Kapitel 34 - Torschlusspanik

Henry


Am nächsten Morgen ging es mir endlich besser. Mein Magen fühlte sich zwar immer noch unwohl, aber mir war zumindest nicht mehr schlecht. Auch meine Stirn fühlte sich wieder kühler an.

Alles Dank Auri.

Ich drehte mich zu ihr herumdrehen, wollte sie begrüßen. Doch die Seite neben mir war leer.

Na nu. Sie war doch noch nie ohne mich aufgestanden. Bisher hatten wir in unserer freien Zeit immer auf den anderen gewartet. Oder den anderen wach geküsst.

Seltsam.

Ich streckte mich. Merkte, dass mir der Schädel ein wenig brummte und stand vorsichtig auf.

Auch das ging schon mal besser als gestern. Ich schlich in die Küche.

Auf den kleinen Küchentisch stand eine Kanne mit Kamilientee gefüllt. Daneben eine Tasse. Den Wasserkocher hatte sie bereits mit Wasser gefüllt, den Stecker in die Steckdose gesteckt. Ich musste nur noch das Wasser erwärmen.

Neben der Tasse stand eine Packung mit Zwieback und eine Dose mit einer Gemüsesuppe. Genau wie den Fiebersaft, die Magentropfen und die Tabletten.

Diese Geste rührte mich wirklich tief.

Meine süße Aurelia.

Unter dem Fiebersaft war ein zusammengefalteter Brief.

Ich nahm ihn mir und schlug ihn auf.

Guten Morgen, Henry.
ich bin mit Kal eine große Runde laufen und geh danach noch zu meinen Eltern auf den Tennisplatz, ein paar Aufschläge üben.
Ich habe dir alles soweit vorbereitet. Ruh dich heute bitte aus. :-) Bitte nimm nochmal den Fiebersaft. Die Magentabletten und die Magentropfen bitte vor jeder Mahlzeit nehmen.
Die Ente bitte nicht mit kochenden Wasser füllen. Nur warmes aus der Leitung. :-)
Wir sehen uns bald.
Ich liebe dich.
A

Mein Herz machte einen Sprung. Sie war so gut zu mir.

So machte ich also den Wasserkocher an, füllte die gelbe Entenwärmflasche mit warmen Wasser aus der Leitung und goss anschließend Wasser in die Teekanne.

Dann waren diese ekelhaften Tropfen und der Saft dran.

Ja, sie hatten mir geholfen. Was auch der einzige Grund war, warum ich mir diesen Pflanzensaft nochmal antat.

Vollgepackt lief ich in ihr Wohnzimmer und packte den Couchtisch voll.

Eigentlich hätte ich bei solch einem Zustand mich wahrscheinlich Zuhause einfach vor den PC gesetzt und WoW gezockt. Mit Aurelias Mac konnte ich das jedoch knicken.

Also blieb mir nur der Fernseher übrig.

Normalerweise sah ich selten Filme in meiner freien Zeit. Wenn ich die Auswahl zwischen PC und Fernseher hatte, war die Wahl für mich absolut einfach.

Nur hatte ich hier halt keinen. Also blieb mir nur das FreeTV.

Dann jedoch bekam ich einen Einfall und wählte auf Aurelias Fernseher die YouTube App.

Tatsächlich fand ich recht schnell von ihr ein altes Tennisspiel, das ich mir ansehen konnte.

Ein Spiel, bei dem sie noch unheimlich jung war. Vielleicht achtzehn oder siebzehn. Doch schon damals war sie unheimlich schön gewesen.

Ihre Haare waren noch Naturbraun und wellig und gingen ihr bis zur Brust. Die Augenbrauen waren wesentlich dünner als jetzt.

Im Prinzip war sie die schönste Mischung aus Miley Curies und der jungen JoJo.

Uns trennten fast neun Jahre Altersunterschiede voneinander und ich wusste nicht, ob ich sie als Mitte Zwanzigjähriger nicht vielleicht doch angesprochen hätte.

Doch Gott sei Dank hatte ich es nicht und unsere Wege kreuzten sich erst viel viel später. Jetzt, wo ich klar im Kopf und vor allem mit meinem Verstand war.

Ich verfolgte das Spiel mit Interesse und fieberte mit meiner Freundin mit, der man den Druck nicht ansah. Doch ich wusste, was in ihr vorging. Am liebsten hätte ich sie einfach nur in die Arme genommen und ihr Mut zugesprochen.

Und doch besiegte Aurelia das andere junge Mädchen im letzten Satz mit vollen 40:0. Damit hatte sie gewonnen.

Jubelnd sprang sie auf und ließ ihren Captain America Schläger zu Boden fallen.

