Kapitel 19
Ich packe meinen Koffer und nehme mit ...
Jeder kennt vermutlich diesen Satz aus dem Kindergarten oder aus der Grundschule. Aber im Kindergarten hatte man kein Ziel und keine ernsthafte Reise vor sich, was soll ich also mitnehmen?
Genau mit diesem Gedanken stehe ich gerade in meinem Zimmer vor meinem Schrank und Schreibtisch. Auf meinem Bett liegt der große graue Wanderrucksack von meinem Vater, den ich mir für die Tage ausleihen darf.
Vorhin habe ich meinen Eltern erzählt, dass ich mit Helene und ihrem Freund wandern gehen werde und mich auch deshalb nicht so häufig melden kann, das war die beste Ausrede, die mir eingefallen war.
Neben der Frage was ich mitnehmen soll, sind auch noch so viele andere Fragen in meinem Kopf, sodass ich mich aufs Bett setze und in meinem Handy eine neue Notiz erstelle. Sie heißt „Wichtige Fragen"
Alle Rätsel und Fragen, die mir gerade so im Kopf herum schwirren schreibe ich auf:
Wer sind meine Eltern und warum bin ich nicht bei ihnen?
Warum habe ich Schmerzen beim Wandeln?
Warum habe ich schwarze Haare?
Warum verwandeln sich meine Augen nicht?
Was hat Herr Doktor Ursus vor?
Was passiert, wenn ich meine Eltern finden sollte?
Was passiert, wenn etwas auf der Reise passiert oder ich zu lange brauche?
Schon fast hysterisch tippe ich das letzte Fragezeichen hinein und lasse dann mein Handy aufs Bett gleiten. Ich darf auf keinen Fall jetzt schon verrückt werden, obwohl ich noch nicht mal gestartet bin. Zurück kann ich immer und im Notfall wird mir eine Ausrede einfallen, für meine Eltern, für die Schule oder Herr Doktor Ursus.
Aber bevor ich mir über das Gedanken mache, sollte ich mich lieber der Frage, was ich mitnehmen soll, zuwenden.
Ich ziehe zwei Jeans Hosen aus dem Schrank und lege sie aufs Bett. Dann nehme ich drei buntgemischte Pullover heraus und lege sie neben die Hosen. Das wird zwar nicht ganz für die 1,5 Wochen reichen, aber in meinem Rucksack ist nicht mehr Platz für mehr Klamotten und da wasche ich die Sachen lieber einmal in einem Waschsalon.
Auch ein Haufen Unterwäsche hole ich aus dem Schrank hinaus. Schlafsachen werde ich nicht mitnehmen, da ich in einem Hotel oder so auch in Unterwäsche schlafen kann. Einen Schlafsack kann ich auch mitnehmen, falls ich mal kein Hotel finde und irgendwo draußen übernachten muss, obwohl ich das echt nicht gerne möchte.
Meine Anziehsachen packe ich in meinen Rucksack und hole mein Portemonnaie unter meinem Bett hervor. Ich habe keine Ahnung wie viel Geld ich mitnehmen soll und schließlich kann ich meine Eltern auch nicht einfach nach mehr fragen.
In meinem Geldbeutel entdecke ich einige 10, 20 und 50 Euro Scheine und komme somit auf 120 Euro. Aber wird das reichen?
Als ich den Geldbeutel zurückpacke, sehe ich noch ein paar Geburtstagskarten unter meinem Bett liegen. Ich ziehe sie hervor und finde insgesamt noch 80 Euro. Damit werde ich wohl ein paar Tage auskommen.
Ich packe das Geld in eine kleine Schachtel und tue sie ebenfalls in den Rucksack. Eine große Wasserflasche, eine Brotdose, Pflaster und mein Kulturbeutel aus dem Badezimmer folgen. Mein Ladekabel und mein Handy kann ich erst morgen früh einpacken und der Rucksack ist zu voll für den Schlafsack, sodass ich den in die Hand nehmen werde.
Den Zettel mit den Adressen und Namen von Frau Simons packe ich mit einer Landkarte in eine Klarsichtfolie, damit sie nicht nass werden.
Meinen Mantel, der regenfest ist, werde ich morgen anziehen, sowie die neuen Schuhe von Samira. Ich habe sie heute schon eingelaufen, damit ich in den nächsten Tagen keine Blasen bekommen werde.
