Kapitel 26
Wir betreten Junos und Viviens Zimmer, welches recht klein ist, aber ein Hochbett und statt einem Schrank ein Sofa enthält.
Ich setze mich auf das dunkle Sofa und Ced gesellt sich zu mir, wohingegen sich Vivien und Mandarin auf die untere Etage des Hochbettes setzen.
Neugierig schaue ich in die Runde, weil ich mir gar nicht vorstellen kann, was jetzt noch alles erzählt werden wird.
Auch Ced scheint etwas angespannt zu sein, was man in seiner Stimme hört: „Tja ähm es gibt so viel zu erzählen, ich weiß gar nicht wo ich da anfangen soll"
„Erklär doch erstmal, warum wir hier in diesem Haus wohne, das wäre ein guter Anfang" wirft Vivien hilfsbereit ein.
„Ja das ist eine gute Idee. Und ihr beide müsst ergänzen, falls ich was vergessen sollte"
Die beiden Mädchen nicken.
„Also: Warum sind wir hier in diesem Haus? Hat dieses Haus etwas Besonderes an sich? Du musst wissen, Irina, wir wohnen in diesem Haus erst seit etwas weniger als fünf Wochen. Und nein, dieses Haus ist nicht wirklich besonders, außer vielleicht, dass es nicht mitten in der Stadt ist, aber sonst ist es einfach ein altes Haus. Vermutlich kannst du dir jetzt noch keinen Reim daraus machen, warum wir dann hier sind?"
„Nicht wirklich. Aber vor fünf Wochen hat sich doch Mika gewandelt, hat das etwas damit zu tun?"
„Oh du begreifst schneller als ich dachte" meint Vivien anerkennend, „Ja da hast du Recht es hat etwas miteinander zu tun. Du musst wissen, je länger du bei dieser Familie dabei bist, desto öfter wechselst du dein Zuhause"
„Was Vivien sagen will, ist, dass wir meistens umziehen müssen, wenn wir ein weiteres Wandlerkind aufnehmen. Schließlich finden wir oft die Kinder als andersherum. Außer bei Juno, sie hat Aura, Mandarin und mich zuerst gefunden, allerdings hatten wir dort auch noch nicht das Parfüm, um uns zu tarnen.
Aber darum geht es gerade nicht, zumindest ist es oft so, dass Aura oder ich, auf meinen Reisen, Wandlerkinder zufällig treffe oder beobachte und dann sehe, dass sie nicht das Tier ihrer Eltern sind oder noch etwas viel besonderes, so wie Vivien. Und alle von den Menschen, die in diesem Haus wohnen, wurden wegen ihrem Tier von den Eltern nicht geachtet oder sogar rausgeworfen. Und in solchen Fällen nehmen wir die Kinder in unseren „Familienersatz" auf. Deswegen müssen wir umziehen, damit die Polizei uns und die Kinder nicht findet"
„Aber ist das nicht Entführung? Ich meine, ich verstehe den guten Willen, aber ihr wisst, was ich meine..." gebe ich zu bedenken.
Mandarin lehnt sich nach vorne und beantwortet dann meine Frage bevor Ced das kann: „Für manche Eltern ist es vielleicht eine Entführung, für andere eine Erleichterung. Ich will dir mal erzählen, wie jeder von uns hierhergefunden hat.
Ced hat dir bestimmt schon erzählt, dass er von Aura gefunden wurde und die beiden zusammen dann von der Nordsee weggezogen sind?"
Ich runzele die Stirn und schaue fragend zu Ced, das wusste ich noch nicht. Aber Mandarin erzählt weiter, damit ich alles verstehe.
„Oh, naja jetzt weißt du es. Dann bin ich dazugekommen. Meine erste Wandlung war sehr spät, mit 22, sodass ich mein Abitur schon gemacht hatte und eine Ausbildung in einem Parfüm Geschäft angefangen hatte. Die Chefin war auch ein Wandler, der Rest der Angestellten Menschen. Meine Chefin war schon nicht begeistert davon, dass ich mich noch nicht gewandelt habe, aber als ich meine erste Wandlung dann hatte und ein Spurius war, hat sie mir gekündigt und meine Ausbildung abgebrochen. Danach ging es mir wirklich sehr schlecht. Meine Eltern akzeptierten zwar, dass ich nicht ihr Tier war, aber sie kamen irgendwann einfach nicht mehr mit mir klar, weshalb ich ausgezogen bin.
