Kapitel 35 - Das Leben in London

Aurelia


2 Wochen später

Ich vermisste Madrid unheimlich. Vor allem so richtig, als Henry und ich in Österreich angekommen waren für weitere Aufnahmen der Witcher Serie.

Ich vermisste das Wetter. Ich vermisste die Leute. Ich vermisste das Essen und auch meine Wohnung, die zwar klein war, aber immer noch größer und gemütlicher als Henrys Trailer.

Manchmal vermisste ich es wirklich ein normales Leben zu haben. Eben mal nicht aus den Koffern zu leben, sondern in einer Wohnung seine Zeit verbringen.

Ich hatte unsere gemeinsame Woche in Madrid so genossen.

Doch nun waren wir zurück im Alltagsleben angekommen. Henry drehte, ich begleitete ihn ans Set, passte auf Kal auf, suchte mir einen Tennisplatz in der Nähe oder versank in der Arbeit am Laptop.

Ich war ungeheuer froh, dass die Dreharbeiten in Österreich nur etwas eine Woche dauerten. Vier weitere Tage reisten wir nach Tschechien, ehe es endlich zu Henry nach Hause ging.

Mir tat er unheimlich leid. Henry wollte alles managen. Er wollte für alle sein und das Beste aus der Serie rausholen. Nur traf er dabei immer wieder auf Unverständnis. Er kämpfte wie ein Löwe darum, dass sich die Schreiber an den Büchern und Spielen orientierten. Aber viel zu oft wurden seine Ideen abgelehnt.

Er war frustriert und genervt und es dauert lange, bis er zu seiner guten Laune wiederfand.

In London hatten wir mindestens einen Monat Ruhe, in denen wir uns auch nichts anderes als eine Auszeit gönnten, weder verreisten noch irgendwas großes planten. Erst danach hatten wir uns einen Urlaub auf Madagaskar gegönnt. Im Dezember würde es erst für Henry auf Premierentour der zweiten Staffel Witcher gehen.

Ich hatte auch eine Einladung erhalten für die Premiere und auch für eine Talkshow, in der Henry die zweite Stafel vorstellen sollte. Wobei meiner Einladung zur Show sich offiziell um die Dreharbeiten zur neuen Staffel von Throne of Glas handelt. Indirekt, so wussten Henry und ich es längst, war es wohl nur eine versteckte Anfrage zu einem Pärchen Interview. Auch wenn Tom Holland und seine inoffizielle Freundin Zendaya auch eingeladen waren. Welch Zufall.

Aber wir beide sagten zu.

Auch wenn das Interview in den Staaten stattfinden würde. Weit weg vom heimischen Spanien.

Hatte mich etwa das Heimweh erwischt?

Ich hoffte nicht. Normalerweise liebte ich es doch zu reisen und neue Dinge zu entdecken.

War ich etwas seßhaft geworden?

Womöglich. Denn als Henry und auf sein Grundstück in London führ, überwältigte mich das Gefühl von Heimat. Obwohl ich noch nie hier war.

Sein Haus war abseits Londons und recht abgelegen. Was aber dem Haus nichts annahm. Es war ein schönes weißes Landhaus. Äußerst gepflegt und gemütlich.

An seinem Haus waren noch zweite Haus angebaut. Im typischen englischen Baustil. Ansonsten gab es nur einige Bäume und Sträucher.

Kein großer Luxus. Alles war so ländlich und idyllisch.

Das perfekte Paradies für Kal um den ganzen Tag zu toben.

Im Hausinneren ging es ähnlich weiter. Cremefarbene Wände, helles Parket und gemütlichen ländlichen Möbeln. Alles in Maraghoni-Holz gehalten.

Nur die Küche war im modernen Stil gehalten. Genau wie sein Hobbyraum. Sein Bastelraum oder wie ich es nennen würde, der Zockerraum.

Trotzdem gefiel es mir hier äußerst gut. Während Kal durch die Zimmer tobte und am Ende sich im Wohnzimmer niederließ, zeigte mir Henry alles in Ruhe und erklärte mir auch viel. Wahrscheinlich auch, weil überall Fotos hingen, über die ich mehr wissen wollte.

