Was ist euer Handwerk?

"Wir stehen vor dem Thailänder, direkt bei dir. Iss mit uns, komm mit ins Kino", bettelte Nico. "Bitte! Du wirst den Jungs doch sowieso früher oder später über den Weg laufen."
"Ich werde dir kein Essen beim Aufnahmestudio vorbeibringen, schlag dir diese dumme Idee endlich aus dem Kopf!" Hanna massierte sich die Schläfen. Ihr bester Freund konnte eine solche Nervensäge sein. "Schön", gab sie sich geschlagen und starrte unglücklich auf ihre fertigen Materialien für die Semesterarbeit. Sie lagen fein säuberlich vor ihr auf dem Schreibtisch ausgebreitet, lediglich darauf wartend, dass sie endlich sortiert werden würden. Microsoft Office Word war geöffnet und in großen Lettern prangte auf der ansonsten leeren, weißen Seite die Überschrift. Heute hätte der Abend sein sollen, an dem sie von einundzwanzig bis null Uhr schrieb und den Löwenanteil der Aufgabe bereits erledigt gehabt hätte.
"Was habe ich für ein unverschämtes Pech mit dir befreundet zu sein?", brummte sie. Sein Lachen drang aus dem Lautsprecher ihres Handys. Sie kritzelte nebenbei auf ein Post It, dass sie es das nächste Mal definitiv ausschalten würde, bevor sie anfing für ihr Studium zu lernen. Entschlossen klatschte sie den Klebezettel auf den Bildschirm ihres Laptops.
"In fünf Minuten joinst du uns."
"Spar dir gefälligst den aufmüpfigen Ton, du Rotznase", entgegnete sie unhöflich und musterte sich kritisch in der Spiegelung ihrer gläsernen Balkontür. Zur Vorbereitung auf die ursprünglich geplante Büffelzeit war es ihr zur Gewohnheit geworden, sich einigermaßen zurechtzumachen. Sie war geschminkt, trug ihren weißen Lieblingspullover mit V-Ausschnitt und Kapuze und eine schlichte blaue Jeans. Das versetzte sie irgendwie in eine produktivere, lernorientiertere geistige Haltung. Sie hätte sofort loslegen können - Würde sie sich nicht so leicht von Nico ablenken und locken lassen, wie eben geschehen.

Als sie auf die Straße trat, bemerkte sie, dass die Nacht bereits hereingebrochen war. Der Himmel wölbte sich in tiefem Indigo über ihr und Hanna ereilte das Bedürfnis, ihren rosa-fliederfarbenen Sidecut beim nächsten Mal mehr in diese Farbrichtung tönen zu lassen. Bevor sie sich gleich mit den anderen zusammentun würde, machte sie sich eine Notiz zu dem Einfall unter ihrem Friseurtermin im Kalender, in der nächsten Woche.
Lässig lief sie nur wenige Schritte, dann entdeckte sie Nico vor ihrem Lieblingsrestaurant; er kannte ihre Schwäche für Thai-Food und wusste, wie man sie ködern konnte. Nico tapste auf sie zu und sie drückte ihn fest an sich. Er roch nach ihrer gemeinsamen Vergangenheit und verhielt sich niedlich, wie eh und je ihr gegenüber. Sie schätzte diesen Jungen sehr. "Han-Chan", grinste er breit.
"Ni-Chan", schmunzelte sie bei der Erwähnung ihrer Spitznamen.
"Leute", wirbelte er herum und riss sie voller Elan mit sich. "Das ist Hanna!" Er setzte sie dadurch unwiderruflich auf den Präsentierteller und Hanna ahnte schon, dass sie diese Position den restlichen Abend über nicht verlassen würde.
Vor ihr stand eine Truppe von vier Kerlen, Nico miteingeschlossen.
"Kutcher", deutete er auf einen großen Mann mit braunen Haaren, gepflegtem Bart und schiefem Kinn, der ihr freundlich zunickte.
"Johnny", wies er auf die Person, die neben Kutcher stand, mit am Ansatz schütterem Haar, aber einem aufmunternden Lächeln im Gesicht.