Es musste ein ziemlich wichtiges Spiel gewesen sein, denn wie aus dem Nichts kam plötzlich der junge Mikel von den Zuschauerpult herangestürmt und umarmte sie. Nur wenige Sekunden später war auch Federer bei ihr und legte die Arme um die Geschwister.

Auch wenn es mir Aurelia immer wieder erzählt hatte, wie lange sie Roger schon kannte, war dieser Anblick überwältigend.

Er war da nicht mal dreißig gewesen und unterstützte Aurelia und Mikel da schon tatkräftig. Obwohl er mit seiner eigenen Karriere zu tun hatte.

Da ich nun ohnehin Lust hatte mit Tennisspiele anzuschauen, vielleicht auch um etwas zu lernen, suchte ich das Spiel mit Federer raus, bei dem ich damals dabei war.

Jetzt, fast mehr als vier Jahre danach, sah ich es vielleicht nochmal mit ganz anderen Augen.

Und das tat ich auch.

Aber nicht etwa für das technische Tennisspiel vom Maestro. Mir fiel auf, wer die ganze Zeit im Publikum vor mir gesessen hatte und dabei fiel mir die Kinnlade nach unten.

Aurelia.

Sie saß bereits die ganze Zeit vor. Und ich Idiot hatte es nicht mal bemerkt!

Ich spulte drei Mal im Spiel zurück, um mich wirklich sicher zu gehen. Aber tatsächlich.

Sie wurde von den Kameras drei mal eingeblendet. Und noch während sie glücklich grinsend Roger beobachtete, konnte ich meinen Anzug im Hintergrund erkennen.

Fuck.

Sie war mir schon immer so ansehnlich und schön gewesen.

Gerade an diesem Tag. Sie trug ein wunderschönes dunkelblaues leichtes lockeres Kleid mit weißen Punkten.

Das fast schwarze Haar hatte sie zurückgekammt und in einen leichten Dutt verstaut. Ihre Lippen waren rot wie Wein. Und ihr Blick ... Fuck.

Hochkonzentriert, mitfiebernd, glücklich.

Wieso war sie mir damals nicht schon aufgefallen? Fuck, Auri.

Ja, ich war damals in einer Beziehung gewesen. Sogar in einer sehr guten und meine Ex-Freundin Lucy hatte mir das Herz damals mehr oder weniger gebrochen, als sie sich von mir trennte.

Aber fuck.

Auri war mir so nahe gewesen und schien trotzdem nichts von mir gewusst zu haben.

Wilde Phantasien taten sich in meinem Kopf auf. Was wäre, wenn sie meine Begleitung bei diesem Spiel gewesen wäre? Wenn sie ...

Großer Gott, ich brauchte frische Luft um die Nase. Ich war einfach zu verknallt. Mehr als uns beiden gut täte.

So setzte ich mich eine Zeitlang auf den Balkon und genoss noch etwas die Spätsommer-Sonne bis mein Magen tatsächlich knurrte.

Wahnsinn. Ich hatte Hunger.

Die Dose mit der Gemüsesuppe war schnell geöffnet und ich schüttelte mir das Zeug in eine Schüssel, die ich dann in die Mikrowelle schob.

Fünf Minuten später und mit dem ekelhaften Geschmack von Aurelias Magentropfen auf der Zunge, aß ich mein erstes Essen für diesen Tag.

Es bekam mir auch recht gut, auch wenn ich den Geruch immer noch nicht richtig ertragen konnte.

Es verging die Zeit. Entweder hielt ich kurz Nickerchen oder sah mir irgendwelche Serien an. Von Aurelia fehlte jedoch jede Spur.

Auch weit nach siebzehn Uhr war sie immer noch nicht da. Allmählich machte ich mir sorgen. Doch das letzte was ich wollte, war den Kontrolllustigen Freund zu spielen.

Also blieb ich cool, aß zwei, drei Zwiebäcke und ging mich danach duschen und Zähne putzen.

Dann war ich auch schon wieder platt. Mein Magen ging es zwar wieder bestens und das Fieber war nun auch endgültig weg, doch schlapp und erschöpft fühlte ich mich trotzdem noch.

Aber diese Pause und Erholung gönnte ich meinen Körper auch.

Ich legte mich zurück aufs Sofa und warf mir die Decke über.

*

Ich schreckt aus einem Schlaf auf, der nur aus Formen, Farben und Kauderwelsch bestanden.

Verschlafen hob ich den Kopf an und sah Aurelia im Türrahmen zum Wohnzimmer stehen.

Sie grinste breit, während Kal brav neben ihr saß und mit heraushängender Zunge mich ebenfalls anstarrte.

„Hab ich wieder Fieber und habe einen unglaublich heißen Fiebertraum oder steht die Frau meiner Träume gerade wirklich mit ihren unglaublich anschmiegsamen Sportklamotten in der Tür?"

