Kapitel 27
„Irina! Endlich höre ich mal von dir! Warum hast du dich denn nicht gemeldet? Hast du meine Nachrichten nicht gesehen?" ertönt Sammys Stimme laut und ich halte mein Handy ein Stück weit von meinem Ohr weg.
Mein Handy ist nun zum Glück aufgeladen, sodass ich "in Ruhe" mit meiner besten Freundin reden kann.
„Hi Sammy. Ich hatte noch keine Zeit, mein Handy war leer und in den letzten Stunden ist einiges passiert..."
„Na dann erzähl mal"
„Ich wurde von Terry und ihren Verwandten gejagt, dann wurde ich von einem Jungen gerettet und jetzt bin ich in einem Haus mit ganz vielen Wandlern..."
„Du bist was? Wo? Ich denke du musst mir alles noch etwas genauer erklären" erwidert Sammy und ich erzähle ihr, was ich seit meiner letzten Nachricht erlebt habe. Von Terry, Ced, meiner Periode und den anderen Wandlern.
„Wow, also das hätte ich echt nicht erwartet..." meint Sammy fassungslos und ich nicke heftig.
„Glaub mir, ich auch nicht. Ich bin noch gar nicht so lange unterwegs und schon finde ich zwei Luchs Familien, werde aber auch von Terrys Kampftruppe attackiert, von einem fremden Wandler gerettet und von ihm in ein Haus mit "abnormalen" Wandlern gebracht. Eindeutig nicht, womit ich gerechnet hätte.
Und zusätzlich habe ich meine Tage jetzt schon so früh bekommen und dabei weiß ich nicht mal, ob ich mich darüber freuen oder ärgern soll" ich seufze und setze mich auf Ceds Bett.
„Ich glaube darüber solltest du dir erstmal keine Gedanken machen, vermutlich sind die morgen schon vorbei und außerdem solltest du deine Kraft und deinen Kopf eher für andere Grübeleien benutzen. Zum Beispiel für die Terry Frage, denn was zur Hölle macht die bitte?! In der Schule wurde uns erzählt, dass sie auf politischer Reise oder eher Exkursion ist, um sich weiterzubilden und uns allen zu zeigen, dass sie sich alles leisten kann. Also das Letzte haben die Lehrer natürlich nicht gesagt, aber alle haben es gedacht. Aber in Wirklichkeit jagt sie dir mit Auftragskillern hinterher und will wer weiß was mit dir machen! Unfassbar!"
„Ja es ist wirklich unfassbar..." meine ich plötzlich erschöpft und halte mir den Bauch, weil er leicht weh tut.
„Und glaubst du, dass du diesen Wandlern vertrauen kannst? Ich meine, sie, beziehungsweise dieser Junge, haben dich gerettet, aber trotzdem...?"
„Er heißt Ced, Sammy. Und ich verstehe deine Angst, aber wenn du hier wärst, würdest du ihnen auch vertrauen. Ihre Geschichten sind schlimmer als meine und sie vertrauen mir, deshalb vertraue ich ihnen auch"
„Wenn ihr euch gegenseitig vertraut, ist das schonmal ganz gut. Ich an deiner Stelle würde trotzdem etwas vorsichtig sein"
„Das bin ich doch sowieso, also mach dir keine Sorgen" meine ich leicht genervt, obwohl ich Samiras Sorge verstehe.
„Ach so, es ist noch etwas wichtiges passiert!" meint sie plötzlich und ich höre gespannt zu.
„Dieser Doktor Ursus hat am Freitag wohl bei deinen Eltern angerufen, weil ihr am Donnerstag nicht da wart"
„Oh Gott, wie haben meine Eltern reagiert und wieso weißt du von dem Anruf?"