"Kevin." Kevin hatte etwas Hamsterartiges an sich und bedachte sie wie Johnny bereits mit einem Lächeln.
"Sola!", rief jemand ihren Kumpel bei seinem LoL-Namen. "Können wir essen oder braucht deine Ische noch lange?" Netter erster Eindruck.
Der hochgewachsene Typ, der, dem Griff an seinen Hosenschlitz nach zu urteilen, vermutlich gerade der Toilette einen Besuch abgestattet hatte, schluckte, als er plötzlich mitten in Hannas zartbitterschokoladendunkle Augen sah. "Oh, sorry", entschuldigte er sich stotternd.
"Ich verzeihe dir die Ische", winkte sie locker ab. "Hanna", reichte sie ihm die Hand.
"Hänno", schüttelte er sie. Als ihre überraschte Miene ein einzigartiges, asymmetrisches Lächeln auf seine Lippen zauberte, begann das orangerote Licht der asiatischen Lampions über ihren Köpfen in seinen grünen Augen zu tanzen. "Eigentlich Max", fügte er schnell hinzu.
Eine kribbelnde Gänsehaut erfasste sie. Sie schrieb sie dem Windhauch zu, der durch die Straße fegte. "Noch mehr Pseudonyme, die ich kennen sollte?", drehte sie sich gespannt der Runde zu; auch, um dem neugierigen Blick zu entkommen, der seit Max' Auftauchen seinerseits auf ihr lastete. "Es ist ja wohl mehr als zweifelhaft, dass Kutcher dein richtiger Name ist", sah sie gespielt abschätzig zu demjenigen, den Nico ihr als erstes vorgestellt hatte.
"Ich heiße Philipp. Man sagt mir eine geringe Ähnlichkeit mit Ashton Kutcher nach, also Kutcher."
"Okay", überging sie ihn. "Ich denke, ehe wir allesamt verhungern, sollten wir bestellen", wandte sie sich an ihren besten Freund, der sie, während sie den Satz herunterbetete, zu einem der Tische draußen schob. Unfreiwillig landete sie zwischen ihm und Max.
"Das ist die Truppe, mit der ich League of Legends zocke", erklärte Nico.
"Willkommen im Spandauer Inferno", mischte Max sich prompt ein. Seine Stimme war angenehm, fand Hanna. Obwohl sie sich in seiner Nähe seltsam hibbelig fühlte, wollte sie ihm eine Chance geben, trotz der schiefgegangenen Begrüßung. Schließlich war er Nicos Freund, genauer musste er sogar sein Mitbewohner sein. Er hatte ihr von einem gewissen Max erzählt, bei dem er eingezogen war. Bestimmt würde die Fremdheit weichen, wenn sie ihn besser kennenlernte.
"Wieso hast du darauf bestanden, dass sie uns begleitet, Sola? Nicht, dass ich das ablehnen würde ...", schob er hinterher und schielte seitlich zu ihr rüber.
"Han-Chan, hier, versinkt in ihrem Studium." Er knuddelte sie freundschaftlich. "Wenn ich nicht dafür sorge, dass sie mal rauskommt, passiert das nie."
"Was studierst du denn?", integrierte Kutcher sich geschickt in die Konversation.
"Regie", antwortete sie, dann unterbrach der Kellner das Verhör, der sich ihre Getränkewünsche notierte.
"Auf nach Hollywood?", spottete Philipp, allerdings nicht bissig.
"Eventuell." Ihr Lächeln setzte einen unbeweglichen Punkt hinter das Wort.
Kutcher zuckte die Schultern, womit sich das Thema vorerst erledigt hatte.
Hanna schlürfte ihre Limonade und hörte dem Gespräch zwischen Johnny, Kevin und Max zu. Sie sprachen über League of Legends. Max spürte offenbar, dass sie die Debatte aufmerksam beobachtete. "Sei ehrlich", sagte er zu ihr. "Wie viel von dem, was wir gerade labern verstehst du?"
"Etwa siebzig Prozent. Ich bin zurzeit nicht richtig im Game, weil die Klausurenphase ansteht. Die neusten Champions sind mir komplett unbekannt, aber meine Zuneigung zu League of Legends ebbt nicht ab."