Auri lachte keck und verschränkte die Arme vor der Brust. „Unglaublich. Du scheinst ja schon wieder auf Hochtouren zu laufen."

Ungehindert breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht auf. „Dank dir."

Sie löste sich vom Türrahmen und kam gemeinsam mit Kal zu mir.

Mein bester Freund lief im schnellen Schritt an meine Seite und begrüßte mich mit Schnuppern, Lecken, Gehechel und zwei, drei freundliche Beller.

„Schon gut, Bär. Schon gut." versuchte ich ihn zu beruhigen, als seine Freude mich zu sehen, immer größer wurde.

Ich setzte mich auf und brachte Kal dazu, es sich auf meinen Schoß bequem zu machen. Zumindest mit seinem Kopf.

Aurelia setzte sich neben mich und streichelte mein Gesicht. Mit zufriedener Miene stellte auch sie fest, dass mein Fieber weg war. „Dein Gesicht hat wieder Farbe angenommen. Gehts dir inzwischen besser?"

Ich nickte. „Ja. Ich kann zwar Essen immer noch nicht wirklich riechen, aber mir ist nicht mehr übel und das Fieber scheint mit deinem Hexengebräu auch weggegangen zu sein."

Meine Freundin lächelte zufrieden auf. „Das ist normal, dass du heute noch keinen großen Hunger hast. Dein Magen muss sich ja erst mal wieder sammeln."

„Es gäbe schon Dinge, auf die ich Hunger hätte." gab ich unverblümt zurück.

Aurelia verdrehte spierlerisch die Augen. „Ich habe doch gesagt, heute sollst du dich ausruhen. Damit meine ich wirklich keine Anstrengung."

Ich zuckte unschuldig mit den Schultern. „Das kommt drauf an, wer von uns beiden der aktive Part ist. Unter gewissen Umständen, würde es meiner Gesundheit sicherlich mehr helfen als schaden."

„Henry!"

Jetzt gab sie mir wirklich gar keinen Raum mehr. Aber wahrscheinlich hatte sie auch damit recht gehabt. Heute war wirklich nur Erholung dran.

Aurelia entschuldige sich kurz noch duschen zu gehen, während ich in der Zeit Kal willkommen hieß.

Sie schien ihn wirklich ausgepowert zu haben. Er gähnte nur irgendwann müde auf und schlief neben mir auf dem Sofa ein.

Noch ehe Aurelia vom Duschen wiedergekommen war. Sie grinste als sie unseren eingeschlafenen Kal vorfand.

„Was hast du heute alles mit ihm gemacht? Er scheint ja wirklich erschöpft zu sein." fragte ich sie, während mein kleines Tenniswunder sich neben mich aufs Sofa setzte und die Füße auf den Couchtisch legte. „Na ja. Anfangen haben wir mit einer großen Runde durch den Park und durch die Stadt. Dann ging's auf direktem Weg zum Tennisplatz. Ich hab Kal gezeigt wie er mir Bälle bringen kann, ohne sie gleich komplett in seinen Speichel zu tränken und so haben wir dann die meiste Zeit des Tages verbracht. Ich hab Bälle geworfen und er hat sie mir wiedergebracht. Zum Ende gabs dann aber noch ein paar Kuscheleinheiten von mir als wir uns auf die Terrasse gesetzt haben. Ich hab Kal auch mal wieder gekämmt und wohl die Hälfte an Hund aus ihm dabei rausgeholt."

Ich lachte auf. „Ja, er verliert echt unglaublich viel Haar. Wenn ich ihn kämme bekommt man aus den Haaren einen zweiten Hund raus."

Aber nicht nur Kal schien müde zu sein. Auch Aurelia gähnte auf und lag schneller auf meinem Schoß mit dem Kissen unter dem Kopf als ich bis drei zählen konnte.

Aber das hatte sie sich mehr als verdient.

Ich strich ihr über das noch feuchte dunkle Haar, während sie die Augen langsam schloss. „Das war sehr nett von dir heute Morgen, mir alles so wunderbar vorzubereiten, Auri. Danke dafür."

Sie lächelte zart. „Ich wollt nur nicht, dass du meine Wohnung durchwühlst und sie unordentlich machst."

„Das glaube ich eher weniger, Darling."

Sie schnauft und schlang die Arme um meine Mitte und zog die Beine an. Rasch nahm ich die Sofadecke und legte sie über sie.

„Henry?" fragte sie mit schlaftrunkenere Stimme an meinem Bauch.

„Auri?"

Sie grinste und öffnete kurz ihre Augen. „Das was du gestern gesagt hast, dass mit dem Heiraten und das du dich ranhalten willst ... War das ernst gemeint?"

