7| Elody
Meine Hände zittern, als ich mein zweites Bein, dass vom Sprint hierher noch brennt, nachziehe. Schon jetzt geht mein Atem unregelmäßig, ob vor Anstrengung oder Panik kann ich nicht genau sagen. Mein Blick wandert nach oben. Sechs Etagen, alle nur spärlich mit Stangen gesäumt.
Ich schätze das Gebäude auf etwa 20 Meter. Nicht allzu hoch, für einen Genickbruch reicht es jedoch allemal.
Meine Arme strecken sich nach oben. Sobald ich das kühle Metall unter meinen Fingern spüre, umklammere ich es fest und ziehe mich ein Stück in die Höhe. Glücklicherweise rutschen meine Chucks nicht von den glatten Metallstangen ab. Ächzend wuchte ich mich auf ein langes Brett, dass einmal ums ganze Haus verläuft und blicke hinab. Nicht viel, aber im ersten Stock bin ich schonmal. Zweifelnd lege ich meinen Kopf in den Nacken. Das nächste Brett scheint verdammt weit entfernt zu sein. Zittrig mache ich mich an die Arbeit, mich weiter nach oben zu ziehen, stelle mir einfach vor, ich wäre in einer Kletterhalle. Das meine letzte Kletterstunde vor drei Jahren war und ich damals Sicherheitsgurte anhatte, versuche ich zu ignorieren.
Nicht nach unten gucken.
Ruhig bleiben.
Konzentrieren.
Meine Hände ziehen meinen Körper wie automatisch nach oben, während ich mit meinen Schuhen versuche, Halt an der Fassade zu finden.
Hochziehen, abstützen.
Langsam bekomme ich eine Art Rhythmus rein. Gleichzeitig scheint mein Körper jedoch in Flammen zu stehen und ich bin gerade Mal im zweiten Stock. Das dreckige Brett unter meinen Füßen quietscht laut, als ich meine Beine auf die Metallstange unmittelbar darüber stelle.
Der dritte Stock ist erstaunlich leicht zu erreichen, da viele Metallstangen meinen Weg säumen. Danach befinde ich mich jedoch in einer Sackgasse: Die nächsten Stangen sind alle schräg angebracht, meine Füße wollen einfach keinen Halt finden. Verzweifelt krallen sich meine Hände, die langsam anfangen zu brennen, an den Streben fest, während meine Schuhe in eine Ecke, wo zwei Stangen sich kreuzen, rutschen. Ein stechender Schmerz zuckt kurz durch meinen Knöchel, als er an einer Schraube hängenbleibt. Ich traue mich nicht nachzuschauen, ob er blutet, da ich sonst das Gleichgewicht verlieren könnte. Also ziehe ich den Fuß mit zusammengebissenen Zähnen zwischen den Stangen hervor und versuche ihn an der Hauswand abzustützen. Er rutscht ein paar Zentimeter hinab und hinterlässt einen Fleck auf der frisch gestrichenen Fassade, bevor er Halt findet. Gerade als ich mich auf das vierte Brett wuchten möchte, höre ich ein leises Knacken. Mein Kopf zuckt nach unten, mit Entsetzen muss ich feststellen, dass die Hauswand bröckelt. Mein Fuß rutscht weg, baumelt hilflos in der Luft. Zwar kann ich mich im letzten Moment noch auf den hölzernen Untergrund retten, jedoch sitzt der Schock so tief in meinen Knochen, dass ich mich keinen Millimeter mehr weiter traue. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht? Einfach so hier hoch zu klettern...
Vorsichtig begutachte ich meinen Knöchel. Bis auf ein paar Schrammen hat die Schraube glücklicherweise nichts angerichtet.
Das hätte schlimm ausgehen können, ich kann jetzt nicht einfach weitermachen!
Kurz atme ich durch, spüre, dass mein ganzer Körper zittert. Mein Herz scheint vor Aufregung fast aus der Brust zu springen.
Du weißt genau, warum du das tust.
Ein wütendes Schnauben entweicht mir, als ich mich an die Mail und das Bild erinnere.