Ex-Freundinnen sah ich nicht. Aber dafür viele mit seinen Brüdern und mit seinen Freunden.

Ein Gesicht war dabei relativ häufig zu sehen.
Ein junger Mann, der mich ein wenig an mein Bruder erinnerte. Zumindest vom Gesicht her. Auch wenn dieser Mann deutlich schmaler und dünner war. Und mindest ein Kopf kleiner war als Henry.

„Der Typ ist der Grund, warum mich manchmal Zeitungen als heimlich schwul betiteln." Erklärte mir Henry und zeigte auf ein Bild, auf dem der Mann ihn auf die Wange küsste und Henry mit großen freudigen Augen direkt in die Kamera sah. „Corey Spears, mein Kumpel seit vielen vielen Jahren. Er lebt sein Leben als Homosexueller wirklich gerne öffentlich aus, was auch absolut richtig ist. Nur hatte das auf meinen Ruf halt eine komische Wirkung gehabt. Ich musste mich schon das ein oder andere Mal erklären." erzählte Henry mit einem Grinsen auf den Lippen.

Ich hob nur eine Braue an. „Also zum einen, kann ich dir absolut bestätigen, dass du nicht schwul bist. Das erlebe ich nun bei jeder sich bietende Gelegenheit. Zum anderen, weiß ich ganz gut, wie es dir da geht. Mikel ist bisexuell. Er verliebt sich nicht in das Geschlecht, sondern in den Menschen. Das ist aber er. Ich nicht. Trotzdem meinten einige Zeitungen das Gegenteil. Im Prinzip war's mir egal. Ich meine, ich habe nichts gegen die gleichgeschlechtliche Liebe. Ja, ich glaube sogar, dass jede sich mal auf ein Experiment mit dem gleichen Geschlecht einlassen sollte."

Ich sah es in Henrys Blick. Die Vorstellung. Ich mit einer anderen Frau. Und mit ihm.

Sofort verengte ich die Augen. „Denk nicht mal dran, Cavill! Erfahrungen sammeln, ja. Aber dich teile ich nicht!"

„Schade!" grunzte er erheitert und streichelte mir versöhnlich über den Rücken.

Er zeigte mir noch paar Bilder seiner Familie, bevor er mir sein Schlafzimmer zeigte.

Das Bett war mal ... groß. Und rustikal. Was mir allerdings noch mehr ins Auge stach war der Spiegel, der so stand, dass man sich vom Bett aus beobachten konnte.

„Den habe ich erst vor zwei Wochen kommen lassen." erklärte Henry und grinste mich vielsagend an. „Ich dachte, nachdem dir der Fahrstuhl so gut gefallen hat, würde dir das hier noch besser gefallen."

Unweigerlich dachte ich sofort an den Fahrstuhlsex. Und auch wie wirklich gut es mir gefallen hatte, zuzuschauen, während Henry ... Mein Mund wurde staubtrocken.

Ich nickte nur stumm.

Henrys Grinsen wurde noch größer. „Ich hab auch neue Matratzen liefern lassen. Deine in Madrid haben mir wesentlich besser gefallen und mich besser schlafen lassen. Also habe ich sie nachbestellt. Damit du dich hier vielleicht noch ein bisschen wohler fühlst und naja" Sichtlich unwohl kratzte sich Henry am Hinterkopf. „Ich dachte, dass du ... es vielleicht auch lieber hast, wenn hier alles neu ist und nicht an ... die Vergangenheit erinnert."

Jetzt war ich tatsächlich beeindruckt. „Du wolltest nicht, dass ich auf der selben Matratze wie deine Ex-Freundinnen schlafe?"

Er nickte und ich lächelte zufrieden. „Das wäre zwar nicht nötig gewesen, aber trotzdem Danke dafür." Rasch stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste seine Wange. „Auch für den Teil mit dem Wohlfühlen und dem Fahrstuhl. Du bist sehr aufmerksam."