Ich zuckte mit den Schultern und gab mich so ehrlich wie möglich. „Ja. Heiraten, Familie ... das alles ist etwas was mir wichtig ist und was ich gerne hätte." Ich sah sie eine Zeit lange an. Versuchte die richtigen Worte zu suchen. „Du bist mir wichtig, Aurelia. Mehr als du glaubst und für mich sind genau solche Sachen, solche einfachen Sachen wie du sie nennst, einfach jemanden zu helfen, dem es schlecht geht, nicht selbstverständlich. Meine Mutter mal ausgenommen, die mir als Kind bei jeder Krankheit an der Seite gestanden ist, gab es sonst niemanden, der wie du gestern gehandelt hätte."

Plötzlich schien sie wieder hellwach zu sein und saß wieder neben mir. ihre Gewicht wirkte zutiefst traurig. Das wollte ich nun wirklich nicht erzielen. „Keiner deiner Ex-Freundinnen hat sich jemals um dich gekümmert, wenn du krank warst?"

Wieder zuckte ich nur mit den Schultern. „Ganz so trostlos ist es nicht wie du jetzt denkst. Erst mal bin ich wirklich selten krank. Das gestern zählt schon unter den Highlights meiner durchlebten Krankheiten. Dann reise ich durch den Job einfach viel rum und war meistens alleine unterwegs. Ich kann ja meine Freundin nicht vom andern Ende der Welt zu mir kommen lassen, nur weil ich einen Schnupfen oder eine Verletzung an der Knie habe. Und drittens kann ich von niemanden verlangen mir zu helfen und sich der Gefahr auszuliefern, dass ich ihn anstecken könnte, wenn man selbst berufstätig ist. Das wollte ich nie jemanden zumuten." Ich hielt kurz inne und sah sie dann vielsagend an. „Wobei ich durch dich gestern gelernt habe, dass es sich wesentlich besser anfühlt, wenn jemand da ist."

Sie zog mitleidig die Augenbrauen zusammen. „Henry ... Das tut mir so leid."

„Das muss es nicht. Überhaupt nicht. Es ist mit dir jetzt einfach ein Privileg, solch einen Luxus zu genießen. Dass du mit mir zusammen oft reisen kannst. Dass du bei allen meinen Lebenslagen da bist und ich bei deinen. Dass ich Deine Leidenschaften teilen darf. Das ... bedeutet mir wirklich viel.
Deswegen" wieder zuckte ich mit den Achsel und suchte irgendwo in der nächstbesten Wandecke nach den Wörtern, „Ist es mir mit dir besonders wichtig, es nicht zu versauen. Am liebsten würde ich dich wahrscheinlich in die nächst beste Kapelle ziehen und auf ewig an mich binden, weil ich nicht glaube, dass es jemals wieder eine Frau in meinen Leben geben wird, die so ist wie du. Die das perfekte Abbild von mir ist. Die mich unterstützt, mir hilft, mich motiviert und mir in jeder Lebenslage das geben kann, was ich brauche.
Mir ist das gestern Nacht nicht einfach so über die Lippen gekommen."

Sie wirkte nun wesentlich nachdenklicher und hielt kurz Inne über meine Worte. Dann sah sie mich wieder an. „Mit dir geht es mir genauso." gab sie zu und griff instinktiv nach meiner Hand. „Nur ... Familie, Heirat, ein Zuhause im Grünen ... das sind Dinge, die ich dir nicht sofort geben kann. Dahingehend bin ich anders wie du."

„Und das ist gut so!" Ich steckte lächelnd die Hand nach ihr aus und streichelte ihre Wangen. „Überstürzen ist nicht gerade die beste Option für ein langes glückliches Zusammenleben. Das weiß ich. Auch wenn es mir nicht immer leicht fällt. Manchmal leide ich ein wenig unter Torschlusspanik, wenn ich mitbekomme, dass alle um mich herum, bereits das haben, was ich gern hätte. Aber dass es eben so ist, wie es jetzt ist, daran bin ich selbst schuld. Und dir kann ich diese Panik nun wirklich nicht zum Vorwurf machen. Wir nehmen uns die Zeit, die es braucht. Gut ist."

„Oh", machte Auri erheitert, „Ohne deine Vergangenheit würden wir ja jetzt nicht hier sitzen und reden. Ich würde das nicht als Schuld, sondern eher als eine Art Schicksal sehen. Wir sollten uns eben erst jetzt kennenlernen."

Ich gab einen brummenden Ton von mir. „Nein. Das hätten wir schon vor vier Jahren tun können. Nur hab ich Idiot nicht richtig hingeschaut."

Sie zog die Stirn in Falten. „Was meinst du?"

Und so begann ich ihr vom Match 2017 zu erzählen.

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