Kapitel 18

„Irina, du musst aufpassen" flüstert mir Samira zu und stößt mir mit ihrem Ellenbogen leicht in die Seite.
Herr Vulpes scheint nicht zu merken, dass ich gerade voll in den Gedanken war und nicht seinem Matheunterricht in der ersten Stunde folge.
In Gedanken bin ich gerade noch bei gestern Abend: Samiras und meinem Gespräch. Diese Person, die mir nämlich weiterhelfen könnte, ist Frau Simons, meine Sport- und Spanisch Lehrerin und zusätzlich auch noch ein Luchs.
Und genau das ist der Punkt, Luchse leben häufig alleine und nicht in großen Familien, aber trotzdem kennt man die anderen und weiß, wo sie wohnen. Auch ich weiß, wo alle möglichen Rabenfamilien in Deutschland wohnen, obwohl meine Familie nicht mal mit denen verwandt ist, aber das nennt man Allgemein und Standartwissen unter Wandlern.
Mein Plan ist also, dass ich mit Frau Simons sprechen will, am besten noch heute, und sie mir dann verraten könnte, wo Luchs Wandler leben, zumindest hier im Umkreis. Ich denke nicht, dass meine Eltern aus Bayern kommen und mich hier verloren haben, das wäre echt unwahrscheinlich.
Und wenn ich dann die Liste oder ein paar Namen von Frau Simons herausbekommen habe, werde ich mich alleine, ich konnte Sammy ja zum Glück überreden, auf die Suche nach meinen Eltern machen.
Ich bin zwar noch nicht volljährig, aber zumindest schon 16 und ich hoffe einfach, dass meine Eltern nicht die Polizei rufen werden, wenn ich weg bin.
Mein Plan ist vielleicht nicht der beste, aber es ist ein Anfang. Reibungslos wird die ganze Sache nicht laufen, das ist mir schon klar, aber ich will endlich wissen was geschehen ist und warum ich so bin. Und wenn ich das weiß, lasse ich mich vielleicht sogar wieder auf Herr Doktor Ursus ein, aber bis dahin muss ich noch einige Hürden übersteigen.

Die erste Hürde war schon gestern Abend. Die Entscheidung zu gehen, fiel mir gar nicht so schwer, aber ich musste ja auch meine Eltern von einer Lüge überzeugen und dass, obwohl ich nicht wirklich gut lügen kann.
Ich hatte mir dann überlegt, dass ich sage, dass ich zu meiner Cousine Helene und ihrem Freund fahren möchte, um mich von dem ganzen Stress zu erholen. Helene ist nämlich eine meiner Cousine, ein Mauergecko wie meine Mutter es mal war. Und zu ihr wir nicht so viel Kontakt haben, weshalb ich gehofft hatte, dass meine Eltern mir vertrauen, sodass ich den Besuch alleine geplant habe.

Und tatsächlich haben meine Eltern mir geglaubt und mich von Mittwoch bis nächste Woche Sonntag entschuldigt. Ich habe also eineinhalb Wochen, um meine Eltern zu finden.
Ich war wirklich überrascht, dass meine Eltern mir geglaubt und mich mitten im Schuljahr entschuldigt haben und irgendwie habe ich auch ein schlechtes Gewissen, aber egal sie werden es schon verstehen, wenn ich wieder da bin. Und Samira kennt schließlich auch meinen Plan und kann meine Eltern im Notfall aufklären.
Ich weiß nur noch nicht so genau, wie ich Mama und Papa erklären soll, dass ich nur Wandersachen und einen Rucksack mitnehme, da muss ich mir noch was überlegen.
Das war also die erste Hürde und die zweite besteht jetzt darin, dass Frau Simons mir zuhört und mir von den anderen Luchsen erzählt. Wenn ich mit ihr als Vertrauenslehrerin sprechen möchte, steht sie unter Schweigepflicht und ich könnte ihr dann von meiner wahren Geschichte erzählen, also dass meine Eltern mich auf der Straße gefunden haben.
Und wenn ich diese Hürde meistere, ist die Kugel am Gipfel des Berges und mit einem kleinen Stoß rollt sie herunter und ich komme der Lösung meiner ganzen Rätsel viel näher. Hoffentlich.

„Irina, was ist die Lösung zu Aufgabe 5b?" fragt Herr Vulpes streng und alle schauen mich an.
„456 Meter" antworte ich zögernd und schaue in mein Heft, welches zum Glück schon aufgeschlagen vor mir liegt. Und zum Glück habe ich die Hausaufgaben richtig gemacht, denn Herr Vulpes runzelt verwundert darüber, dass ich die Antwort wusste, die Stirn, dreht sich dann aber zur Tafel um und schreibt es auf.
Da habe ich aber noch einmal wirklich Glück gehabt, wenn ich jetzt nicht aufpasse und Ärger bekomme, könnte das meinen ganzen Plan ruinieren.
Ich setzte mich gerade hin und höre auf meinen Plan in der Mathestunde auszuarbeiten, schließlich komme ich in der dritten Stunde zu Hürde Zwei.
Samira schaut mich wohlwissend an, grinst, aber schaut dann auch noch vorne, um sich für die nächste Frage zu melden.