"Zockst du?", hakte Johnny nach.
Sie nickte. "Im Allgemeinen lese ich lieber, dadurch beschränkt sich das Zocken nur auf LoL. Nico und ich haben beide vor etwa sechs Jahren angefangen."
Der Erwähnte drehte sich zu ihnen. "Was ist mit mir?"
"Du, ich, LoL, vor sechs Jahren."
"Exakt", bestätigte er und drehte sich wieder weg.
"Dass Nico das professionell macht, ist ziemlich cool und ich bin froh, dass ich mit dem Spiel damals seiner Empfehlung gefolgt bin." Kevin und Johnny nickten anerkennend.
"Ey, mal was anderes: Hat jemand die Vegetarierseite in dieser Karte schon gefunden?", fragte Max unvermittelt.
"Du bist Vegetarier?" Hanna machte keine Hehl aus ihrem Staunen.
"Erst seit einem Jahr, einfach aus Überzeugung", erwiderte er beläufig, während er das Menü durchforstete.
"Ich auch. Die Karten sind ein bisschen chaotisch. Bei mir gibt's eine Seite mit vegetarischen Gerichten." Sie lächelte ihn warm an, er war in ihrer Gunst gerade gestiegen. "Schau bei mir mit rein."
Als er gezwungermaßen näher rückte, roch sie, dass er in frisch gewaschenen Klamotten steckte. Eine Katastrophe. Hanna liebte keinen Duft so, wie den von frisch gewaschener Wäsche. Sie sog den Geruch automatisch ein. Max bemerkte die Freakshow natürlich und zog belustigt eine Augenbraue hoch. Ihr schoss das Blut in die Wangen. "Du riechst gut", murmelte sie. Gott sei Dank waren Johnny und Kevin beide in die Auswahl ihrer Speisen vertieft und Nico und Kutcher schnackten nach wie vor miteinander, sodass niemand sonst etwas von der Peinlichkeit, die sie sich gerade geleistet hatte, mitbekam.
Max beugte sich vor und schnupperte an ihren bunt gefärbten Haaren. "Du auch", wiederholte er das Kompliment und sein linker Mundwinkel bog sich frech nach oben.

Die nächsten paar Minuten begann Hanna sich mit Nicos Arbeitskollegen, wenn man sie so nennen konnte, anzufreunden.
Max stellte sich als Kapitän des Teams heraus. Er war aus Braunschweig nach Berlin gezogen als sein Channel auf YouTube langsam größer wurde und Freaks4YouGaming, seine Arbeitgeber, ihm die Chose vorschlugen.
Kutcher aka Philipp wohnte weiterhin in Braunschweig und war bloß über das Wochenende zu Besuch in Spandau.
Kevin berichtete ihr stolz von ihrer gemeinsamen Teilnahme an der ESL. Johnny war zwar von ruhigerem Gemüt, plauderte aber trotzdem ab und an mit ihr und warf ein, was Kevin bei seinen Annekdoten versehentlich ausließ. Wie die anderen war er humorvoll und respektierte sie. Keine Selbstverständlichkeit leider.
Die meisten Männer brachten ihr Skepsis entgegen, wenn sie von ihrer Leidenschaft für League of Legends sprach. Etwa dreiviertel aller Gamergirls waren fake und das konnte sie nicht leugnen, schließlich würde sie sich selbst nie als Gamergirl einstufen. LoL war ihre einzig wahre Videospielpassion. Mit vielen anderen Spielen konnte sie nichts anfangen. Es gab in der Regel zwei Sichtweisen, die Männer in Bezug auf sie vertraten: Entweder man misstraute ihr oder man hielt sie für den schlimmsten Geek. Bis zu einem gewissen Grad war Hanna der typische Nerd. Sie umgab sich am liebsten mit anderen Nerds und durch Nico hatte sie nun welche gefunden, die ganz nach ihrem Geschmack waren. Keiner der Jungs machte ihr Ärger. Einerseits. Andererseits bereiteten ihr bei näherer Betrachtung sowieso nur die Kerle Probleme, mit denen sie ausging. Ihr Liebesleben sah im Moment recht mau aus.
