Kapitel 53 - Ein Turnier über die Frage der mentalen Stärke
Aurelia
September 2022
Manchmal, so habe ich das Gefühl, verfliegen die Ereignisse geradezu in meinem Gedächtnis, kommen mir vor wie ein Traum, wenn ich mich nicht wirklich dazu zwinge, mir einen Moment Zeit zu nehmen, um die Geschehnisse als Wirklichkeit in meinem Kopf zu speichern.
Bei Turnieren war das bislang immer so eine Sache für mich gewesen.
Ich mochte es nie wirklich, Turniere zu spielen und war am Ende des Tages froh, wenn sie einfach rum waren.
Das hier war anders.
Das hier würde mein erstes Turnier seit langer Zeit sein.
Ich hatte die letzten beiden Einzelspiele gewonnen. Nicht nur Dank Henrys, Serenas und Rogers mentale Unterstützung, sondern auch Dank eines Sport-Psychologen, den mir mein Mann wärmstens empfohlen hat, als ich vor drei Monaten ein absolutes nervliches Frack war.
Der Psychologe half. Half mir wirklich gut. Mit meinen Freunden darüber zu reden war das eine. Mit jemanden professionellen nochmal eine andere Sache. Und ich konnte jeden Spieler, der sich je in so einer Situation befand auch nur den Rat geben, sich Hilfe zu suchen. Es brachte Ruhe ins Leben.
Ich hatte tatsächlich das Gefühl, klarer im Kopf zu sein und nicht vor jedem Spiel eine Fluchtmöglichkeit zu suchen.
Ich war gut. Nicht perfekt. Bei weitem nicht.
Aber es reichte, um heute um den dritten oder vierten Platz zu spielen.
Doch trotz aller Unterstützung wollte ein gewisser Anflug von Nervosität einfach nicht vergehen.
Besser machte es die Anwesenheit von Roger, Serena und Henry auch nicht, die mit in einem Zimmer waren und mit mir auf den Beginn des Spieles warteten.
Roger gab mir in einer Tour Tipps zu meiner Gegenerin. Er hat sie wohl bereits spielen sehen uns zählte sie zu den sogenannten "Pushern". Spieler, die hauptsächlich defensiv spielen und sich kaum darum kümmern, schnelle und aggressive Bälle zu schlagen. Wenn man da nicht aufpasste, verlor man sich schnell im Frust, weil der eine oder andere Ball immernoch keinen Punkt erziehlte und anschließend unerzwungene Fehler machte. Ein krasses Gegenstück zu meinem aggressiven Gameplay.
Serena versuchte mich mit Albernheiten wieder zu beruhigen und Henry, der einzige, der meine Lage wohl am ehesten erkannte und helfen wollte, saß auf dem kleinen weißen Sofa neben mir, hielt mit der einen Hand meine fest und streichelte mit der anderen meinen Rücken.
Hin und wieder murmelte er süße Zärtlichkeiten in mein Ohr hinein. Ansonsten blieb er ruhig. Nähe half mir am meisten.
„Offene Fußstellung! Die wird dir auf jeden Fall helfen!" gab Roger grübelnd von sich.
Er stand mir gegenüber. Angelehnt an einem kleinen Tisch, auf dem eine Obstplatte stand.
Ich verdrehte nur die Augen. „Mir würde es schon helfen, wenn ihr diese dämlichen T-Shirts ausziehen würdet!"
Alle drei hatten sie weiße T-Shirts an. Auf der Vorderseite war mein Gesicht. Lachend. Halb betrunken bei der letzten Party.
Darüber stand auf spanisch: Hol dir den Sieg!
Aber auch Mom, Dad und Mikel trugen diese T-Shirts. Immer. Egal wer spielte.
Selbst Kal lief inzwischen mit meinem neuen Halstuch herum, auf dem mein Gesicht war. Und er wollte es einfach nicht wieder ablegen. Egal, was ich auch versuchte.
Das Moderatoren, die jeden Tag von hier aus sendeten, brachten mein lachendes Gesicht also ständig im Fernsehen. Sie interviewten meine Eltern, Roger, Serena oder Henry bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
Das war so peinlich.
Aber egal wie ich flehte, die Shirts blieben dort, wo sie waren.
