Kapitel 22

Ich trete um mich und will noch nicht aufgeben. Mein Entführer und ich liegen in diesem Busch, der undurchsichtig scheint.
Die Person hinter mir hält ihre Hand vor meinen Mund und ich nutze meine Chance und beiße in die Finger.
Die Person zieht heftig die Luft ein, scheint Schmerzen zu haben, aber lässt nicht los. Auch meinen ausgefahrenen Krallen Händen weicht er aus und ich schmecke Blut in meinem Mund.
Dann höre ich laute Schritte näherkommen und das Trio von Terry und ihren Begleitern rennt an uns vorbei, während sie etwas von Stadt und Dorf rufen. Nach wenigen Sekunden ist nichts mehr zu hören.
Auch meinen Entführer scheint das zu beruhigen, denn sein Griff lockert sich leicht. Wer auch immer derjenige hinter mir ist, wenn er zu Terrys Team gehören sollte, ist er kein gutes Mitglied.
Ich nutze meine Chance, trete wieder um mich und rolle mich aus dem Griff des Fremden.
Gut zwei Meter liegen jetzt zwischen uns, doch weglaufen kann ich nicht, weil mein Rucksack hinter dem fremden Jungen liegt.
Dieser scheint größer als ich zu sein, hat dunkelbraune Haare und grüne Augen.
Seine Hand blutet leicht, das war wohl ich, und trotzdem schaut er nicht aggressiv, sondern eher ... ehrleichtert? Wer ist er und warum hat er mich in den Busch geschupst?
Ich rieche, dass er ein Wandler ist und das gibt mir noch mehr Gründe ihm nicht zu vertrauen.
Meine Krallen sind noch ausgefahren und meine Zähne verspitzen sich.
Schnell schätze ich die Entfernung zwischen mir, dem Rucksack und dem Jungen ein und wäge meine Chancen ab zu fliehen.
Der Fremde scheint auf einen ersten Schritt zu warten und ich frage mich, wie er so locker in selbstbewusst wirken kann. Er lächelt ja schon fast!
Ärgerlich knurrend und fauchend stehe ich blitzschnell auf und springe auf meinen Rucksack zu, um ihn mir zu schnappen und dann zu entkommen.

Doch ich habe den anderen Wandler unterschätzt. Ich kann gar nicht so schnell gucken, schon ist er verschwunden und ein Greifvogel schießt gen Himmel.
Mein Rucksack ist ebenfalls weg, der Fremde scheint ihn bei der Wandlung berührt zu haben, sodass er sozusagen mit verwandelt wurde.
Doch der Junge fliegt nicht weg, er segelt gut einen Meter über mir und ruft mir locker zu: „Beruhig dich, dann bekommst du den Rucksack wieder"
Wie kann er sich nur so was erlauben! Mir sagen mich zu beruhigen, obwohl ich gerade von verrückten Leuten verfolgt werde!
Wütend blicke ich zum Himmel und laufe hin und her. Ich brauche meinen Rucksack und kann mich aber nicht beruhigen.
Mein innerer Luchs fordert mich auf, sich abregen zu dürfen und obwohl ich die Wandlung auf der Reise eigentlich vermeiden wollte, wandele ich mich in meine Luchsgestalt.
Als würde ein Schalter umgelegt werden kehrt Ruhe in mich ein, als ich nun auf allen vieren auf dem Waldboden stehe und meine Krallen einfahre.
Wie kann es sein, dass mir eine Raubkatze Ruhe gibt, müsste sie mich nicht eigentlich wütender machen?
Verwirrt über meine Gefühle beachte ich kaum noch den Greifvogel, der nun nicht mehr über mir fliegt, sondern jetzt vor mir auf dem Boden sitzt.
Ich sollte ihn angreifen, denke ich, aber warum will ich das nicht?
Das alles ist so verwirrend, dass ich schon gar nicht mehr richtig denken kann. Meine Pfote wandert zu meinem Kopf, eine menschliche Geste, und als ich meinen Kopf berühre, ist das Fell verschwunden und ich sitze in meiner menschlichen Gestalt auf dem Boden.
Auch der Junge hat sich zurück gewandelt und sitzt nun mit meinem Rucksack dicht vor mir.