"Und sonst? Außer deines Studiums?" Max stellte seine Fragen dermaßen minimalistisch, dass Hanna sie lediglich als kryptisch betiteln konnte.
"Worauf willst du hinaus?", rätselte sie.
"Nichts, gar nichts, ich -", stammelte er.
"Er will wissen, ob du Single bist", unterbrach Kevin ihn unwirsch.
"Halt dein Maul", wehrte Hänno direkt ab. Kevin kicherte.
"Bin ich", meinte sie zögerlich.
Johnny grinste anzüglich und sah abwechselnd mal Hanna, mal Max an.
"Hanna und Hänno sitzen auf 'nem Baum", sang Kutcher amüsiert.
"Ey, Kutcher, dich hat keiner nach deiner Meinung gefragt, ja?", fauchte Max ihn an.
"Entspann dich", lenkte Hanna ein. "Bin ich so ein Albtraum oder was ist los mit dir?", nuschelte sie.
"Im Gegenteil -"
"Mann, Kevin, halt doch mal die Fresse!"
Anscheinend bedeutete Hanna für ihn wirklich die Hölle. Vielleicht konnte er es aber auch einfach nicht leiden, wenn man ihn öffentlich bloßstellte, ohne sein Einverständnis. Das wiederum konnte Hanna nachvollziehen. Und wirklich verneint hatte er etwas Romantisches mit ihr nicht.
"Okay, okay ... Kurwa", murmelte Kevin.
"Wisst ihr schon Bescheid?", schaltete der Kellner sich ein und ihre Aufmerksamkeit verlagerte sich auf das Wesentliche: Das Essen.

"Geiler Scheiß", mampfte Max neben ihr. "Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr asiatisch essen."
"Banause", verurteilte Hanna ihn. "Thai-Essen ist das beste Essen."
"Döner? Oder die vegetarischen Alternativen davon", sah er sie verständnislos an.
"Das ist ein Argument", erwägte sie kurz. "Halloumi und Falafel sind geil. Aber Thai ist besser", streckte sie ihm die Zunge raus.
"Hänno, die Debatte führe ich seit Jahren mit ihr", warnte Nico seinen Kumpel. "Da ist Hopfen und Malz verloren."
"Nee, vegetarische Dönervarianten sind zehntausendmal besser", ignorierte Max ihn.
Kutcher setzte ihrem Zank ein jähes Ende, indem er sie dazu anstiftete, bei einem Solo-Treffen in naher Zukunft beides zu futtern und den Gewinner unter sich auszudiskutieren.
"Auf jeden Fall. Gib mir deine Nummer, wann und wo bestimme ich", schlug Max einen eisernen Befehlston an.
"Bei dir und Nico, heute in einer Woche, gleiche Zeit", stellte sie ihre Forderungen.
"Deal."
Sie besiegelten das Versprechen mit einem Handschlag und Hanna trennte einen Zettel aus ihrem Kalender raus, auf den sie ihre Handynummer schrieb und den Max sofort einsteckte.
"Wir müssen uns auf den Weg machen, sonst verpassen wir den Anfang des Films", ermahnte Nico alle.
"Ich muss pipi", stand Hanna auf und zuckte zusammen, als Max lachte. Es klang hoch und überhaupt nicht maskulin - Es klang nur albern, aber es war verdammt ansteckend.
"Bist du nicht zu alt, um pipi zu müssen?", prustete er.
"Kein Stück", warf sie dramatisch ihre Haare über die Schulter.

Im Badezimmer des Restaurants war das Licht gedimmt. Es passte optisch zu der Stimmung, die Hanna den ganzen Abend schon empfand. Einer gedimmten Stimmung des inneren Friedens und der Geborgenheit im Kreis dieser Menschen. Sie verstand sich ausgezeichnet mit Nicos Freunden. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, dann besonders mit Max. Irgendwie war es schade, dass er so feindselig auf das Necken der anderen reagiert hatte, als sie über eine mögliche Liaison zwischen ihnen herzogen.
