Prolog
Konnte es heute noch schlimmer werden?
Ja, es konnte!
Tilda Johnson wrang ihre Socken aus und legte sie auf die Heizung, die nur mäßig warm war. Ihre ganze Kleidung war triefend nass, weil ein Autofahrer in eine Pfütze gefahren war, die etwa die Ausmaße eines Badesees gehabt hatte. Tildas Pech dabei war, dass sie genau daneben gestanden hatte. Ihr Haar, das sie am Morgen so sorgfältig mit dem Glätteisen und jeder Menge Schaum geglättet hatte, stand nun wieder wirr in allen Richtungen, weil die Locken wieder zum Vorschein kamen, die Tilda so hasste. Außerdem tropfte sie alles voll und sie hatte nicht einmal ein richtiges Handtuch. Die Papiertücher, die sie aus der Toilette genommen hatte, halfen ihr nur wenig!
Sie seufzte leise. So ein Dreckstag!
Kaum hatte sie das Gebäude betreten in dem sie arbeitete, hatte schon ihr Handy geklingelt und man hatte sie mit Botengängen überschüttet. Aber erst einmal musste sie in ihr Büro! Sie musste sich trocknen!
Nun ja, Büro konnte man das Kabuff nicht nennen, dass sie seit einem halben Jahr hatte. Abstellkammer würde es eher treffen. Es gab kein Fenster, der Computer hatte seine besten Zeiten auch schon hinter sich und sie musste betteln, wenn sie nur ein Blatt Papier haben wollte.
Dabei musste sie froh sein, dass sie diesen Job überhaupt bekommen hatte.
Nach dem Studium hatte ihr Vater erwartet, dass sie bei ihm in der Anwaltskanzlei arbeitete. Aber sie hatte dazu keine Lust gehabt. Sie wollte ihren eigenen Weg gehen und nicht den Weg, den ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Der wäre nämlich äußerst langweilig! Und sie hasste Langeweile.
Statt sich bei ihrem Vater ein zu nisten, ein Jahr später wahrscheinlich einen seiner Partner zu heiraten und Kinder zu bekommen, hatte sie sich bei einem Verlag für Mode beworben. Ihre Eltern hatten die Hände über den Kopf zusammengeschlagen. Sie hatte Jura studiert und nun machte sie Botengänge für Leute, die dachten, graue Haare kamen wieder in Mode.
Aber trotz des Stress und der ausgeflippten Leute, gefiel es Tilda. Das war genau die Welt, in der sie sich wohl fühlte. Dachte sie zumindest. Wahrscheinlich war es eher eine Rebellion gegen ihre Eltern, die seit Tildas Geburt alles detailgetreu geplant hatten. Bester Kindergarten, beste Privatschule, beste Universität und am Besten sollte sie alles mit Bestnoten bestehen. Sie hatte nie einen eigenen Willen haben dürfen, aber nun war sie weit weg von ihren Eltern. Und sie fand es prima.
Es war kein konservativer Verlag, bei dem sie nun arbeitete. Konservative Verläge hätten sie wahrscheinlich auch nicht eingestellt. Er wurde von einem Millionär gegründet, der Langeweile hatte. Er hatte alle ausgeflippten Leute, die er in Oslo finden konnte, um sich geschart und nun brachten sie einige Zeitschriften heraus, die weltweit berühmt waren.
Tilda hatte keine Ahnung von allem.. Deswegen hatte sie nur einen miesen Job, aber es genügte ihr.
Tilda war Mädchen für alles und auch das liebte sie. Es war ihr nicht einen Tag langweilig und sie kam viel herum.
Die Tür zu ihrem Büro ging auf und sofort ertönte der wummernde Bass von Hardcoretechno, der zurzeit im Gebäude so beliebt war.
Anders, ihr direkter Vorgesetzter, kam herein. Seine Haare hatte er stylisch mit Gel und jeder Menge Haarspray bearbeitet, so dass sie zu einem chaotischen Hahnenkamm nach oben standen. Dabei war Anders schon vierzig.
„Fuck! Wie siehst du denn aus?", war seine Begrüßung.
Tilda schnaubte und wischte sich die letzten Tropfen aus dem Gesicht.
„Nicht jeder hat das Glück ein eigenes Auto zu besitzen, Anders. Ich bin auf die Bahn angewiesen und leider nimmt niemand mehr auf andere Rücksicht!"
Anders zuckte mit den Schultern, dann zog er sie vom Stuhl hoch.