„Ganz einfach: Deine Eltern vertrauen diesem Arzt sowieso nicht, aber trotzdem waren sie unsicher und haben dann Matteo gefragt. Dieser war natürlich total überfordert, meinte er wusste nichts und hat deine Eltern dann zu mir geschickt. Ich hatte gerade seine Nachricht gelesen, da riefen deine Eltern an und ich habe mit ihnen gesprochen. Sie erzählten mir von dem Gespräch und haben überlegt dich oder deine Cousine anzurufen, aber ich habe es ihnen ausgeredet, weil du ja Erholung brauchst und bestimmt einen Grund hattest nicht zum Arzt zu gehen. Aus irgendeinem Grund haben sie sich von mir überzeugen lassen, aber wenn du wieder da bist, wirst du wohl ein paar ernste Gespräche vor dir haben"
„Ja das ist wohl nicht zu vermeiden" sage ich seufzend „Aber danke, dass du meine Eltern überzeugt hast. In dem Moment wäre ich nicht in der Lage gewesen mit ihnen persönlich zu reden"
„Das war doch selbstverständlich. Ich will doch, dass es dir gut geht und du nicht noch mehr Probleme am Hals hast, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht mal von den wirklich schwierigen Problemen wusste"
„Tja, meine Probleme scheinen sich erweitern zu wollen und meine ganzen anderen Sorgen und Gedanken müssen sich hintenanstellen. Ziemlich anstrengend..."
„Versteh ich total. Kann ich dir denn noch irgendwie helfen?" fragt meine beste Freundin mitfühlend.
„Ich glaube nicht, ich muss mich erstmal ausruhen und über all das nachdenken.
Ach und ich muss noch duschen, ich rieche bestimmt nicht gut und das will ich machen bevor die anderem vom Gottesdienst wieder da sind"
„Duschen ist immer gut. Aber Gottesdienst? Es ist doch Samstag?"
„Ja hab mich auch gewundert, aber anscheinend ist das hier was Besonderes"
„Na dann. Wann hören wir uns denn das nächste Mal?"
Ich überlege kurz und meine dann: „Ich will morgen zu einer Familie nach Leipzig, ich rufe dann entweder morgen oder übermorgen wieder an oder schreibe dir im Notfall"
„Sehr gut" antwortet Sammy „Dann hören wir uns dann. Du schaffst das, Irina! Bis in den nächsten Tagen"
„Danke Sammy, bis dann!" ich beende den Anruf und lege mein Handy zur Seite. Es fühlt sich jetzt eindeutig besser an, weil ich mit meiner Vertrauten gesprochen habe und all meine Erlebnisse und Gedanken der letzten Tage mal laut ausgesprochen habe.
Mein Bauch gluckert vor sich hin und ich mache mich auf den Weg ins Badezimmer. Eine Dusche wird mir jetzt bestimmt richtig guttun.
Gesagt getan und schon habe ich eine halbe Stunde Dusche hinter mir und fühle mich so erfrischt und gut, wie in den letzten Tagen schon nicht mehr. Ich ziehe mir frische Sachen an, reibe meine Haare in einem Handtuch trocken und wickele es dann um meine Haare.
Als ich die Tür des Badezimmers öffne, höre ich schon wildes Gerede von unten aus dem Flur. Noch schnell bringe ich meine dreckigen Sachen ins Chaos Zimmer und gehe dann nach unten.
Kalter Wind schlägt mir entgegen, denn die Haustür steht noch offen und ein paar Tropfen Regen erreichen mich. Anscheinend regnet es, doch bevor ich nachsehen kann, schiebt Ced die Tür hinter Mika zu, der als letztes und nass durch den Türrahmen hüpft.
Der Regen trommelt leises gegen die Fenster und die Tür und der Eingangsflur ist auf einmal ziemlich voll.
Ich trete ein paar Schritte zurück auf die Treppe, um den anderen Platz zum Ausziehen der nassen Jacken und Schuhe zu geben, Mandarin und Ced folgen mir. Anscheinend ist Vivien schon vor ein paar Minuten wiederkommen, da sie gerade aus Richtung Küche kommt und ihre schwarzen kurzen Haare vom Baden noch etwas nass sind.
„Wir wurden vom Regen überrascht und waren zum Glück schon auf dem Rückweg." meint Aura und von ihren Haarsträhnen fallen kleine Tropfen auf den Boden.
„Und was machen wir jetzt?" fragt Mika, der nicht mehr so eingeschüchtert wirkt.
Vivien wirft einen Blick aus den Fenstern und meint dann zu Aura: „In den Schrebergärten ist niemand und sonst ist auch keiner unterwegs, wir hätten also die Möglichkeit"
„Stimmt, das ist eine gute Idee. Habt ihr Lust?" fragt sie in die Runde und die meisten nicken begeistert.