Sie marschierte die Treppen nach oben und kehrte zum Rest zurück. Übermütig sprang sie auf Nicos Rücken, der sie ächzend einige Meter huckepack mitschleppte.
"Runter von mir", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
"Laufen ist kacke", schmollte sie.
"Such dir einen anderen Packesel", beschwerte er sich.
"Max", bettelte sie langgezogen.
Er zeigte ihr einen Vogel. "Hast du mich mal angeguckt? Ich bin der übelste Lauch, Alter."
"Aber Max", schüttelte Kutcher enttäuscht den Kopf.
"Trag du sie."
Philipp musterte Hanna. "Na, lass den armen Sola in Ruhe." Sie ließ von Nico ab und nahm stattdessen mit Kutcher vorlieb.
"Du wiegst ja nix", wunderte er sich. "Bist du so schwach, Sola?", boxte er seinen Freund leicht.
"Heuchler, natürlich wiegt sie was", grummelte Nico.
"Komm her", winkte Johnny sie zu sich rüber. Hanna wurde von den Jungs rumgereicht und landete - nachdem Johnny entschieden hatte, dass sie sehr wohl einige Kilogramm auf die Waage brachte, Kevin aber dagegen hielt - bei Max. "Du bist das Zünglein an der Waage, wenn du dich Johnny und Nico anschließt, bin ich fett", konstatierte sie ernst. Gelächter ertönte. "Dort vorne ist das Kino, du musst es nur bis dahin schaffen", sprach sie ihm Mut zu und hüpfte auf ihn rauf.
Innerhalb der nächsten drei Sekunden krachten sie zu Boden. Die Gestürzten sahen sich perplex an. Er war rücklings auf ihr gelandet und von ihr runtergepurzelt wie ein nasser Sack. Dann setzte die Absurdität sich durch und beide brachen in schallendes Lachen aus.
"Fett wie eine Sehkuh", japste Nico schadenfroh, als er ihr aufhalf.
"Das mit dem Lauch war kein Witz", betonte Max und klopfte sich den Staub von der Hose. "Hast du dir wehgetan?", legte er ihr seine Hand auf den Wirbelsäulenansatz.
"Nein, alles in Ordnung", giggelte sie. "Dich frage ich gar nicht erst, du bist weich gelandet."
"Ich war unvorbereitet, ich dachte, du zählst bis drei oder so", lachte er.
Angriffslustig funkelte sie ihn an. "Drei, zwo, Risiko!", zählte sie umgehend ein und wagte einen zweiten Versuch. Diesmal fand Max die Balance und behielt sie auf seinem Rücken.
"Heureka!", freute sie sich und riss eine Faust in die Luft.
Er legte einen Sprint mit ihr bis vor den Eingang des Kinos hin und ließ sie keuchend von sich runtergleiten. "Danke", umarmte sie ihn kurz.
"Bitte", erwiderte er und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr.

Sie schauten einen Action-Film. Glücklicherweise hatte keiner Probleme mit Hannas sarkastischen Kommentaren, die sie vereinzelt und rücksichtsvoll leise fallen ließ. Sie saß neben Nico, aber auf der anderen Seite hockte nicht Max, sondern Kevin, zusammen mit Kutcher. Anfangs hatte es ausgesehen, als wollte Max sich neben sie setzen; er hatte um Sola herumgelukt, als würde er im nächsten Augenblick an ihm vorbeizischen und Hanna von dem Sitz beanspruchen, wo nun Kevin saß.
Doch er hatte zu lange gezögert. Jetzt sah Hanna verstohlen zu ihm, wann immer Nico die Geschehnisse auf der Leinwand absolut fesselten.
Max' Gesicht war schmal. Er hatte eine relativ große Knopfnase und erstaunlich lange Wimpern. Einmal neigte er sich schräg vor und entdeckte, dass sie ihn gedankenversunken observierte. Hanna lächelte schüchtern und heuchelte Interesse an ihren Sneakers. Kurz darauf schob sich ein Stück Popcorn zwischen zwei Fingern in ihr Sichtfeld. Sie nahm es und blickte hoch, in die freundlichen Mienen von Max und Nico. Max' Arm war noch ausgestreckt. Er klopfte sanft auf ihren Bauch. "Wir wollen ja nicht, dass unsere fette Seekuh uns vom Fleisch fällt", flüsterte er.