Ich spüre, wie sich mein Hals zusammenzieht und meine Augen anfangen zu brennen. Du wirst jetzt bloß nicht weinen!, schelle ich mich selbst und versuche die Verzweiflung abzuschütteln, bevor ich mich unter einer Stange hinwegducke und aufrichte. Vier von sechs Etagen, den Rest schaffe ich jetzt wohl auch noch.
Mein Wille ist da, keine Frage, aber als meine Füße das Brett der fünften Etage berühren, drohen meine überstrapazierten Beine weg zu knicken. Jeder einzelne gerannte Meter, jeder Höhenmeter scheint mich in die Knie zwingen zu wollen. Doch ich darf nicht aufgeben, muss weiter. Mit vor Schmerz verzogenen Gesicht greife ich auch mit der anderen Hand nach der Stange. Ich versuche mich hochzuziehen, doch bin zu schwach. Verdammt, ich muss da hoch! Tränen der Anstrengung und Verzweiflung treten mir in die Augen. Ich blinzle sie energisch weg.
Ich muss das schaffen!
Mit einem leisen Schmerzensschrei ziehe ich mich nach oben und versuche verzweifelt meine Beine auf die Stangen zu bekommen. Mein Fuß berührt das Metall gerade so, doch nun streiken meine Arme völlig: Das Brennen in ihnen dürfte dem Höllenfeuer gleichkommen, meine schwitzigen Hände rutschen immer weiter ab.
Verdammt, ich kann nicht mehr. Jedoch wird es mit jeder Sekunde, die ich hier, kurz vor meinem Ziel stehen muss, schlimmer. Stehen ist eigentlich nicht das richtige Wort, hängen trifft es eher: Meine wackligen Beine tragen höchstens ein Drittel meines Körpergewichts.
Wäre ich bouldern oder mit einem Gurt gesichert, ich würde augenblicklich aufhören, etwas trinken, meine Hände mit Magnesium einreiben und erst dann wieder starten. Leider hänge ich aber an diesem Gerüst und habe eine frisch verputzte, nach Farbe stinkende Wand direkt vor mir.
Stöhnend versuche ich mich weiter nach oben zu ziehen, kurz zappeln meine Beine hilflos in der Luft. Es funktioniert nicht. Ich kann einfach nicht mehr. Ich muss hier runter.
Das schlimmste daran ist, dass ich aufgeben muss. Ich gebe nie auf, erst Recht nicht, wenn es um etwas so wichtiges geht. Verzweifelt versuche ich ein letztes Mal, meine Beine auf die Holzplattform zu ziehen. Mein Schuh findet zwar Halt, jedoch befinde ich mich nun in einer sehr unangenehmen Haltung: Meine Hände und mein einer Fuß krallen sich an dem provisorisch angebrachten Brett fest, während mein anderer Fuß samt Chuck als dunkelroter Fleck nutzlos über der Tiefe baumelt. Hilfe!
Verzweifelt schätze ich mit einem Blick die Höhe ab. Was von unten wie 20 Meter aussah, wirkt von hier oben wie 50. Jetzt loszulassen, meine schmerzenden Hände endlich zu erlösen, würde mich also mit Sicherheit umbringen oder schwer verletzen. Wimmernd ziehe ich mein Bein an, mein Arm scheint unerträglich in die Länge gezogen zu werden. Ein Ruck geht durch meinen Körper und ich breche zusammen. Glücklicherweise auf der sechsten Holzplattform, die sich bedenklich unter mir wölbt. Mein Kopf beginnt wieder zu stechen, als ich ihn kraftlos auf das Brett fallen lasse.
Ich weiß, dass ich mir keine Pause erlauben darf. Schließlich sind die anderen hier irgendwo. Also rapple ich mich auf, ziehe mich mit meinen brennenden Armen an einer Stange hoch. Das kühle Metall fühlt sich angenehm auf meinen warmen, wunden Handballen an. Als ich stehe, befindet sich ein weiteres Metallstück direkt vor meiner Nase, ich höre, wie Wasser hindurchfließt.