Meinen Rucksack verschließe ich und stelle ihn neben meinen Schrank. Gerne würde ich noch mehr mitnehmen, aber das geht nicht und schließlich habe ich noch mein Handy dabei und kann mir Fotos ansehen, falls ich Heimweh bekommen sollte.
Gleich werde ich auch noch zu Matteo rübergehen und ihn in meinem Plan einweihen. Er, Frau Simons und Sammy sind dann die einzigen, die davon wissen und ich hoffe, dass mich niemand verraten wird.
Piep ...
Piep ...
Ich schlage meine Augen auf und lausche dem Piepen des Weckers. Es ist Mittwoch, der 15. September, der Tag, an dem ich mich auf eine Reise begeben werde. Wann werde ich wohl wieder in meinem Bett liegen und den Wecker klingeln hören? Ich weiß es nicht.
Schließlich drücke ich den Wecker doch aus und stehe auf.
Es ist seltsam, jeden Morgen stehe ich auf und jeder Morgen ist der gleiche, hat den gleichen Ablauf und ist einfach nichts Besonderes.
Aber heute wirkt alles so anders, wann werde ich das Privileg haben, wieder unter meiner Dusche zu stehen oder in meinem Bett zu schlafen? Wann und ob?
Ich bin heute früh aufgestanden, obwohl ich ja frei habe. Aber schließlich haben meine Familie und meine Freunde nicht frei und von ihnen muss ich mich auf jeden Fall verabschieden. Duschen und mir ordentliche Sachen anziehen kann ich auch danach machen, wenn sie weg sind.
Ich gehe hinunter und weiß, dass ich mich als erstes von meinen Freunden verabschieden werde, weil sie von meinem wahren Plan wissen.
Unten angekommen sehe ich schon Samira und Matteo im Flur stehen und ich winke sie hoch in mein Zimmer, während meine Eltern gerade frühstücken.
Meine Freunde wirken so aufgeregt, dass es schon auf mich überspringt und ich ganz hibbelig werde.
„Oh man Irina, wir werden dich so vermissen, auch wenn es nur eine Woche ist, aber trotzdem!" fängt Sammy an und nimmt mich fest in den Arm.
Sammy wird mein Telefonjoker sein und mir Tipps geben oder mir anders helfen, falls ich das brauchen sollte. Ich drücke ebenfalls meine beste Freundin und bilde mir ein sie kurz schiefen zu hören, doch als wir uns voneinander trennen, ist davon nichts zu sehen. Sie lächelt mich an, wünscht mir Glück, Erfolg und Spaß.
„Hoffentlich vergisst du auf der Reise nicht, was du vorhast." fügt sie noch hinzu, zwinkert mir zu und lässt dann Matteo zu mir kommen.
Dieser ist ebenfalls nervös und wirkt schon fast so wie eine aufgedrehte Mutter vor dem Auszug oder Urlaub.
„Ich wünsche dir auch viel Glück, du schaffst das bestimmt. Hast du denn auch alles Wichtige dabei? Klamotten, Essen, diese Liste und dein Handy, damit wir dich anrufen können? Das wäre ja blöd, wenn du das vergisst und dein Schlafsack, den darfst du auch nicht vergessen!"
„Danke Matteo, aber ich habe alles dabei" ich lege ihm meine Hand auf seine Schulter und nicke ihm aufmunternd zu, doch da fällt mir noch etwas ein: „Oh, mir fällt doch noch etwas ein, mein Ladekabel liegt hier noch und mein Handy ist schon voll, das heißt, dass ich beides schon einpacken kann"
„Siehste, ist doch gut, dass ich dich erinnert habe!" meint Matteo erfreut und beruhigt sich langsam.
Ich packe die Sachen direkt ein und nehme dann auch Matteo in den Arm, der mich an sich drückt und Samira uns beide auch noch umarmt.
So schön das gerade auch ist und ich meine Freunde am liebsten mitnehmen würde, ich weiß, dass das nicht geht und ich versuche den Abschied möglichst schnell hinter mich zu bringen.
Ich löse mich von den beiden und wir gehen zu dritt runter in die Küche. Dort ist meine Familie gerade mit frühstücken fertig und ich bringe meine Freunde zuerst zu Tür, bevor ich zu ihnen gehe. Sammy und Matteo gehen durch die Tür zu ihren Fahrrädern und winken mir noch einmal zu. Samira hebt ihre Hand und zeigt mir, dass sie mir die Daumen drücken wird und ich nicke ihr dankbar zu. Dann fahren meine Freunde los und ich gehe zurück ins Haus.