"Fang", warf sie das einzelne Popcorn in die Nähe seines Munds. "Du Lauch kannst es gebrauchen."
Er scheiterte und der ehemalige Mais landete in Nicos Schoß. "Lasst das gefälligst", keifte er. "Auf Popcorn, das mir im Schritt klebt kann ich verzichten", wurden sie zurecht gewiesen und Nico schnippte das Stückchen in die Reihe vor ihnen.
"Scht!", heischte Johnny sie vom Rand aus an.
"Scht!", imitierte Max ihn affektiert und verpasste ihm eine Nackenschelle, blieb dann aber wirklich still.
Hanna baute keinen neuen Augenkontakt mit ihm auf, gestand sich jedoch ein, dass sie Max süß fand.

"Wollen wir noch was trinken gehen?", schlug Kutcher draußen vor.
"Bin dafür", hob Hanna die Hand, Nico tat es ihr gleich. Kevin, Max und Johnny schlossen sich an. Etwa zehn Minuten später stießen sie auf eine Cocktail-Bar, in der Happy Hour war.
Sie unterhielten sich über den Film. Die Inneneinrichtung bot riesige Sitzsäcke, statt Stühlen an. Hanna fläzte sich wie gewohnt mit Nico auf einen.
"Ich bin pissen, bis gleich", erhob der sich etwas später. Gerade als Hanna es sich allein gemütlich machen wollte, klaute Max seinem Mitbewohner den Platz.
"Na, Han-Chan", piekste er sie.
Sie zuckte unwillkürlich. "Hey!", jammerte sie. "Außerdem nennt mich niemand außer Nico Han-Chan."
"Wieso macht er das?"
"Wir haben Animes geguckt - mitten in der Nacht - und er fand, Han-Chan würde wie Hannchen klingen. Hannchen wurde seine Großmutter genannt, die Hannelore hieß. Hat sich irgendwie durchgesetzt." Sie nippte an ihrem Mai Tai.
"Er nennt dich, wie er seine Oma nennt?", lachte Kutcher.
"Seine Oma ist tot", sagte Hanna trocken.
"Oh."
"Ist sie nicht, ich wollte dich bloß verarschen", zog sie die Aussage zurück.
"Hahaha", lachte er monoton.
"Wie hast du Sola kennengelernt? Wo und wann war das? Lief da was?", löcherte Johnny sie mit Fragen.
"Ih, nein! Das wäre, als würde ich meinen kleinen Bruder daten. Wir hatten in der Oberstufe fast alle Kurse zusammen und haben unsere Freistunden miteinander verbracht", erzählte sie. "Was ist mit euch?"
Alle Blicke der Jungs richteten sich synchron auf Max. "Ich hab Spieler für unser Team gesucht und bin zufällig über Sola gestolpert. Die kennen ihn über mich", erklärte der Captain.
"Max hat übrigens die meisten Abonnenten auf YouTube von uns", teilte Kutcher ihr mit. Sein Kumpel sah ihn genervt an.
"Wie viele?", hakte Hanna nach
"Eine Millionen", murrte Hänno gleichgültig.
Sie spuckte erschrocken ihr Getränk aus.
"Bah, bist du eklig!", lachte Max sie aus.
"Wie bitte?!", hustete sie.
"Du hast bestimmt irgendwo mal von HandOfBlood gehört", äußerte sich Johnny überzeugt.
"Da klingelt was, dumpf. Eine Millionen, das ist Wahnsinn. Nico! Wieso sagst du mir nicht, dass eine Millionen Menschen Max kennen?", tadelte sie ihren besten Freund, der sich wieder zu ihnen gesellte.
"Weil's zur Abwechslung ganz schön ist, dass du mich vorher nicht kanntest", antwortete Max für Nico. Er griff von hinten um sie rum und nahm ihr das Glas aus der Hand. "Anscheinend bist du halb Seekuh, halb Lama", platzierte er ihr Getränk auf dem kleinen Tisch in der Mitte.