„Ich denke, ich sollte mich erstmal vorstellen. Ich bin Ced, ein Fischadler, freut mich deine Bekanntschaft zu machen und wie du gemerkt hast, schmecke ich nicht sehr lecker" er lacht in einer angenehmen etwas tieferen Stimme und zeigt auf seine Hand, die schon fast wieder aufgehört hat zu bluten.
„Ich bin Irina und ein Luchs" stottere ich etwas verwirrt, weil der fremde Ced so freundlich ist. Warum ist er so zu mir? Er kann nicht zu Terry gehören, nein das glaub ich nicht. Außer es wäre ein genialer Trick, aber für so schlau halte ich Terry nicht. Ich glaube, ich habe den Jungen falsch eingeschätzt.
„Du bist gar kein Jäger, stimmt's? Du hast mich gerettet vor Terry und ich habe dich verletzt, das tut mir so leid. Bitte verzeih mir"
„Na klar verzeihe ich dir. Meine Hand ist schon so gut wie geheilt. Außerdem, wer der Feind von Steve und Scarlett ist, ist mein Freund. Aber wer ist Terry? Ist sie dieses andere Mädchen, welche dabei war? Ich habe sie vorher noch nie gesehen" fragt mich Ced, der dunkele und unauffällige Klamotten trägt.
„Das sind Steve und Scarlett? Terry hat immer damit angegeben, dass ihre beiden Cousins Models und immer auf Reisen wären" meine ich überrascht.
„Steve und Scarlett Models? Im Leben nicht. Und ich bin nicht mal ganz unschuldig deswegen, schließlich hätte ich Steve fast mal das Auge ausgehackt. Aber das hätte der verdient, seitdem passt er nur zu gut auf seine Augen auf" lachend reicht Ced mir meinen Rucksack und ich nehme ihn etwas verwirrt an.
Irgendwie werde ich nicht ganz aus Ced schlau, er ist so nett und locker, obwohl die Situation doch gerade so gefährlich und ernst war. Bevor ich ihm alles von mir erzähle, sollte ich erstmal herausfinden, was das mit der Jagd Sache auf sich hat.

„Ced, ich hätte mal eine Frage?"
„Ja? Frag einfach, keine Sorg." er lehnt sich an einen Ast.
„Woher kennst du Scarlett und Steve und was ist das für eine Jagd?"
„Das weißt du gar nicht? Dann wirst du wohl erst seit kurzem verfolgt"
Ich nicke „Heute war das erste Mal, dass ich sie gesehen habe"
Auch Ced nickt und fährt dann fort: „Nun, Steve und Scarlett sind zwei Puma Geschwister, die Jagd auf alles machen, was im Bereich Wandler nicht ‚normal' ist. Als hauptsächlich sind das Leute, die nicht das Tier ihrer Eltern sind.
Und das ist der Punkt, woher wir uns kennen. Die beiden verfolgen mich schon seit zwei Jahren, ich habe mich damals mit 16 Jahren gewandelt und wurde von meinen Eltern rausgeschmissen. Ich weiß nicht, ob meine Eltern die beiden beauftragt haben oder ob sie einfach so auf mich aufmerksam geworden sind, aber zumindest konnte ich vor den Krallen immer fliehen und werde wohl glücklich bis an mein Lebensende leben, ohne dass sie mich jemals schnappen"
Wie Ced das so gechillt und schon fast lustig erzählen kann, verwirrt mich. Er wurde von seinen Eltern aus dem Haus geworfen und seit zwei Jahren wird er von zwei Auftragskillern verfolgt... wie kann man da noch ruhig weiterleben?
Mein Mund steht offen und Ced fängt an leise zu kichern, weil das wohl sehr witzig aussieht.
Schnell versuche ich die Situation zu überspielen, indem ich frage: „Welches Tier sind deine Eltern und wo kommst du her?"
Er streicht sich durch seine Haare und erzählt dann: „Ich komme von der Nordsee und meine Eltern sind Delfine, mein älterer Bruder ebenfalls.
Vielleicht hast du schonmal davon gehört, dass die Regeln im Meer strenger sind und auch noch weniger respektiert wird als hier an Land. Das liegt daran, dass Meereswandler sich automatisch von Land und Lufttieren distanzieren. Ein Fisch kann schließlich nicht ohne Wasser leben. Meereswandler sind deswegen wie eine eigene Kultur, die den anderen Wandlern beweisen wollen, dass bei Ihnen alles nach Plan verläuft. Auch wenn das auf Unzufriedenheit stößt, denn nicht jeder im Ozean findet diese Regeln toll, aber die wenigsten äußern es aus Angst ausgestoßen zu werden.
Und es stimmt auch, meine Eltern haben alles bei der Ehewandlung richtig gemacht und trotzdem bin ich ein Fischadler. Naja, wäre ich geblieben, hätten ich auf eine andere Schule gehen müssen und die Ehre meiner Eltern wäre ruiniert, was mir im Prinzip ziemlich egal ist.
Aber da kam es mir ganz Recht, als ich herausgeschmissen wurde, so habe ich mir nicht noch mehr Ärger mit ihnen eingehandelt. Auch wenn es jetzt vielleicht anstrengender zu leben ist, wenigstens bleibe ich durch die ständige Verfolgung fit" er zwinkert und streicht über seinen flachen Bauch.