Und Henrys war dazu auch noch so verflucht eng und anschmiegsam an seinen muskulösen Körper, dass ich mich kaum auf irgendwas anderes konzentrieren konnte, wenn ich nicht gerade spielte.
Roger sah auf seine Armbanduhr. „Es wird langsam Zeit, Relia."
Ich nickte langsam und stand auf. Henry blieb sitzen und sah meinen beiden Freunden nach.
Serena und Roger liefen zur Tür und öffneten sie.
„Gebt ihr uns noch einen kurzen Moment?" Henrys Stimme ließ eigentlich keine Widerworte zu. Auch wenn er es wirklich freundlich und mit einem netten Lächeln sagte.
Serena winkte mit einem Handwedeln ab. Roger dagegen lächelte uns zu. „Klar. Wir sehen uns dann auf dem Spielfeld, Relia."
Ja, das würden wir. Serena und Roger waren gewissermaßen meine Trainer und durften, im Gegensatz zu richtigen Turnierspielen, wo Trainer mit ins Publikum gehörten, mit auf dem Spielfeld sitzen. Direkt neben mir. Quasi als mentale Unterstützung.
Auch wenn die beiden sich häufiger über ihre Kinder unterhielten anstatt übers Spiel zu reden. War aber auch gut so.
Nun erhob sich Henry endlich auch und kam zu mir. Sanft legten sich seine Hände auf meine Oberarme und drückten sie sanft. „Wie gehts dir?"
„Gut." gab ich sofort ehrlich zurück und zuckte dann mit den Schultern. „Aufgeregt. Nervös. Aber alles in allem gut. Ich meine ich habe heute Morgen in Dauerschleife I'm So Excited von den Pointer Sisters gehört, aber es ist alles gut. Der Mental-Couch hat wirklich gute Arbeit geleistet."
Henry schien es zu überzeugen und er nickte sacht. „Sehr schön. Dann scheinst du ja bestens auf das Spiel vorbereitet zu sein. Mental. Physisch." Sein Blick wurde liebevoll. Zärtlich stupste er mit seinem Zeigefinger meine Nasenspitze an. „Ich bin die ganze Zeit bei dir. Steh dir jederzeit zur Seite. Auch wenn ich nur im Publikum sitze."
Glücklich lächelte ich zu ihm auf. „Ich weiß, Cielo. Danke dafür. Auch wenn du und die anderen für diese T-Shirt-Idee noch bluten werdet"
Sein Kopf senkte sich zu mir herab. Sanft küsste er meine Lippen und schenkte mir noch einmal alle mentale Kraft, die er mir geben konnte. „Mach sie fertig, Mrs. Halle-Cavill!"
Bei dem Klang meines Nachnamens, der mir immer noch etwas schwer fiel als selbstverständlich wahrzunehmen, musste ich grinsen. Meine Hände streichelten seinen stahlharten Bauch herab. „Mach ich."
*
Roger hatte Unrecht, was meine Kontrahentin anging. Sie war keine Pusherin. Sie war die Königin der Pusherinnen.
Während ich in jeden Ball all meine Kraft legte, in unterschiedliche Ecken spielte, Geschwindigkeit und Spin wechselte - spielte sie jeden Ball auf die gleiche Weise langsam und ohne jeden Spin tief in die Mitte meiner Seite zurück. Es war zum Verrücktwerden.
Ihre Technik sah furchtbar aus und ihre Körpersprache strahlte fast schon Desinteresse an dem ganzen Spiel aus.
Um so frustrierender, dass sie trotzdem jeden noch so aggressiven Ball von mir bekam, sämtliche Kraft aus dem Ball nahm und dieser dann wieder seelenruhig zu mir zurücksegelte.
Es gab einem das Gefühl, dass alle Anstrengungen umsonst sind. Die Ballwechsel dauerten Ewigkeiten und kosteten Kraft und Nerven.
Ich konzentrierte mich in jeder Pause auf mich selbst. Ich überstürzte nichts. Auch wenn ich der Dame in Gedanken am liebsten den Tennisschläger ins Gesicht geworfen hätte.
Doch schenkte ich ihr nichts.