Ich wollte eigentlich in eine Wandler WG, um wenigstens dort ich selbst sein zu können. Doch in der Nähe kannten mich alle, weshalb ich in eine andere Stadt ziehen musste und in einem großen Konzern für Düfte angefangen habe. Doch das war nicht mein Traum, mein Traum war in einem kleinen Geschäft zu arbeiten und eigene Sachen kreieren zu dürfen. Und als ich mich eines Abends draußen gewandelt habe, um Frust abzubauen, hat mich Ced gefunden und dann bin ich mit ihm und Aura weitergezogen. Meine Aufgabe hier Parfüme herzustellen, ist zwar immer noch nicht das Wahre, aber ich fühle mich seelisch einfach besser und akzeptierter"
„Das bist du doch auch" meint Vivien lächelnd und umarmt Mandarin von der Seite.
Auch Ced grinst sie an, ich spüre die positive Energie in diesem Zimmer und freue mich, dass es Mandarin mit ihren Freunden besser geht.
„Darf ich dich noch kurz was zu den Parfümen fragen? Du musst auch nicht viel erzählen" frage ich die junge Erwachsene.
„Na klar, ist ja schließlich mein Fachgebiet"
„Du stellst das Parfüm aber nicht so her, wie in dem Buch „Das Parfüm" oder?" frage ich vorsichtig.
In dem Buch tötet ein junger Mann mehrere Frauen und will ihren Duft extrahieren, um ihn zu einem Parfüm zu machen. Hoffentlich macht Mandarin das nicht auch so, sonst hätte ich wirklich Angst.
Aber Mandarin fängt an zu lachen und meint dann:
„Keine Sorge, ich bin kein Serienkiller. Ich stelle meine Parfüme mit anderen Dingen her, die den Menschen Duft enthalten: Haare, Kleidung mit Schweiß, auch richtiges Parfüm benutze ich. Wir müssen ja auch bedenken, dass der Geruch unterbewusst aufgenommen werden soll, weshalb keine hohe Intensität benötigt wird"
„Ah ich verstehe, wirklich schlau. Hast du dir das ausgedacht?"
„Ja das war meine Idee. Aber jetzt wo du „Das Parfüm" erwähnst, ich habe es auch in der Schule gelesen und mich vielleicht davon inspirieren lassen, aber wer kann das schon so genau sagen"
Ich nicke und sage dann zu ihr: „Aber ich habe dich beim Erzählen unterbrochen, du wolltest weiter eure Geschichten erzählen"
„Achja richtig, als nächste kam Juno zu uns, wie gesagt sie hat uns gefunden. Damals haben wir noch in einer engen Waldhütte gewohnt und hatten noch keine richtige Ahnung, wohin das alles führen würde. Zu der Zeit habe ich auch mein Parfüm entwickelt, da Ceds Verfolgung immer schlimmer wurde und wir eine Lösung brauchten. Und dann stand dieses kleine Mädchen vor unserer Tür und fragte nach etwas zu essen. Natürlich haben wir ihr etwas gegeben und sie dann in unsere Gruppe aufgenommen. Juno ist nicht ihr echter Name, aber seitdem sie bei uns ist, hat sie sich so genannt. Nachdem wir ihre Geschichte gehört haben, hat Ced öfters drauf geachtet, ob er noch mehr solche verlorenen Kinder findet. Tja und wie du leider siehst, gibt es sie"
„Die arme Juno, sie tut mir sehr leid. Sie ist so jung und so weit weg von ihrem eigentlichen Zuhause" spreche ich meine traurigen Gedanken laut aus und die anderen nicken bestätigend.
Ced räuspert sich und erzählt die Geschichte weiter: „So kam Juno zu uns und lange Zeit waren wir vier die einzigen in unserer Gruppe, da wir durch das neue Parfüm Sicherheit hatten und nicht von unserem damaligen Wohnort, ein kleines Haus in einem Dorf, wegziehen wollten. Doch dann habe ich Iven und Oren kennengelernt und gemerkt, dass diese Zwillinge nicht normal sind. Du weißt es noch nicht, Irina, aber die Zwillinge können sich nur gemeinsam und gleichzeitig wandeln, dadurch sind sie verbunden"
„Wow. Wie geht das denn? Also liegt das einfach nur daran, dass sie eineiige Zwillinge sind?" frage ich erstaunt.