Er fand zu seinem Lächeln zurück und nahm mich in den Arm. „Willst du vielleicht ein Bad nehmen? Oder erst mal ankommen? Wollen wir uns ein bisschen hinlegen?"

Meine Arme schlangen sich um seine Mitte, während ich das Gesicht an seiner Brust versteckte. „Kommst du mit in die Wanne?" fragte ich vorsichtig nach.

Ich hörte es über mich Kichern. „Ich glaube nach dem Flug und der Autofahrt, könnte ich auch ein Bad vertragen. Ich würde vorher aber noch mit Kal eine Runde drehen, ein bisschen überschüssige Energie verbrennen, bevor er wieder wie ein junger Welpe mir durch die Wohnung springt."

Bei dem Gedanken musste ich auch schmunzeln. „Spazieren klingt auch gut."

Auch wenn es für Oktober inzwischen ziemlich kühl und inzwischen auch um die Uhrzeit schon fast dämmerte. Aber Kal nachher auch mit im Badezimmer zu haben, war definitiv keine Option.

Also musste der warme Herbstmantel an.

Henry und ich gingen eine wirklich große Runde. Da sein Haus im Grünen lag, konnten wir einen ausgiebigen Spaziergang über Felder, Wiesen und einen angrenzenden Wald machen.

Und ich musste zugeben, dass das mich tatsächlich mehr beruhigte und mich ankommen ließ, als es vielleicht das Bad getan hatte.

Die Luft war schön frisch und wirklich schön angenehm. Auch wenn Henry sich bereits eine Mütze aufsetzten musste und wir beide die dicken Schals umgelegt hatten, weil uns doch recht frisch war.

Während Kal durch die Felder tobte und Henry ihm immer wieder einen Ball Meterweit zuwerfen musste, ging wir zu zweit durch die schmalen Landwege, gingen Hand in Hand und genossen die Ruhe, die sich uns bot.

Wenn nicht gerade Kal vor Freude über einen gefunden Ball laut bellte.

„Gefällt es dir bis jetzt?" fragte mich Henry irgendwann und holte mich damit aus meiner kleinen Gedankenlosen Blase heraus.

„Was? Oh, ja. Ich mag die Ruhe hier unglaublich."

Henry zog vielsagend die Brauen in die Höhe. „Dann meinst du, du wirst es hier noch eine Weile mit mir aushalten?"

Ich grinste verliebt, blieb stehen und sah zu ihm auf. „Henry, ich würde es überall mit dir aushalten. Das hier ist perfekt. Für uns beide. Für uns drei."

Henry lächelte zufrieden, während Kal mit dem Ball zu Henry und mir zurücklief und freudig vor uns stehen blieb.

„Du vermisst nicht die Sonne?"

Ich schnaufte belustigt auf und nahm nun auch seine zweite Hand in meine. „Wie ich gerade sagte; ich halte es überall mit dir aus. Und nach diesem wirklich schönen Sommer in Spanien, freue ich mich auf einen regnerischen Herbst in England. Wobei zwei Wochen Strand, Meer und Schnorcheln zwischendurch auch nicht übel klingen. Ich freu mich auf alles mit dir."

Hatte ich je einen verliebteren Blick in seinem hübschen Gesicht gesehen? Also noch verliebter als sonst?

Unsere Gassi-Runde war wirklich groß und wir kamen erst wieder an als es längst finster draußen war. Aber wir hatten Kal ausgepowert.

Müde begab er sich ohne weitere Spielversuche zu seinem Korb im Wohnzimmer und schlief ein.

In der Zeit ließ Henry uns eine Wanne ein und ich hatte noch kurz Zeit mir den Rest an Schminke aus dem Gesicht zu wischen.

Doch auch uns hatte die Reise und der lange Spaziergang erledigt. Wir hatten uns gerade in die Wanne gelegt, als wir beide schon fast eingeschlafen waren.

Irgendwann als das Wasser schon fast kalt war, wurde Henry wach und beendete die Badezeit.

Wir krochen beide in sein Schlafzimmer. Wobei mich der Anblick des Spiegels fast schon wieder wach machte.