Nach jedem Ballwechsel kämpfte ich immer und immer wieder. Ich blieb ruhig. Kein Druck. Ich konnte das. Ich hatte nichts zu verlieren. Ich war nicht alleine. Das würde ich nie sein.
Falls sie darauf wartete, dass ich mein eigenes Gameplay aufgab oder ich aus der Puste kam, konnte sie lange warten.
Durch das viele Training mit Henry hatte ich fast die beste Kondition meines Lebens. Dank Serena biss ich mich in jeden Ballwechsel hinein und holte das Beste aus meinem Angriff heraus.
Auch wenn es mühselig war, machte ich unterm Strich mehr Punkte und gewann knapp den ersten Satz.
Als auch der zweite Satz in diesem Schema weiterging, sah ich, wie ihre Fassade langsam bröckelte. In ihrem sonst so teilnahmslosen Gesicht zeigte sich leichter Ärger.
Es ging in ihrem Aufschlagspiel gerade um den zweiten Punkt, als sie mich aus heiterem Himmel mit einem überraschend scharfen Ball weit zur Seite drängte, um anschließend mit einem Volley den Punkt zu machen.
Elender Mist!
Ich sah zu meinen Unterstützern. Henry sah mich erschrocken und besorgt an. Er war wohl nervöser als ich und sprach sich sogleich mit Sascha ab, der neben ihn saß. Er wirkte entspannt. Genau wie Djoko und Maria Sharapova. Djoko tätschelte nur Henrys Schulter. Ich meinte ein "Die wird sie locker fertig machen." auf seinen Lippen lesen zu können.
Dann würde ich sie nicht enttäuschen wollen.
Roger und Serena auf der Trainerbank lächelten mir nur wissend zu. Auch wenn der Punkt an meine Gegnerin ging, so hatte ich den Erfolg erzielt, sie aus ihrer Comfortzone zu zwingen.
Ich ging zurück auf meinen Platz und sprang ein wenig auf der Stelle. Lockerte die Hüfte und rückte die Saiten meines Schlägers nochmal zurecht.
Atmen.
Du packst das.
Bleib ruhig.
Du bekommst das hin!
"Los, Auri!" hörte ich plötzlich Henry aus dem Publikum rufen. Ich konnte nicht anders als zu lächeln. Wenn ich jetzt zu ihm sah, warf's das mit meiner Konzentration. Also blickte ich weiter auf meine Saiten herab und sprang meine Hüfte warm, während meine Gegnerin den Ball einige Male auf den Boden aufsprangen ließ.
Doch dann wurde das Jubeln, die Zurufe meines Namens und die Zusprüche immer lauter. Henry hatte einen Sturm der Motivation im Publikum ausgelöst.
"Auri!"
"Los, Mädel! Mach sie fertig!"
"Los, Löwenherz!"
"Aurlia!"
"Hol sie dir!"
Ich konnte kaum beschreiben, was das in mir auslöste. Es fühlte sich so unheimlich motivierend so unterstützend und berührend an. Sie verliehen mir Flügel. Mein Herz schlug vor Aufregung los. Aber nicht vor panischer. Ich wollte das hier mehr als etwas anderes in diesem Moment.
Sie gab ihre stoische Defensive immer mehr auf, was mir aber eher noch mehr Möglichkeiten gab, Punkte zu machen.
2:1
3:1
4:1
Ich jagte über das Feld und spielte sie aus. 5:1. Schweiß lief über meinen ganzen Körper und allmählich verstand ich, wieso Nadel gerne vier oder fünf Wechselshirts bei Turnieren mitbrachte.
Meine Schweißbänder an den Handgelenken waren pitschnass. Aber das störte mich absolut nicht.
Das Jubeln wurde noch lauter.
Meine Gegnerin setzte zum letzten Aufschlag an. Er flog blitzschnell in mein Feld hinein. Doch ich schenkte ihr keine Panik. Nicht jetzt, wo ich so kurz davor war.
Ich nutze meine Schwung und schoss ihn ihr an die äußerste Kannte des Spielfeldes zurück. Sie tat es mir gleich.
