6| Elody
Meine Füße hämmern über den Asphalt.
Die klirrend kalte Luft brennt in meiner Lunge, doch ich renne weiter. Verzweifelt versuche ich, mein Tempo nicht zu drosseln, während ich einen hektischen Blick auf das Display der Uhr werfe, die mein Handgelenk fest umschließt. Fast schon wie Handschellen, die mich an dieses dämliche Spiel ketten.
Seufzend verfalle ich in ein etwas langsameres Tempo, als die Buchstaben vor meinen Augen, die durch die kalte Nachtluft brennen, verschwimmen.
Immer noch dieselbe Aufforderung: Ich soll zu einem baufälligen Haus mit Gerüst gehen, was ich etwa im Zentrum des Viertels finde. Egal wie verzweifelt ich auf die Uhr einhämmere, immer und immer wieder erscheinen die neonfarbenen Buchstaben und vermitteln mir diese Botschaft.
Die anderen fünf scheinen genau die Gleiche erhalten zu haben: Während anfangs alle unsicher da saßen und auf ihre Displays starrten, sprang jeder auf, sobald sich die erste, diese Mara, bewegte. Irgendwann habe ich meine Mitspieler aus den Augen verloren, als ich in eine andere Seitengasse eingebogen bin. Ob das mir jetzt einen Vorteil oder einen Nachteil verschafft, wird sich noch herausstellen.
Mit einem Keuchen biege ich um die Ecke. Die Gasse wird immer schmaler, verliert sich einige Meter weiter in der Dunkelheit. Unter normalen Umständen würde ich sie meiden, damit ich nicht wieder einem Betrunkenem begegne, jedoch bleibt mir keine Wahl. Ich muss gewinnen, um jeden Preis.
"Nur einer kann gewinnen."
So lauten die Regeln. Dieser Eine muss ich sein oder mein bisheriges Leben geht den Bach runter. Also sprinte ich, als müsse ich einen Weltrekord brechen, während vernagelte Türen und dreckige Einfahrten an mir vorbeiziehen. Schon bald spüre ich, wie mein Gesicht unangenehm warm wird. Ich muss ziemlich fertig aussehen, fast so rot wie Luna, wenn sie von einem süßen Jungen angesprochen wird. Stöhnend wische ich mir den Schweiß von der Stirn, als ich plötzlich einen Schatten wahrnehme. Verzweifelt versuche ich abzubremsen, kann es jedoch nicht mehr vermeiden, frontal von etwas festem getroffen zu werden. Erschrocken schreie ich auf und fasse mir an den Kopf, der sich gerade erst von meiner Wunde von der Hallenwand erholt hat. Durch den Rückstoß beginnt sie wieder schmerzhaft zu pochen. Zwar spüre ich kein Blut, bis auf das bereits getrocknete, jedoch setzt nun auch ein unangenehmes Gefühl an meiner Schläfe ein.
Das darf doch jetzt nicht wahr sein, oder?
Verwirrt, fast schon wütend blicke ich auf die bröckelige Fassade.
Eine Mauer. Eine blöde Mauer sorgt dafür, dass ich nicht siege.
Das grässliche, etwa zwei Meter hohe Betonstück, dessen weiße Farbe schon längst abgeblättert ist, blockiert mir den kompletten Weg. Die Seiten schließen direkt an den Hauswänden an und diese Höhe kann ich mit Sicherheit nicht überwinden.
Mit einem brummenden Schädel mache ich kehrt und laufe zurück zur Ecke. Zum Glück bin ich nicht richtig verletzt, jedoch ist mein Ego angekratzt. Hoffentlich hat das niemand gesehen.
Diesmal wähle ich den linken Weg, der mich zu einem Marktplatz bringt. Ob ich viel Zeit durch diese Sackgasse verloren habe? Hoffentlich nicht!
Mein Blick wandert über den mit Zigarettenstummeln übersäten und unordentlich gepflasterten Platz. Fünf Abzweigungen, inklusive der, von der ich gerade komme. Eine davon sieht ziemlich gepflegt aus, dort würde man bestimmt kein heruntergekommenes Haus dulden. Oder aber es hat deswegen ein Baugerüst? Frustriert raufe ich mir die Haare, sodass mein Pferdeschwanz sich fast vollständig loslöst.
Baufällig-Baugerüst-Mitte des Viertels, wiederhole ich die Anweisung immer und immer wieder.