"Echt mal, Hanna", fuhr Kutcher sie an. "Nicht spucken: Schlucken!"
"Gott, was hatte ich anderes erwartet von einer Gruppe spät-pubertärer LoL-Süchtiger", seufzte sie.
"Dazu darfst du dich genauso zählen", erinnerte sie Nico.
"Blödsinn, ich bin eine Lady." Um ihre Behauptung zu unterstreichen, rülpste sie.
"Ein Prachtweib!", deklamierte Kevin und hob seinen Cocktail, woraufhin sie anstießen.
"Spandauer, was ist euer Handwerk?!", brüllte Max.
"A-Uh!", dröhnte es im Chor. Ihr sprengte es beinah das Trommelfell.
"Ihr seid solche Idioten", lachte Hanna.
"Noch eine Bemerkung wie die ...", drohte Max.
"Was dann? Wie möchtest du dich rächen, hä?"
"Ich gebe dir einen Cocktail aus. Allein, sodass du mir hilflos ausgeliefert bist."
Hanna lachte herzlich, obwohl die Spannung zwischen Max und ihr förmlich knisterte.
"Nico, kommst du kurz mit raus?", fasste sie ihren besten Freund am Handgelenk. Es gab da eine Sache, die sie in Erfahrung bringen musste. Er trottete treudoof hinter ihr her.
"Was gibt's?"
Sie fuhr sich durch die Haare. "Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mit Max ausginge?"
"Was? Nein. Willst du mit ihm ausgehen?"
"Bitte sag mir nicht, dass der Kommentar gerade typisch für ihn war und das seine Masche ist, um sich Frauen zu angeln."
"Nein, er ist kein Arschloch, keine Sorge. Es ist nur ... Ach, weißt du was? Das soll er dir selbst sagen", wischte Nico den subtilen Einwand beiseite.
"Ni-Chan, hat er einen Haken?", insistierte sie.
"Nein, ich schwöre dir hoch und heilig, er geht in Ordnung", umschloss er ihre Hände mit seinen und legte Vertrauen in die Geste.

Also lehnte sich Hanna an Max, als sie langsam müde wurde und registrierte mit Freuden, wie er einen Arm um sie legte. Die Gespräche der Jungs lullten sie ein ...
"Der Sandmann war da", blinzelte Kutcher in den frühen Morgenstunden zu ihr.
"Wir bringen dich nach Hause, Han-Chan", zog Nico sie auf die Beine. Max stützte sie mit.
Am Ziel angelangt verabschiedete sie sich von allen, drückte jeden und und angetrunken wie sie war verkündete sie: "Kommt mich jederzeit besuchen, bald sind Semesterferien. Nico hat meine Nummer, Max auch. Ruft vorher an!"
"Geht klar", hob Kevin den Daumen. Zustimmung fand er überall.
Die Gruppe trabte los. Max lief besonders langsam und blieb hinter den anderen zurück. Hanna fummelte ihren Schlüssel hervor.
Ihr Name, laut ausgesprochen, ließ sie innehalten. Er hielt sie an der Schulter fest und sie wandte sich ihm zu. "Hm?"
Ratlos trat er vom einen Fuß auf den anderen. "Also, vorhin ... Du bist kein Albtraum. Kevin hat schon Recht, im Gegenteil."
Ihr Mund verzog sich zu einem gewinnenden Lächeln.
"Aber meine letzte Beziehung ist erst seit einem knappen Monat Geschichte. Ich will nichts Voreiliges tun", erklärte er demütig.
Das musste Nico gemeint haben.
"Hänno, jetzt mach hinne!", rief Kutcher aus der Ferne.
"Das kann ich gut verstehen", versicherte Hanna ihm rasch. "Du solltest zu deinen Leuten. Tschüss, Max." Sie raffte all ihre Courage zusammen und küsste ihn flüchtig auf die Wange. Ohne sich noch einmal umzudrehen, schloss sie ihre Tür auf und wankte die Treppen hoch, dösig vom Alkohol, wie betäubt von den Eindrücken des Abends; die aufgehende Sonne, die durch die Fenster in den Korridor flutete, umspülte ihre Silhouette.

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