Ich musste blitzschnell sein, um ihn zu erreichen und erneut rüberzubringen. Aber ich schaffte es. Dank Henrys Fitnesstraining, hatte sie keine Chance mir den Ball irgendwo ins Feld zurückzuspielen, ohne das ich ihn nicht bekommen würde.
Doch der Wechsel wurde länger. Immer länger und die Nerven wurden dünn. Doch ich hörte nicht auf die Gedanken, die sich anschlichen. Das war mein Moment. Mein Spiel. Mein Leben! Ich ließ mich nicht blenden. Ich blieb im hier und jetzt und setzte den Rückschlag an.
Ich ließ sie rennen, ich jagte sie über das Feld und schoss meinen Ball so scharf und schnell an die Ecke des Feldes, dass sie nicht mehr heran kam.
6:1
Fuck. 6:1.
Fuck. Fuck. Fuck.
Das Jubeln wurde so laut, dass ich anhielt und ins Publikum sah.
Ich. Hatte. Gewonnen.
Die Zuschauer standen von ihren Platzen auf.
Ich sah Mum und Dad sich umarmen. Mikel grinste breit und rief meinen Namen quer durch die Meute zu.
Serena und Roger hatten sich auch von ihren Plätzen erhoben und applaudierten.
Fuck.
Oh verdammte Keule!
Ich hatte noch nie zuvor so gewonnen. Nicht so. Voller Freunde. Voller Stolz. Sicherheit und Ruhe.
Ich. Hatte. Gewonnen.
In meinem Hals tat sich der dickste Kloß meines Lebens auf.
Wann genau war das passiert?
Ich sah erneut zum Publikum um Henry zu finden, doch in der Masse der Leute konnte ich ihn nicht erkenne.
Ich spürte die Tränen in meinen Augen aufkommen. Wenn ich nicht schnellstens ans Netz ging, um mich bei meiner Gegnerin zu bedanken, würde ich den wohl größten Heul-Skandal der Tennisgeschichte verursachen. Und das wollte ich nach der T-Shirt-Aktion nun wirklich nicht.
Also nahm ich das letzte bisschen meiner Schauspielfähigkeiten zusammen, lächelte und lief zum Netz.
"Du warst klasse, Auri. Es war ein wirklich schönes Spiel. Verdient gewonnen!" sagte meine Gegnerin mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen.
Wir schüttelten uns die Hände. "Ich kann das alles nur an dich zurückgeben." erwiderte ich ihre Worte und ließ ihre Hand los.
Sie schenkte mir ein letztes Grinsen, ehe sie sich umdrehte und ging - und ich es ihr eigentlich gleichtun wollte.
Doch bevor ich mich umdrehen konnte, packte plötzlich mich jemand bei den Oberschenkeln und riss mich nach oben.
Ich schrie vor Entsetzen auf und verlor meinen Schläger, der schallend auf den Boden aufkam.
Bis ich erkannte, dass es sich bei den Übeltäter um Henry handelte, war es schon fast zu spät.
Die Fotos würden eindeutig morgen durch sämtlich Klatschpressen gehen. Titel "Ehemalige Profispielerin gewinnt Spiel und erschreckt sich danach zu Tode, als ihr Ehemann sie hochnimmt". Oder es wird durch die Presse gehen, dass wir uns doch irgendwo still und heimlich geheiratet haben. Schließlich hatten wir beide heute unsere Ringe in der Öffentlichkeit an.
Ach, was interessierte mich die Presse!
Scheiße, ich hatte gewonnen!
Genau diese Worte verwendete ich als Henry mich einmal um uns selbst drehte und mir anschließend den wohl besten Kuss meiner Tenniskarriere schenkte.
"Hast du!" sagte er voller Stolz und schenkte mir einen zweiten Kuss, in den ich dieses Mal komplett eintauchte.
Mich störten die Kameras nicht. Mich störten das Jubeln und die Zurufe nicht. Mich störte es nicht, was morgen über uns in den Zeitung stehen würde. Welche Idioten das wieder als Fake bezeichnen würden. Sie taten mir nur leid.
Aber jetzt gerade, zählte für mich nur dieser Mann, der mich zu der besten Version meiner Selbst gemacht hatte. Und ich würde ihn nie wieder gehen lassen - genau wie das Gefühl absolut geliebt zu werden.
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