Wo könnte das sein?
In der Mitte des Viertels befinde ich mich glaube ich schon. Dieser Gedanke macht mich noch verzweifelter. Der Sieg ist zum Greifen Nahe und ich scheitere trotzdem. Ein, zwei Blöcke von mir entfernt könnte sich dieses blöde Gebäude befinden.
Fluchend lasse ich meinen Blick erneut über einen leeren Platz wandern. Die blanken Hauswände scheinen mich zu verhöhnen.
Plötzlich dringen leise Geräusche zu mir durch. Stimmengewirr, ein leises Quietschen.
Von links, eindeutig. Angestrengt spitze ich die Ohren, jedoch ist es nun unheimlich still. Trotzdem, ich bin mir sicher: Das waren Stangen, an denen der Wind gerüttelt hat. Schnell überquere ich den Platz, versuche meine Schuhe so leise wie möglich aufzusetzen, damit meine Füße keine erneuten Geräusche übertönen. Zwei Abzweigungen kommen noch in Frage.
Da, schon wieder dieses Klappern!
Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem erleichterten Lächeln, neue Hoffnung macht sich in mir breit.
Ich stürze los und quetsche mich am Hinterausgang eines Supermarktes vorbei, lasse den Platz hinter mir.
***
Vor mir steht ein großes, eindeutig baufälliges Haus.
Mit Gerüst.
Unendliche Erleichterung durchströmt mich. Meine Mundwinkel ziehen sich nach oben, ich kann nicht aufhören zu lächeln.
Ich habe es geschafft.
Ich beginne das Haus näher zu betrachten. Gähnend leere Öffnungen starren statt Fenstern zurück und Graffitis zieren die Wände. Die Stangen des Gerüstes waren eindeutig die Verursacher des Geräusches: Ein stetiges Klappern, was mir jetzt, wo ich mein Ziel erreicht habe, ziemlich nervig vorkommt, tönt durch die Nacht.
Prüfend blicke ich mich um. Zugezogene Vorhänge, zugenagelte Eingänge. Jedoch immerhin keine Person weit und breit.
Und was jetzt?
Fragend blicke ich auf die Uhr. Fast zeitgleich ertönt ein Brummen, der eine Nachricht ankündigt.
Ich tippe grinsend auf das kleine Display, das sich durch die Berührung erhellt. Ich habe gewonnen, oder? Das war ja fast zu leicht!
Gefangen in meiner Euphorie bemerke ich fast nicht, was in grellen Buchstaben auf der Uhr erscheint.
"Klettere aufs Dach"
Die Nachricht sorgt dafür, dass mein Herz kurz aussetzt. Bitte was?
Ungläubig starre ich auf die Buchstaben, versuche ihren Bedeutung zu verstehen. Langsam dringt die Information zu mir durch. Meine Mundwinkel sacken endgültig hinab.
Nein, das muss ein Scherz sein. Unruhig warte ich ab, fixiere das Display.
Nichts tut sich.
Ich mach das nicht! Auf keinen Fall!
Aber vielleicht...
Schnell gehe ich auf den Eingangsbereich zu und ziehe mit aller Kraft an der Tür.
Bitte, ich kann ja auch die Treppen hochlaufen und durch ein Fenster aufs Dach klettern, das geht bestimmt auch...
Meine ganzen Hoffnungen werden mit einem Mal zerschlagen. Nichts. Nichts passiert.
Obwohl ein kleines Schild klar und deutlich "Ziehen" besagt, drücke ich trotzdem nochmal gegen die Tür. Verzweifelt rüttle ich ein letztes Mal an dem Metallgriff. Wieder nichts.
Niedergeschlagen lasse ich mich gegen die Wand sinken und starre hinaus in die Nacht.
Laute Stimmen reißen mich aus meiner Schockstarre. Das könnten Dennis und Mara sein. Vielleicht auch noch Lynn. Und sie sind nah, viel zu nah.
Scheiße, Scheiße, Scheiße!
Schnell rapple ich mich auf und platziere mich direkt vor dem Gebäude.
Mit fest zusammengekniffenen Augen greife ich nach der ersten Metallstange des Gerüstes. Es beginnt sofort bedenklich zu wackeln. Vorsichtig setze ich einen Fuß auf die unterste Stange, prüfe ob sie mein Gewicht aushält. Zwar biegt sie sich bedenklich, trotzdem könnte es funktionieren. Es muss einfach.
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