„Ah einen Moment bitte Irina, würdest du einmal bitte zu mir kommen, bevor du in die Pause gehst?" meint Herr Vulpes, als Samira, Jodie und ich als vorletzten den Raum verlassen wollen.
„Ja okay" ich zucke mit den Achseln und bedeute meinen Freundinnen an, dass sie schonmal ohne mich in die Pause gehen können.
Als diese gegangen sind und auch Tom mit seinen Freunden den Raum verlassen haben, fängt Herr Vulpes an zu sprechen.
„Danke, dass du hiergeblieben bist, es wird auch nicht allzu lange dauern"
Das will ich auch hoffen, denke ich und lasse mir aber nicht anmerken, dass ich jetzt sehr viele Dinge lieber tun würde, als mit meinem Klassenlehrer zu reden.
„Ich denke, wir sollten über deine erste Wandlung sprechen, es ist schließlich ein akutes Thema" fährt er fort, „Zumindest habe ich über die Schulleitung über die Situation Bescheid bekommen, aber ich hätte es auch über die Schüler erfahren, weil du im Moment das Gesprächsthema in deinem Jahrgang bist"
„Ja das habe ich mir schon gedacht. Auf meiner Party vor ein paar Tagen habe ich es allen erzählt mit dem Wissen, dass es so alle erfahren werden. Schließlich hätten es sowieso alle irgendwann erfahren und deshalb habe ich es lieber selbst gesagt"
„Das war bestimmt eine gute Idee" nickt Herr Vulpes und ich zucke mit den Achseln, weil mir aus meiner Sicht nichts anderes übriggeblieben ist.
„Ach ja, ich habe schon bescheid bekommen, dass du ab morgen für ein paar Tage nicht zur Schule kommen wirst, um dich zu erholen. Ich hoffe, dass es dir danach besser gehen wird und wenn was ist kannst du einfach mit mir reden, ich hoffe das weißt du"
„Dankeschön" sage ich etwas zurückhaltend, weil meine Lüge jetzt nichts mehr stoppen kann, der Stein ist sozusagen schon am Rollen, „Ja, das weiß ich, ich werde demnächst auch noch mit jemanden sprechen, aber trotzdem danke"
Mit diesen Worten verlasse ich das Klassenzimmer und gehe nach draußen zu meinen Freunden, da Herr Vulpes anscheinend auch nicht noch mehr mit mir bereden wollte.
Ich schaue auf die Uhr. Fünf Minuten sind bei unserem Gespräch vergangen. Was habe ich nur immer mit meinen fünf Minuten, hat das irgendwas zu bedeuten? Ich habe keine Ahnung, aber egal, gleich habe ich bei Frau Simons Unterricht und werde sie um ein Gespräch bitten.

Nun ist auch die Pause und schon fast die Spanisch Stunde vorbei. Wir sollten heute einen Zeitungsartikel schreiben und Frau Simons geht herum und gibt uns Tipps.
Ich mag Frau Simons, obwohl sie streng ist und nicht, weil sie ein Luchs wie ich ist, sondern ist sie mir einfach sympathisch.
Dazu kommt auch noch, dass sie noch relativ jung ist. Sie ist erst seit letztem Jahr an unserer Schule und hat auch erst seit kurzem ihr Studium beendet. Mehr weiß ich noch nicht über sie und als sie zu mir kommt und mir einen Fehler in meinem Zeitungsartikel zeigt, schlägt mein Herz schneller und ich korrigiere meinen Wortfehler.
Ich komme mir dabei schon fast albern vor, als könnte ich mich in den letzten Minuten noch bei ihr einschleimen, was für ein Unsinn. Und trotzdem möchte ich alles richtig machen, vielleicht ist es auch ihre Präsens als Luchs, der mich auf eine gewisse Art einschüchtert oder mich dazu bringt respektvoll zu sein.

Die Welt der Wandler ist einfach viel zu kompliziert. So viel Körpersprache und unterbewusster Respekt machen es nicht unbedingt einfacher seine eigenen Handlungen und Gedanken zu verstehen. Und sobald man nicht mehr ins Muster passt, hat die Gesellschaft was zu bemängeln. Ich kann nur hoffen, dass Frau Simons gleich offen ist.