Henry hatte wirklich eine gute Auffassungsgabe. Nicht mal ich wäre drauf bekommen und einen Spiegel zu besorgen. Dabei ... gefiel es mir wirklich gut.

Und er stand wirklich verführerisch gut da.

Ich zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich Henry hinter mir stand. Genauso nackt wie ich. Liebevoll küsste er meine Schulter. Sein Atem kitzelte mein Ohr. „Willst du ihn ausprobieren?"

An meinem Rücken spürte ich bereits, dass er sich willig dafür zur Verfügung stellen würde. Ziemlich willig.

„Ich dachte, wir beide sind müde?"

Er grinste an mein Ohr und bewegte die Hände über mein Bauch abwärts zu meinen Po und meinen Schenkel. „So gesehen musst du nichts machen, Darling. Du musst nur zusehen. Um den Rest würde ich mich opfern. Dafür, dass wir danach beide wesentlich besser schlafen können."

Alleine seine tiefe Stimme flüsternd in meinem Ohr, erregte mich unglaublich.

Daher musste Henry nicht allzu viel weitere Überzeugungsarbeit leisten. Eigentlich gar keine mehr.

Ich wirbelten in seinen Armen herum und sprang an ihn nach oben. Küssend fielen wir auf sein Bett und sorgten dafür, dass sowohl der Spiegel seinen Aufhaltsberechtung erhielt als auch, dass wir beide danach rasend schnell in den Tiefschlaf glitten.

*

Das Team-Meeting mit Dad, seinen beschäftigten Tennistrainern, Mikel, Mom und mir, hätte trockener nicht sein können.

Das lag jedoch daran, dass Dad nicht nur ein Sportmann sein könnte, sondern auch ein Geschäftsmann. Und wenn es um Zahlen, Organisation und wie man doch noch etwas mehr aus dem Tennisplatz herausholen konnte, galt Dad als absolutes Genie.

Und so gingen wir, wie jedes Quartal die Besprechungen für die Trainingspläne, neue Kunden und besser Maßnahmen zu den Trainingsstunden durch.

Gott sei Dank, gab ich nur wenige Trainingsstunden im Jahr, sodass ich die meiste Zeit auf Durchzug stellen konnte.

Doch dann erregte etwas meine Aufmerksamkeit.

Auf Dads eingeblendeter Power Point war ein neuer Punkt aufgepoppt.

Benefit-Veranstaltungen 2022.

„Wie ihr ja wisst", begann Dad in englisch und schlug bei sich Zuhause am Schreibtisch eine Seite in seinem Skript um, „Möchte Sascha Zverev nächstes Jahr gerne auf unseren Platz seine, bisher noch geheimgehaltende Benefitsveranstaltung bei uns durchführen."

Ich hob erstaunt den Kopf an.

„Er möchte nächstes Jahr im August gern seine Diabeteserkrankung veröffentlichen und plant kurz danach mit allerlei großen Namen eine Tennis-Veranstaltung, deren komplette Einnahmen in seine Stiftung für Diabetes erkrankte Kinder gehen soll. Er wird allerlei berühmte Spieler einladen und es wird auch live im Fernsehen zu sehen sein.
Wir werden ab November daher anfangen unsere Anlage Zuschauertauglich zu machen. Das Buget dafür haben in den folgenden Seiten aufgelistet.
Mikel, Aurelia, ihr musstest euch entscheiden, in welchen Kategorien ihr spielen wollt."

Moment mal! Was?

Ich verlor komplett die Verfassung. „Wer hat denn Bitteschön beschlossen, dass ich live im Fernsehen spiele?"

Jetzt sahen sie mich alle an. Vor allem Dad, für den meine Erschrockenheit wohl ziemlich unvorhersehbar war. „Reli, wir dachten, dass es für dich außer Frage stand, dass du nicht mitmachst."

„Dad, ich hab den Turnierspielen nicht ohnehin den Rücken gekehrt! Kameras, Publikum ... all das macht diese Druck-Problem nicht besser!"

„Aber, Mäusle!" mischte sich nun auch noch Mum ein. „Desch mit dem Schauspielern klappt doch au."