Wenn ich jetzt so Ceds Geschichte höre, merke ich wie gut es mir eigentlich geht. Obwohl meine Eltern wussten, wie schwierig es für sie werden könnte, als ich mich in einen Luchs gewandelt habe, sind sie trotzdem bei mir geblieben und haben mich unterstützt. Und auch nur wenige Freunden haben sich abgewendet.
Ich weiß, dass Ced nicht lügt, das spüre ich und ich habe Mitleid mit ihm. Doch ich sehe auch, dass er kein Mitleid braucht oder eher möchte, weswegen ich mich zurückhalte.

„Jetzt bin ich aber mal dran dich was zu fragen, schließlich habe ich dich gerettet. Also, warum wurdest du jetzt von Terry, Steve und Scarlett verfolgt? Irgendetwas muss ja an dir besonders sein, deine Haare passen schon mal nicht zu deinem Tier, aber ich vermute mal, dass noch mehr hinter der Sache steckt"
Ich nicke und atme dann einmal tief durch, um meinem Retter meine Geschichte zu erzählen. Und zwar die Wahrheit. Dass meine Eltern mich nur gefunden haben, von meiner Suche nach meinen wahren Eltern, von Herr Doktor Ursus und von meinem Kampf mit Terry.
Ced nickt währenddessen verständnisvoll und bestätigt meine Vermutung, dass der Kampf gegen Terry wohl einer der Auslöser für die Verfolgung war.
„Dieser Arzt ist aber bestimmt auch nicht unschuldig. Die Puma Geschwister müssen schließlich auch von irgendwelchen Leuten Hinweise oder Aufträge bekommen haben und wenn der Arzt mit der Familie von deiner Terry zu tun hat, dann ist er auf jeden Fall verdächtig. Aber ich denke, dass der Auftraggeber im Moment dein geringstes Problem ist. Ich habe schließlich auch gehört, wie wütend Terry auf dich ist und das bedeutet, dass du in Gefahr bist. Aber keine Sorge, gesuchter als ich kann man gar nicht sein" er klopft mir beruhigend auf die Schulter und steht dann auf.

Es scheint niemand in der Nähe zu sein, denn er streckt mir seine Hand entgegen und ich ziehe mich hoch. Meinen Rucksack schnalle ich um den Rücken, während Ced gar kein Gepäck dabei hat.
„Irina, ich denke du brauchst meine Hilfe und ich werde dir auch helfen, du musst mir nur vertrauen" meint Ced nun doch zum ersten Mal ernster.
Ich überlege kurz und nicke dann aber, schließlich weiß ich nicht wo ich jetzt ohne Ced wäre: „Ich vertraue dir. Aber wo sollen wir denn nun hingehen? Weiter meine Eltern suchen?"
„Hm, ich denke, das werden wir für kurze Zeit unterbrechen müssen, aber zuerst gehen wir durch den Wald zu einem anderen Ort, um dem Puma Trio nicht noch einmal zu begegnen"
„Und was ist das für ein Ort?" frage ich neugierig.
Ced dreht sich lächelnd zu mir um und meint dann: „Tja Irina, es gibt noch so viel, was du nicht weißt und ich denke, an diesem Ort wirst du einiges über Wandler erfahren. Na los, vertrau mir und komm mit"
Er zeigt mitten in den Wald und zusammen machen wir uns auf den Weg.
Zwar ist das sehr naiv von mir, aber ich habe keine andere Wahl. Ich habe schon oft gesagt, dass es nicht schlimmer werden kann, aber jetzt habe ich die höchstmögliche Steigerung erreicht.
Schlimmer als der Tod durch Terry kann es nicht sein.

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