Meine Hände fassen an die Regenrinne. Das kühle, glatte Metall fühlt sich stabil an.
Aber auch stabil genug, um einen Menschen auszuhalten?
Nicht darüber nachdenken!
Mit zusammengebissenen Zähnen stütze ich mich ab und stelle meine Beine so schnell wie möglich auf die Rinne. Ein leises Knacken ertönt.
Erschrocken springe ich einen Schritt nach vorne und versuche schwankend mein Gleichgewicht auf dem Dach zu halten. Kurz sehe ich mich hinabstürzen, am Boden zerschellen.
Ein entsetzter Schrei entweicht mir.
Im letzten Moment gelingt es mir, meinen Körper nach vorne zu werfen.
Schmerzhaft lande ich auf den Dachziegeln. Mein Kopf ruckt nach oben, als ich von der anderen Seite ein leises Keuchen höre. Mara. Hinter dem Mädchen zieht sich Mark nach oben. Unten, auf der anderen Seite des Gebäudes, kann ich Dennis fluchen hören. Anscheinend kommen die drei von da und er traut sich nicht, nach oben zu klettern.
Nun entdecken die beiden auch mich. Mark sieht nicht sonderlich angestrengt aus, während Maras Gesicht rötliche Flecken aufweist. Ihre blauen Augen scheinen mich zu durchbohren.
Fast zeitgleich brummen unsere Uhren.
Ich kauere immer noch kurz hinter der Regenrinne. Die Dachziegel bohren sich in meine aufgeschürften Knie, während ich meinen Arm langsam hebe.
"Level eins erfolgreich abgeschlossen, Spieler 2. Glückwunsch."
Level 1. Ich fühle mich, als hätte man mir einen Schlag in die Magengrube versetzt. Ich meine, klar, was wäre anderes zu erwarten gewesen? Natürlich ist dieser Horror noch nicht vorbei. Aber was bringt das alles denn?
Fassungslos blicke ich die alberne Nachricht an. Sie ergibt Sinn, ich wusste instinktiv vorher, dass es nicht vorbei ist, aber ich will nicht begreifen, will keine Einsicht zeigen.
Ich habe es geschafft, verdammt! Ich bin auf ein Dach geklettert. Ich hätte dabei draufgehen können! Warum reicht das nicht?
Verzweiflung packt mich.
Es ist wie ertrinken.
Als würde mein Kopf immer weiter unter die Wasseroberfläche gedrückt werden.
Verzweifelt blicke ich zu Mara, zu Mark. Beide stehen regungslos da.
Warum tust du uns das an?, murmle ich in die Nacht hinaus. Warum tut dieser "Spielemacher" uns das an? Was hat er davon? Und was gibt ihm das verdammte Recht mich zu erpressen?
Warum? tust? du? mir? das? an?!
Mit jedem einzelnen Wort in meinem Kopf schlage ich meine Uhr aufs Dach, versuche das Display zu zerstören.
Nichts passiert.
Mara starrt mich immer noch mit ausdruckslosen Augen an, fast macht es mir Angst, wie sie so leichenstarr da steht. Warum macht denn niemand etwas?
Die Antwort lauert in meinem Kopf, doch ich will sie nicht wahr haben.
Ich spüre, wie die Verzweiflung mich langsam loslässt, mein Kopf wieder unter der Wasseroberfläche auftaucht.
Niemand macht etwas, weil wir nichts tun können. Wir haben keine Chance, dürfen uns keine Hilfe holen. Dieses Level war reine Machtdemonstration. Das nächste würde um einiges schlimmer werden.
Die Erkenntnis hinterlässt eine furchtbare Leere in mir, scheint mir die Kehle zuzudrücken.
Es ist noch nicht vorbei.
Fast sehe ich den Spielmacher vor mir, wie er mich höhnisch verspottet.
"Verdammt, warum tust du mir das an?", flüstere ich.
Die Uhr bleibt still.
Doch das schwarze Display ist schlimmer als jedes Wort es sein könnte.
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