Ich redet weiterhin auf Englisch weiter. „Weil mit die einzige Sache ist, in der ich noch nie das Gefühl von Druck gespürt habe. Deshalb. In ich gut darin."

„Du bist auch eine Weltklasse Tennisspielerin, Aurelia!" sagte mein Vater mit ernster Stimme und nickte. „Es ist kein Wimbledon. Kein Grand Slam Turnier. Das hier soll Kindern helfen und durch euch berühmten Spieler genügend Leute anlocken, damit eine ordentliche Summe für Saschas Stiftung zusammenkommt."

„Ja, aber"

Er ließ mich nicht ausreden. „Aurelia, dir ist es wichtig, anderen Kindern zu zeigen, dass man trotz einer Angst oder eines Körperlichen Unterschiedes sich nicht unterkriegen soll. Das wäre wieder eine Chance es zu zeigen. Gerade bei einer solchen Sache. Du hast es trotz deiner Größe und deiner Angst vor dem Druck geschafft Platz 87 zu werden."

„Das mag ja sein, Dad." versuchte ich mich zuerklären. „Aber will anderen ja auch kein Beispiel dafür sein, unter Angst spielen zu müssen."

„Aber du liebst den Tennis!" sagte Dad mit ernster und zugleich fürsorglicher Stimme. „Es geht um den Spaß und im die Kinder, Relia. Um nichts anderes. Überleg es dir bitte nochmal. Roger, den wir heute morgen davon erzählt haben, wollte sofort, dass ihr beide im gemischten Doppel spielt. Da wärst also nicht alleine."

„Ich denk drüber nach." sagte ich rasch. Ich wollte das hier nur noch beenden.

Der Rest des Meetings verging wie im Rausch für mich. Wieso hatte Dad einfach so zugesagt? Er wusste doch auch, dass ich mich nicht gut bei solchen öffentlichen Spielen fühlte?

Andererseits hatte er ja auch Recht gehabt, mit dem was er gesagt hat. Vorbild für andere.

Als das Meeting beendet war, stand ich auf und stürmte in Henrys Schlafzimmer, zum Schrank, in dem er mir dankenswerterweise ein paar Fächer frei gemacht hatte.

Ich musste raus. Ich musste mir einen freien Kopf machen.

Allerdings war es für mich doch schwierig mir einen freien Kopf vom Tennis zu machen. Ausgerechnet von der Sache, die mir sonst immer half von anderen Dingen den Kopf frei zu bekommen.

Also Joggen. Und bei Gott, ich hasste Joggen mit jeder Faser meines Körpers. Auch wenn ich nach dem Laufen immer glücklicher war als davor.

Ich zog mir meine Tennisschuhe, eine dunkle Jogginghose und einen dickeren ebenfalls schwarzen Pullover drüber. Fehlte nur noch das Handy, Kopfhörer und ein Basecap.

Da ich bisher noch nicht viel Ahnung von der Umgebung hatte und auch nicht vor hatte mich zu verirren, ließ ich über meine Fitnessapp den Weg aufzeichnen.

Man wusste ja nie. Vor allem nicht in dieser doch recht ländlichen Gegend.

Dann lief ich los. Weiter und weiter.

Ich hatte mir gemerkt, wo Henry und ich mit Kal Gassi laufen gewesen waren und folgte den Weg über die Felder. Hinein in den Wald.

Ich wurde immer schneller. Ich dachte nicht an den aufkommenden leichten Schmerz in meinem Knie, der mich nun seit Jahren schon begleitete.

Ich dachte nur noch an das Spiel.

Ja, Dad hatte ja recht.

Ich könnte etwas bewirken. Ich könnte zeigen, dass man genau wie Sascha mit seinen Diabetes, so vieles erreichen kann.

Aber dieser Spruch „Man kann alles erreichen, wenn man es nur will" hatte gerade für mich so einen bitteren Nachgeschmack.