Immer noch trage ich nur meinen Schlafanzug und meine verwuschelten Haare muss ich gleich erstmal durchkämen, bevor ich die Duschen gehe. Aber zuerst muss ich mich von meinen Eltern und von Zoe verabschieden.
„Warum kann ich nicht auch frei haben und mit dir mitkommen? Helene würde mich doch bestimmt auch nehmen. Ich will auch Ferien!" jammert Zoe.
Meine Mutter legt ihre Hände auf meine und Zoes Schulter und meint dann: „Zoe, du weißt doch, dass Irina in den letzten Tagen ganz schön was durch machen musste und jetzt Ruhe brauchst. Irina ist auch 16, da ist das was anderes, wenn du 16 bist, kannst du mit Helene bestimmt auch mal einen Ausflug machen. Außerdem schreibst du nächste Woche eine Arbeit, die kannst du nicht einfach verpassen"
„Jaja. Tschüss Irina" seufzt meine kleine Schwester und umarmt mich. Ich drücke sie und atme noch einmal ihren Geruch ein. Auch wenn sie nervig ist, Zoe werde ich schon vermissen, schließlich war sie auf Ausflügen sonst immer dabei.
Als ich sie loslasse, klingelt es an der Tür und Mark holt meine kleine Schwester wieder ab. Mit einem Jauchzen verschwindet diese vor der Haustür.
Nun sind nur noch meine Eltern und ich übrig. Die Hand meine Mutter liegt immer noch auf meiner Schulter und jetzt nimmt sie mich auch in den Arm.
„Ich bin stolz auf dich Irina, dass du dich entschieden hast diese Auszeit zu nehmen, damit es dir besser geht. Ich hoffe, dass du dich bei Helene gut erholen wirst. Und nicht zu viel wandern, sonst bekommst du noch Blasen. Und wenn was ist, rufst du an, okay?"
„Danke Mama. Ja ich werde aufpassen und außerdem kann ich in den neuen Schuhen von Samira super laufen. Und natürlich werde ich dann anrufen" ich schlucke noch einmal und presse dann hervor „Ach übrigens, es wäre gut, wenn ihr mich und Helene nicht anrufen würdet, weil wir uns eine ruhige Woche alleine machen möchten. Okay?"
„Natürlich" meint nun auch mein Vater „wenn du die Zeit nur mit deiner Cousine verbringen möchtest und den Abstand brauchst, dann respektieren wir das selbstverständlich"
Meine Mutter nickt ebenfalls lächelnd und mein Vater drückt mich noch einmal. Auf die Frage, ob ich alles habe, nicke ich und meine Eltern machen sich auf den Weg zu Arbeit.
An der Haustür winke ich den beiden zu, meine Mutter steigt ins Auto und mein Vater fliegt los zur Schule.
Ich schließe die Haustür und die Stille, die mich empfängt, ist schon beinahe gruselig. Schnell flitze ich ins Badezimmer, drehe das Radio auf und gehe unter die Dusche. Gefühlt eine ganze Stunde dusche ich so, bis meine Hände schrumpelig sind und ich mich abtrockne, föhne und anziehe. Diesmal keine Schuluniform, obwohl es nicht Wochenende ist, es fühlt sich heute alles seltsam an.
Als ich fertig bin, checke ich noch ein letztes Mal, ob alle Sachen in meinem Rucksack sind und schaue mich in meinem Zimmer um. Dann gehe ich hin noch einmal ins Bad, auf Toilette und Zähne putzen, wer weiß wann ich das wieder kann, alles ist so ungewiss...
Dann ziehe ich meine Schuhe und meinen Mantel an und nehme den Rucksack und den Schlafsack. Ich gehe nach draußen, aber drehe mich noch einmal um und murmele ein leises „Auf Wiedersehen" ins Haus und schließe dann die Haustür hinter mir.
Einen Schlüssel habe ich nicht. Die Tür ist zu und heute komme ich nicht mehr zurück. Zurück nach Hause.
Entschlossen mache ich mich auf den Weg in mein persönliches kleines Abenteuer.
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