„Wir wissen es nicht, schließlich konnten wir zu keinem Wandlerarzt gehen und die Eltern der Zwillinge haben es auch nicht getan. Zumindest habe ich Oren und Iven kennengelernt und zusammen sind wir dann abgehauen. Danach habe ich einige Tage ihre Eltern beobachtet: Sie haben nichts getan, als wäre nichts passiert, als wären ihre Söhne nicht verschwunden. Trotzdem mussten wir dann umziehen, weil die Gefahr zu groß war, dass die Mitschüler von den Zwillingen uns erkennen und uns dann anzeigen würden. Und in unserem neuen Zuhause haben wir kurz darauf, also vor ein paar Monaten Vivien getroffen"
„Genau, jetzt komme ich ins Spiel" Vivien grinst.
„Ich und meine Eltern hatten und haben ein relativ neutrales Verhältnis und ab und zu auch noch Kontakt. Allerdings wissen sie nicht, wo ich bin und denken ich mache meine Ausbildung bei irgendeinem Reiseunternehmen.
Damals mit 15 Jahren hatte ich meine erste Wandlung in meinen Wolf, wie auch meine Geschwister und Eltern. Ich bin die zweitälteste in meiner Familie und meine ältere Schwester ist ein Adoptivkind, ebenfalls ein Wolf. Meine Eltern haben mich kurz vor ihrer Hochzeit bekommen und die Gefahr, dass ich ein Schwan werde und die beiden Wölfe war natürlich hoch. Aber als ich mich dann das erste Mal gewandelt habe und meine Haare ja auch sowieso schwarz sind, waren meine Eltern beruhigt und meine jüngeren Geschwister wurden erst nach der Hochzeit gezeugt.
Allerdings kam dann mein 18 Lebensjahr. Niemand hat damit gerechnet, doch als ich abends vom Kellnern auf dem Weg nach Hause war, habe ich mich wieder gewandelt, und zwar in einen Schwan. Bis heute wissen meine Eltern oder meine Geschwister nichts davon, ich hielt es für besser und als ich ausgezogen bin und abhauen wollte, hat mich Aura gefunden und nun bin ich hier"
„Es ist schon echt krass, was ihr alles durchgemacht habt und wie ihr hier überleben könnt. Woher bekommt ihr denn das Geld?" frage ich in die Runde und Mandarin antwortet:
„Ich und Aura gehen arbeiten und verdienen das Geld. Ich bin bei einer Design Firma angestellt, die sich Logos überlegt und deswegen kann ich über den Laptop arbeiten. Aura macht ganz viele unterschiedliche Berufe, mal hilft sie in der Schule, mal arbeitet sie im Supermarkt oder gärtnert für die Stadt. Sie sucht sich Jobs, die Geld bringen, ihr aber auch irgendwie Spaß machen. Ced und Vivien machen manchmal kleine Jobs, um eigenes Geld oder Geld für die Gruppe zu verdienen"
„Eine offene Gemeinschaft mit offenem Geld also. Ich finde es toll, dass ihr euch gegenseitig so unterstützt. Und wie können Mika, Juno und die Zwillinge unterrichtet werden? Müssen sie immer die Schule wechseln?"
„Nein" antwortet Ced „Die vier sind bei einer online Schule angemeldet, auf der sie zumindest ihren Realschulabschluss machen können. Über ihre Handys nehmen sie am Unterricht teil und die Bücher kann man sich downloaden. Zusätzlich helfen wir, besonders Aura, ihnen dann noch bei den Hausaufgaben"
„Echt nett von euch. Was ist eigentlich mit Aurora, ähm ich meine Aura? Ich weiß gar nicht welches Tier sie ist. Sie kommt auch von der Nordsee wie Ced?" überlege ich und spiele mit den Strähnen meiner Haare herum.
„Ich denke, dass sollte Ced erklären, schließlich kennt er Aura am längsten" erzählt Vivien etwas ernster und Mandarin nickt zustimmend.
„Tja das mit Aura ist nochmal eine andere Sache. Allerdings im negativen Sinne. Du hast doch bestimmt schonmal davon gehört, dass wenn man ein Kind bekommt, bevor man die Ehewandlung macht, dass das Kind, als der Spurius, dann Behinderungen bekommt, sich gar nicht wandeln kann oder sonstiges?"