Ich wollte Tennisprofi werden. Ich hatte es erreicht. Aber mit welchen Folgen? Ich hasste das Gefühl von Erfolgsdruck. Ich war kurz daran zu verbrechen. Ich hatte mich durch die Jahre gequält, um mein Ziel zu erreichen. Und? Ich hatte trotzdem irgendwann das Handtuch geworfen. Weil es für mich gesünder war. Weil ich das Gefühl hasste, wenn ich in Panik geriet, wenn ich unbedingt siegen wollte, aber Angst hatte zu Versagen.

Wollte ich das anderen präsentieren? Erlebt eure Träume, auch wenn es euch psychisch kaputt machen kann?

Meine Geschwindigkeit wurde immer schneller und ich raste über den matschigen Boden, der vom letzten Regen am gestrigen Abend noch nicht vollständig wieder getrocknet war.

Beim Schauspielern hatte ich nie dieses Gefühl. Angst vorm Versagen. Deshalb liebte ich es auch so. Weil es so einfach war. Weil es mir einfach so von der Hand ging. Ich wusste, dass ich gut war. Fehler gehörten dazu. Immer. Ich war nicht perfekt. Aber das war genau in diesem Job auch gut so.

Wieso konnte ich es dann nicht auch beim Tennis anwenden?

Beim normalen Tennis-Training hatte ich nie das Gefühl schlecht zu sein, auch wenn ich wesentlich härter und mehr an mir arbeiten musste als andere Spieler.

Immer nur in Turnieren.

Wobei ich beim Spiel mit Roger wirklich fast schon entspannt war. Dank Henry.

Ach, es war zum verrückt werden.

Weiter und immer weiter trugen mich meine Beine. So schnell, dass mein Atem immer lauter wurde. Alles in mir lief auf Hochtouren. Ich trieb mich immer weiter an mein Limit.

Aber genauso brauchte ich es jetzt auch. Mich ans Limit bringen. Spüren wie weit ich gehen konnte.

Wie weit ich noch im Stande war zu kommen.

Und das fühlte sich gerade fanatisch an.

Je schneller ich wurde, je weiter mich meine Füße trugen, umso gelöster waren meine Gedanken. Sie flogen mit jedem Schritt weiter fort wie Herbstblätter im Wind.

Ich zeigte mir selbst was ich konnte. Zu was ich im Stande war. Ich war schnell wie der Wind.

Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und atmete erleichtert ein und aus - und landete sofort im Matsch.

Na super!

Zwar tat der Sturz nicht sonderlich weh, doch dafür sah ich jetzt aus als hätte ich mit einem Schwein in den Ring gestiegen.

Ich stand langsam auf und versuchte wenigstens etwas vom Schlamm an meiner Hose abzubekommen. Vergeblich.

Ich brummte auf - bekam aber auch nicht mehr das Schmunzeln aus dem Gesicht. Entweder stand ich jetzt endgültig vorm Verrücktwerden oder ich verstand dann doch endlich, wie winzig klein meine Probleme wirklich waren.

Ich bin hingefallen. Stand wieder auf. Und war bereit weiterzumachen.

Warum also nicht auch beim Tennis? Ich verlor. Ich machte weiter. Was kostete es mich? Das Preisgeld?

Nein. Darauf musste ich mich schon lange nicht mehr fokussieren. Dafür war ich in meinen richtigen Job inzwischen zu erfolgreich.

Was kostete es mich daher nicht doch mitzumachen? Aus Spaß. Weil Tennis mir Spaß machte.

Grinsend zog ich mein Handy aus meinem Pullover und schrieb Dad, dass ich mitmachen würde. Im Einzel und im gemischten Doppel. Meinen Partner würde ich mir aber noch überlegen.

Mit Roger zu spielen war gut. Wirklich gut.

Aber vielleicht wollte ja auch Sascha mit mir selbst spielen?

Zurück kam ein 🥲👍🏻 von Dad und, dass er mich sogleich bei Sascha als gesichert melden würde!

Mit diesem überglücklichen Gefühl lief ich zurück nach Hause.

Und ich kam genau perfekt. Henry war gerade angekommen. Kal sprang ihm gerade aus dem stehenden Wagen, sah mich, bellte auf und kam auf mich zugerannt.