Schließlich ist die Doppelstunde vorbei und die Pausenglocke klingelt.
Ich lasse mir Zeit meine Sachen einzupacken und bin letztendlich nur mit Frau Simons alleine im Raum.
Ich nehme meinen Rucksack und gehe nach vorne, wo Frau Simons gerade die Tafel wischt, dann dreht sie sich zu mir um und sieht mich fragend an.
„Ich ähm, Frau Simons, ich wollte Sie fragen, ob ich jetzt einmal kurz mit Ihnen sprechen könnte?"
„Natürlich kannst du das. Was gibt es denn?"
„Also ich möchte gerne etwas mit Ihnen besprechen, was vertraulich ist. Könnten wir dafür vielleicht die Tür zu machen"
Frau Simons nickt etwas überrascht, schließt dann die Tür und setzt sich neben mich auf einen der vorderen Tische und ich fange an zu erzählen.
Ich erzähle ihr die Wahrheit: Dass meine Eltern mich gefunden haben und dass ich ja ein auch ein Luchs bin und deshalb meine Eltern finden möchte. Ich erzähle ihr auch davon, dass ich sie in den nächsten Tagen suchen möchte, weil meine Lehrerin nichts von der Lüge für meine Eltern weiß.
Frau Simons hört gespannt zu und scheint sehr erstaunt über meine Idee zu sein.
„Ich verstehe, dass das alles dich sehr überfordern musst und dass du deine wahren Eltern finden möchtest, aber glaubst du, dass es eine gute Idee ist alleine zu gehen. Ich kenne dich zwar noch nicht so lange, aber auf mich hast du eher zurückhaltend und eher wie ein Teamplayer gewirkt"
„Das stimmt schon irgendwie, aber ich muss endlich die Wahrheit herausfinden. Es gibt so viele Rätsel und wenigstens ein paar muss ich lösen" meine ich, verschweige aber, dass mich der Arzttermin von gestern besonders zum Gehen drängt. Die Gefahr ist einfach zu groß, dass mich Frau Simons deswegen aufhält.
„Natürlich, es ist wichtig, dass man selbst weiß, wer man ist und woher man kommt. Aber wie denkst du denn, dass du deine Eltern finden wirst?"
„Ich dachte, dass Sie mir dabei helfen können"
„Ich?" fragt Frau Simons überrascht.
„Genau. Ich wollte Sie fragen, ob sie mir verraten können, wo hier in der Nähe Luchse wohnen, die meine Eltern sein könnten?"
„Oh Irina, du weißt, dass mich das auch in Schwierigkeiten bringen könnte, oder?"
„Es wird bestimmt nichts passieren. Ich werde einfach nur zu den Leuten fahren, sie fragen, ob ich ihre Tochter sein könnte oder ob sie andere Luchse kennen. Sie werden bestimmt keine Probleme haben. Ich verspreche es"
„Sowas kannst du nicht versprechen" seufzt Frau Simons und traurig schaue ich auf meine Hände in meinem Schoß. Wenn Frau Simons mir nicht weiterhilft, war alles umsonst.

„Irina hast du gerade was zum Schreiben da?"
„Ja, hier in meinem Schreibblock, warum?"
„Du möchtest doch wissen, wo Luchse wohnen, ich denke nicht, dass du dir das merken kannst." sie zwinkert mir zu und ich fange an zu strahlen. Auf Frau Simons kann ich mich also wirklich verlassen.
Schnell hohle ich einen Stift und einen Zettel heraus und Frau Simons nennt mir ein paar Adressen und Namen.
Von manchen weiß sie nur Namen und Stadt, von manchen sogar Adressen und ich notiere mir alles. Frau Simons nennt mir nur die paar Luchse im Norden von Deutschland und nur Leute, die vom Alter auch passen würden, schließlich kann ein junges Paar noch kein 16-jähriges Kind haben.
So würde meine Lehrerin nicht in Frage kommen, da sie zu jung ist und auch noch nicht geheiratet hat.
Durch dieses Ausschlussprinzip kommen wir auf sechs Familien mit Kindern und drei Einzelpersonen, die in Frage kommen könnten. Leider wohnen fast alle weit auseinander und ich muss mir überlegen, wie ich da hinkommen soll. Wahrscheinlich schaffe ich in den eineinhalb Wochen gar nicht alle, aber ich werde sehen.
Schließlich nennt mir Frau Simons auch noch ihre Telefonnummer und ich notiere sie auf der Rückseite des Zettels.
„Falls irgendwas ist oder du noch Fragen hast, ruf einfach an" sagt sie lächelnd und ich bin froh, dass sie mich unterstützt.
Kurz vor Pausenschluss verlassen wir das Klassenzimmer und gehen in entgegengesetzte Richtungen, sie in das Lehrerzimmer und ich in die Pausenhalle.

Hürde Zwei ist geschafft und morgen werde ich mich auf eine Reise begeben und was alles auf dieser Reise passieren wird, kann ich mir, glaube ich, jetzt nicht einmal vorstellen.

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