„Ja klar habe ich davon gehört. Aber ich kenne niemanden bei dem das passiert ist. Ich dachte immer, dass erzählen die nur, damit man heiratet"
„Bis ich Aura kennengelernt hatte, dachte ich auch, dass das alles nur eine leere Aussage ist, doch ganz unrecht hatten die Wandlerwissenschaftler nicht"
„Aber Aura hat doch keine körperlichen Behinderungen?"
„Nicht als Mensch, aber in ihrer Tiergestalt. Ihre Eltern sind eine Robbe und eine Möwe, typische Tier von der Nordsee, und Aura ist auch beide Tiere, aber nicht so wie Vivien getrennt und kontrolliert, sondern gleichzeitig"
„W... Wie kann ich mir das denn vorstellen?" frage ich geschockt.
„Vermutlich genauso wie du es dir gerade vorstellst. Es ist schlimm und Aura hat sich bisher auch nur ein einziges Mal vor mir gewandelt, die anderen haben sie noch nie so gesehen und du wirst es auch nicht. Die Wandlung ist für sie unglaublich schmerzhaft und bringt ihr nicht mal etwas, weil sie in dieser Gestalt sich kaum bewegen kann"
„Wie schrecklich..." murmele ich schockiert und denke an alle möglichen Kreuzungen von Tieren und an die schmerzhaften Wandlungen.
„Die Chance, dass das passiert, ist aber sehr sehr gering. Wenn du ein Kind bekommst, vor der Heirat, ist es vermutlich einfach dein Tier oder das von deinem Partner, also nichts Schlimmes" meint Mandarin und versucht mir die Beunruhigung zu nehmen.
„Und was ist mit Mika?" frage ich in der Hoffnung, dass er keine so schlimme Vergangenheit hat, obwohl ich das schon nicht mehr glaube.
„Mika ist ein Waisenkind und kommt aus einem Kinderheim, allerdings aus einem Menschenkinderheim" erklärt Vivien.
„Hat er sich etwa im Heim gewandelt, vor den ganzen Menschen, die nichts wussten!?" frage ich entsetzt.
„Sozusagen ja. Zu dem Zeitpunkt hat Aura in dem Kinderheim angefangen zu arbeiten und kannte Mika aber noch nicht. In einer Nacht hatte er dann seine Wandlung und sein Zimmernachbar hat dann am nächsten Morgen den Betreuern erzählt, dass ein Schaf im Zimmer und Mika weg war. Aber da Mika zu dem Zeitpunkt wieder ein Mensch war, hat dem anderen Jungen niemand mehr geglaubt, außer Aura.
Und dann hat Aura Mika genommen und hat ihn mit zu uns gebracht. Mika hat zwar eine Nachricht an die Betreuer geschrieben, dass sie sich keine Sorgen machen sollen, doch trotzdem mussten wir umziehen und sind nun hier. Hoffentlich müssen wir wegen dir nicht auch noch umziehen" meint Vivien und zwinkert mir freundlich zu.
„Jetzt musst du deine Geschichte erzählen, Irina. Schließlich kennst du unsere jetzt auch schon" sagt Mandarin aufgeregt und ich atme einmal tief durch, bevor ich den beiden Mädchen meine Geschichte erzähle.
Die beiden wundern sich ebenfalls über die ganzen Ereignisse und halten ebenfalls den Arzt als Drahtzieher für den Angriff des Trios.
„Gut, dass dich deine Freunde unterstützen und dir helfen" sagt Vivien und ich nicke.
Oh Mist, ich wollte Samira doch anrufen oder ihr wenigstens schreiben! Sie weiß ja gar nicht was alles passiert ist...
„Ich muss meine Freundin jetzt auch dringend anrufen und ihr alles erzählen. Und ich muss auch mal wieder duschen und mir was Neues anziehen" meine ich lachend und stehe vom Sofa auf. Auch die anderen erheben sich und gehen aus dem Zimmer.
„Na klar, mach das ruhig. Ich fliege jetzt zum See, bis später!" ruft Vivien und verschwindet durch die Eingangstür.
Während Ced und Mandarin in die Küche gehen, mache ich mich auf den Weg zu meinem hoffentlich aufgeladenem Handy, denn das wird ein langes Gespräch werden.
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