Wirklich gerannt. Als würde ich eine Festtagstafel mit allen Hunde-Leckerlis der Welt sein.

Fuck.

„KAL!" hörte ich Henry noch rufen, aber da hatte mich der American Akita längst umgerissen. Mit einem erschrockenen Laut, landete ich auf der Wiese. Wieder im Matsch.

Seine kalte nasse Zunge wischte mir einmal komplett durchs Gesicht. Ich versuchte ihm noch von mir runterzuschieben. Aber der Rüde hatte in etwa das selbe Gewicht wie ich. Vergebens.

Er war über mir aufgebaut und gab mir zu verstehen, wie sehr er mich vermisst hatte.

„Geh runter, Kal! Ich hab dich ja auch vermisst. Du-" versuchte ich noch zu sagen, aber da hatte Kal auch schon den Kopf angehoben und sich zu seinem Herrchen umgedreht, der wütend auf uns zustopfte.

Kal schien dessen Gesichtsausdruck nicht zu interessieren. Mit herausgesteckter Zunge und einem zufriedenen Blick bellte er Henry an. Guck mal, sie ist wieder da! Und jetzt kann sie auch nicht mehr weg!

„Was machst du denn, Bär?" hörte ich Henry schwer seufzen und zog den Hund von mir herunter.

Er bot mir eine Hand an, die ich sofort entgegen nahm und aufstand.

„Du sollst sie nicht umreißen! Hat das nicht schon mal besser funktioniert?"

Als würde Kal wirklich verstehen, was sein Herrchen von ihm will, senkte er die Ohren etwas und wirkte nicht mehr ganz so überglücklich. Er sah mich an. Sah ich da eine Entscheidung in seinen Augen?

Nein. Ganz unmöglich.

Henry seufzte erneut auf, sah mich dann aber wieder an. Sein Blick wirkte traurig. „Hat er dir wehgetan? Du bist ja ganz dreckig geworden."

„Nein, alles gut. Der Rasen war weich. Und dreckig war ich vorher schon." winkte ich grinsend ab.

„Wo warst du denn? Ich dachte, du hast ein Meeting mit deinen Eltern?"

Seine Stimme klang wie flüssiger Honig.

Mir wurde warm.

Henry war kein Freund von den Duschen in den Fitnessstudios. Weshalb sein Haar noch feucht vom Schweiß war. Eine lockige Strähne fiel ihm in die Stirne. Seine Wangen waren von der Kühle des Oktobertages gerötet.

Doch es waren diese tiefblauen Augen, die meinen Bauch einen Purzelbaum machen ließen.

Die Augen, die mir bis auf den Grund meiner Seele sehen konnten.

„Auri, was ist los?" hörte ich ihn leise fragen. Seine Hände legten sich auf meine Oberarme.

Die Erkenntnis, dass dieser hinreißende Mann mir gehörte, traf mich erneut so sehr, dass ich drohte, von der Welle meiner Gefühle erneut umgerissen zu werden.

Konnte ich mich eigentlich noch mehr in diesen Mann verlieben als ich es ohnehin schon war?

Ich preschte auf meine Zehenspitzen und legte die Hände auf seine Wangen. Meine Lippen trafen auf seine.

Sein Mund gab mir Einlass und unsere Zungen trafen hungrig aufeinander. Da war jemand in der selben Stimmung wie ich.

Ich sprang zu ihm auf und schlang die Beine um seine Mitte. Sofort packten seine Hände mich an meinen Oberschenkel ohne unseren Kuss zu unterbrechen.

Alles in mir verzerrte sich nach ihm. Mein Kopf, mein Bauch und meine Weiblichkeit brannte in einem Inferno nach ihm lichterloh auf, weshalb ich das Becken fordern an ihn drückte.

Henry grinste an meinen Lippen und steuerte auf das Haus zu. „Habe ich schon mal gesagt, dass ich es liebe so begrüßte zu werden?"

Ich sah in seine unergründlichen blauen Augen und feixte wie ein verliebter Teenie. „Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie sehr ich es liebe, dass du einfach nur du bist?"

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