Sicht heilen? Wie soll das denn bitte gehen?" frage ich verwirrt, aber trotzdem flammt etwas Hoffnung in mir auf.
„Ich würde jetzt nicht sagen, dass es ganz einfach ist, aber es ist möglich. Oft haben nur falsche Wandler das Problem ihrer Akzeptanz. Manche akzeptieren es von Anfang an, so wie ich, und andere brauchen ein bisschen dafür, so wie du und Mika. Aber was wichtig ist: Du musst dich irgendwann akzeptieren... Wie lange das dauert oder wie du es schaffst, ist egal. Hauptsache irgendwann bist du mit dir selbst im Einklang"
„Und wie sollte, deiner Meinung nach, mein Weg dorthin sein?"
Ced überlegt kurz und meint dann aber überzeugt: „Handeln. Manche Wandler müssen reden, manche meditieren, manche brauchen einfach Zeit und Ruhe. Aber da wir keine Zeit haben, wählen wir beide für dich den Weg der Handlung"
„Du meinst, ich soll mich einfach Wandeln und schauen was dann passiert?"
„Sozusagen. Du musst das Wandeln mit etwas Gutem verbinden. Halte den Gedanken „Wandeln bringt mich schneller an mein Ziel" im Kopf und verlasse dich auf deine Instinkte. Ich weiß zwar nicht alles von deiner ersten Wandlung, aber irgendetwas Schönes muss es doch gegeben haben, oder?"

Ich denke an meine erste Wandlung zurück. Dieser schöne Abend mit Samira, dann der Schmerz, aber dann auch die Erlösung und die ganzen Eindrücke. Ich muss lächeln, auch wenn ich die Schmerzen nicht vergessen kann, aber Ced hat Recht: Es gibt immer irgendetwas Gutes und die negativen Gedanken sind einfach oft viel zu laut.
„Na siehste" sagt Ced nun auch lächelnd „Du erinnerst dich an etwas Schönes und das wird dir gleich helfen. Und der Luchs in dir ist auch nicht böse oder will dir schaden, er will dir helfen"
„Das merke ich auch immer, wenn ich mich wandele, aber .... Gleich? Das heißt, wir wollen jetzt gleich schon handeln?" frage ich etwas nervös.
„Na klar" sagt Ced locker „Schließlich wollen wir heute noch diese Luchs Familie treffen und dafür müssen wir uns auf den Weg machen"
„Aber wir wandeln uns doch nicht hier?" meine ich und deute auf die Umgebung und unseren Platz, der noch sehr nah an einem Dorf dran ist.
„Natürlich nicht" antwortet Ced lachend und nimmt mir die Karte ab und deutet auf einen Punkt „Wir gehen jetzt hier zu diesem Waldstück bei der Autobahn. Und wenn wir da sind, machen wir uns auf den Weg"

Gesagt getan und nach gut 20 Minuten erreichen Ced und ich die Autobahn. Die ganze Zeit hatte Ced mich mit lustigen Sprüchen aufgemuntert, doch jetzt wo wir unserem Zwischenziel immer näher kamen, wurde ich schon etwas nervös. Meine Hände begannen zu schwitzen und ich reibe sie mir nun an meiner Hose ab.
„Ist alles okay?" fragt Ced, weil er meine Nervosität wohl bemerkt hat.
„Es geht schon, ich bin nur etwas aufgeregt"
„Aufregung ist in Ordnung, solange sie nicht in Angst umschlägt. Aber ich denke, da sind wir drüber weg, oder?"
Ich nicke und meine es auch so. Meine Angst ist nicht mehr wirklich da, halt nur die Aufregung.
Wir betreten den Wald und ich lausche den Geräuschen. Vögel, das Rauschen der Blätter und Knacken der Äste. Die Autobahn ist auch nicht zu überhören, aber ich weiß, dass sie keine Gefahr für mich bedeutet, sodass ich die Autogeräusche gut ausblenden kann.
„Sollten wir das Parfüm nicht jetzt nochmal benutzen?" frage ich Ced, da er auf dem Weg hier her immer mal wieder seine Flasche herausgeholt und benutzt hat.
„Ja, das ist sinnvoll, da wir sie als Tiere schlecht benutzen können und die Wandlung selbst einen speziellen Geruch hat. Zumindest haben mir das Vivien und Mandarin gesagt"
„Also können das nur Raubtiere riechen?" frage ich grübelnd.
„Muss nicht unbedingt sein. Vögel können ja auch eigentlich nicht so super riechen, ein bisschen schon, aber im es gibt andere Vogelarten, die besser riechen können, deshalb liegt es vielleicht auch nur an mir, aber du müsstest es auf jeden Fall riechen können, wenn du mal genau drauf achtest"
„Das sollte ich vielleicht wirklich mal machen"
„Bestimmt, aber darum geht es gerade nicht. Also Mandarin hat mir auch einen Trick verraten, den wir bei dir einsetzen können"
„Und der wäre?" frage ich neugierig, weil Mandarin ein schlauer Kopf ist und doch sehr oft geniale Ideen hat.
„Ich sprühe nur an die Stelle wo ich losfliege und du hingegen sollst an Händen und Füßen einen Geruch haben"
„Damit immer, wenn ich beim Laufen aufkomme, ein anderer Duft an den Boden abgegeben wird?"
„Genau richtig!" sagt Ced grinsend und ich lächele stolz.
Ced holt mein Parfüm aus meinem Rucksack und sprüht auf die Stelle wo wir gerade stehen, unsere Rucksäcke sind auf unserem Rücken und können somit auch keinen Geruch abgeben.
Dann sprüht Ced mir den Grasgeruch auf beide Handgelenke und sagt dann: „Einmal bitte Füße hoch"
Lächelnd nehme ich ein Bein hoch und stehe im Wald wie ein Flamingo. Schon hat mein rechter Schuh Gras Geruch und nach einem Beinwechsel auch der linke.
Die Vorbereitungen sind getroffen und wir könnten jeden Moment loslegen.
„Bereit?" frage Ced mich freundlich.
„Bereit, wenn du es bist" meine ich grinsend und stemme meine Arme in die Hüfte.
„Wir sind hier nicht bei Rubinrot, aber okay" sagt Ced lachend.
„Woher kennst du denn bitte den Film?" frage ich ebenfalls lachend, weil ich nicht gedacht hätte, dass Ced so eine Mädchen Trilogie kennt.
„Das können wir wann anders besprechen. Also bist du bereit? Denn ich bin es" sagt er mit einem Ced-Blick.
Ich seufze „Ich bin auch bereit. Lass uns loslegen" 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top