„Um was geht es denn?" frage ich neugierig und Mandarin antwortet lächelnd: „Wir nennen es Wandlungsstunde. Jeder der möchte, nimmt seine Tiergestalt an und ich denke, dass du und Mika dabei noch einiges lernen könnt"
„Au ja!" ruft Juno begeistert und gegen ihre Freude kann ich mich nicht währen: „Na gut, ich bin dabei"
Zusammen gehen wir alle zur Hintertür, die in Richtung Schrebergärten führt. Eine kleine überdachte Terrasse ist hinter der Tür, die dem nun schlimmeren Regen trotzt und die kleine Fläche trocken hält.
„Und sicher, dass uns hier niemand beobachtet?" frage ich unsicher Aura
„Es ist schon sehr sicher, denn wenn es regnet, kommt niemand hier her und da hinten die Straße, ist eine Schnellstraße, auf der keine Fußgänger langgehen. Die Chance, dass uns jemand sieht, ist also sehr gering. Du musst aber auch nicht anfangen. Oren, Iven? Ihr beide zuerst?"
Die Zwillinge nicken freudig, ziehen sich ihre Shirts aus und laufen raus in den Regen. Dieser lässt die Jungen schnell nass werden und Iven beginnt zu zählen:
„Eins"
„Aber nicht zu weit weglaufen und nimmt Mika gleich mit, ja?" ruft Aura den beiden noch zu und Iven verdreht die Augen: „Jaha... Zwei"
„Und drei!" ruft Oren und die beiden schütteln ihre Köpfe und ich sehe, dass ihre braunen-roten Haare immer länger werden. Die menschlichen Körper verschwinden und die Zwillinge werden zu zwei Pferden. Und zwar wirklich exakt gleichzeitig. Es ist atemberaubend, als wären die beiden so etwas wie Synchronschwimmer und ich beobachte die Wandlung mit offenem Mund.
Die beiden wiehern und rufen Mikas Namen, der hervortritt, aber unter der Überdachung stehen bleibt. Dieser nimmt seine Hände zusammen als würde er beten und kniet sich dann auf den Boden. Er braucht etwas länger für die Wandlung, da er ja wie ich noch ein Anfänger ist, aber nach ein paar Sekunden springt ein junges braunes Schaf den Zwillingen hinterher, welche ein paar Runden um die nebenstehenden Bäume laufen.
Bei jedem Aufkommen der Hufe auf den Boden spritzt das Wasser auf und fast werden wir getroffen. Ich grinse, denn ich kann mir sehr gut vorstellen, dass das Absicht von Iven oder Oren war. Als nächstes tritt Ced vor, zwinkert mir zu, rennt los und mit einem Sprung in die Luft wandelt er sich in Sekundenschnelle in einen Fischadler.
„Angeber" sagen Juno und ich gleichzeitig und müssen beide lachen.
Währenddessen hat sich Vivien ebenfalls in eines ihrer Tiere, den Schwan gewandelt und fliegt Ced hinterher, der oben im Himmel kreist und Ausschau hält.
„Wer will als nächstes?" fragt Aura freundlich.
„Ich" sage ich und nervös, aber auch freudig, trete ich nach draußen unter die Überdachung und strecke Juno meinen Arm entgegen, die schon nach draußen in den Regen gelaufen ist.
Juno umgreift ihn und zieht mich kichernd in den Regen: „Juno!" rufe ich überrascht und lachend und mein Handtuch löst sich von den Haaren.
Jeder wandelt sich anders und ich finde es hier auf dem nassen Boden am einfachsten, deshalb knie ich mich hin und schließe meine Augen.
Dann bündele ich meine Energie, lasse das Feuer aufleben und es fließt durch meinen ganzen Körper. Mein Fell wächst und mein Körper verändert sich, sodass ich schneller als gedacht in meiner Luchsgestalt bin. Das Wandeln zusammen mit anderen Wandlern ist echt schön und fühlt sich viel einfacher an.
Ich drehe mich um und Aura ist die Einzige, die noch drinnen steht, denn Mandarin kommt als eleganter Schneeleopard auf uns zu.
Ein Schnurren entweicht mir, als ich die andere Raubkatze sehe und Mandarin lächelt erfreut. Ich reibe meinen Kopf an ihren und Juno schlingt ihre Arme sanft um meinen Körper.
So habe ich mir das Leben als Wandler vorgestellt: Frei und einfach wunderschön.
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