„Mach dich irgendwie trocken. Nimm notfalls ein paar Sachen von den Designern. Wir zwei fahren heute an einen Fjord!"
Sie starrte Anders an, dann lachte sie schallend.
„Entschuldige. Ich dachte gerade, du hast Fjord gesagt!"
Anders lachte gekünstelt auf.
„Ja, wir haben einen Auftrag. Wir müssen ein Fotoshooting beaufsichtigen."
Tilda hob eine Augenbraue.
„Wir?"
Tilda wusste genau, dass Anders nur herumstehen würde.
Er grinste.
„Ach komm schon, Tilda. Du hast einfach ein gutes Auge für die Models. Ich brauche dich da!"
Sie seufzte.
„Besorge mir trockene Socken und ich bin dabei!"
Es war kalt. Arschkalt!
Tilda drückte ihre Arme dicht an ihren Körper, aber der Wind zog an der dünnen Designerkleidung, die Anders ihr ausgesucht hatte. Es waren scheußliche Klamotten, aber sie waren trocken. Aber nun wünschte sich Tilda, sie hätte sich selbst umgesehen. Zumindest eine dicke Jacke wäre nicht schlecht gewesen. Nach drei Stunden Fahrt war die Umgebung wirklich...wild. Es hatte sogar angefangen zu schneien und die Models beschwerten sich lautstark. Kein Wunder. Sie hatten kein Gramm Fett auf den Rippen. Da konnte Tilda wenigstens dagegen halten. Das kleine Bäuchlein bekam sie auch mit strengster Diät einfach nicht weg!
Dennoch fror sie erbärmlich.
„Tilda, Schätzchen! Kannst du bitte mal in das alte Haus gehen und schauen, ob wir da nicht auch eine Lokation aufbauen könnten? Ich fände es super so ein Gegensatz zwischen Neu und Alt!"
Sie schnaubte.
Am liebsten hätte sie Anders die Meinung gesagt. Sollte er doch selbst danach schauen. Aber wenigstens war es in dieser alten Hütte windgeschützt. Zumindest glaubte sie das.
Sie lief auf die Hütte zu und bei jedem Schritt kamen ihr mehr Zweifel.
Es war eine große Hütte, keine Frage, aber doch sehr windschief. Ein paar der Holzbretter waren schon abgebrochen und der Wind würde da bestimmt durchziehen. Die Modells würden sich auch hier beschweren.
Sie öffnete die Tür und ging hinein.
Wie sie vermutet hatte, war es drinnen genauso kalt wie draußen. Die Scheiben der Fenster waren herausgebrochen, es war sehr schmutzig und es knarrte überall, als ob das Holz mit ihr reden wollte.
Es war sehr seltsam.
Sie ging weiter hinein und horchte.
Das war kein Knarren mehr!
Das waren wirklich Stimmen!
Seltsame Stimmen!
Sie brauchen dich!
Er braucht dich!
Sie brauchen dich!
Er braucht dich!
Tilda erstarrte.
Sie hatte eindeutig diese Worte gehört!
„Was? Wer ist da? Wer braucht mich? Wer sind sie? Wo sind sie?"
Niemand antwortete.
Es war wieder still, nur der Wind heulte leise.
Dann rauschte es auf einmal laut um sie herum. Ein Sturm zerrte an ihren Haaren, dann wurde sie von ihm in eine Ecke geschoben. Sie wollte sich wehren, aber sie kam dagegen nicht an.
Tilda versuchte sich an einem Balken fest zu heben, doch sie schaffte es nicht.
„Hilfe!", schrie sie.
Sie hörte, wie jemand außen nach ihr rief.
„Um Gottes Willen. Die Hütte bricht zusammen! Tilda ist da drinnen!"
Sie brauchen dich!
Er braucht dich!
Tilda wurde es schlecht. Sie hielt sich endlich an einem Balken fest. Um sie herum drehte sich alles!
Sie brauchen dich!
Er braucht dich!
Tilda schloss die Augen und schrie.
„Wer braucht mich? Lasst den Scheiß! Das ist nicht witzig. Ich will hier raus!"
Die Wände drehten sich immer schneller um sie herum.
Und immer wieder hörte sie diese Stimmen.
„Tilda!"
Tilda!
Tilda!
Tilda!
Sie klammerte sich an den Balken. Doch dann traf sie irgendetwas am Kopf.
Dann wurde ihr schwarz vor den Augen und sie fiel in Ohnmacht.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top