3| Elody
Mit leerem Blick starre ich auf das trostlose Grau der Häuser. An ein paar Wänden rankt sich Efeu zwischen all dem Graffiti empor.
Langsam setze ich mich in Bewegung, durchquere die düster wirkenden Gassen. Vor einer Stunde wurde mir die genaue Adresse zugeschickt. Nur die Adresse, sonst nichts. Ich will nicht wissen, wie oft ich innerhalb der letzten 20 Stunden versucht habe, diesen geheimnisvollen Absender zu kontaktieren. Keine einzige Antwort. Ich habe mir den ganzen Nachmittag den Kopf zerbrochen, mich fertig gemacht und in meine Angst hineingesteigert, während dieser perverse Mistkerl nicht mal einen Finger rühren konnte. Wahrscheinlich war mein Leid sogar genau das, was er erreichen wollte. Blöderweise kann ich nicht anders, als ihm genau das zu geben: Meine Angst, meine Wut, mein Leiden.
Ich habe heute Nacht kaum geschlafen. Um sechs Uhr bin ich kurz eingenickt, nur um gegen acht Uhr schweißgebadet aufzuschrecken und den ganzen Tag wie ein Zombie durch die Gegend zu schlurfen. Auch jetzt schmerzen meine Augen nahezu und ich kann kaum aufrecht stehen. Mit jeden Schritt, den ich in dieses gottlose Stadtviertel wage, werde ich mir sicherer, dass sowohl meine Beine als auch mein Hirn aus Wackelpudding bestehen müssen.
Hier könnten Morde passieren.
Und ich laufe einfach so in eine verlassene Lagerhalle. Und das obwohl ich nicht in der Lage wäre, vor einer Gefahr wegzurennen und offensichtlich nicht Herr meiner Sinne bin, daran können die zwei Tassen Kaffee heute Vormittag leider auch nichts mehr ändern.
Meine Güte, warum laufe ich denn auch die ganze Zeit weiter? Weiter in eine Lagerhalle, in die mich ein vermutlich Irrer bestellt hat.
Fast schon vorwurfsvoll starre ich auf meine dunkelroten Chucks, die sich -trotz aller Einwände- immer noch wie von selbst weiterbewegen. Schwerfällig und schlurfend zwar, doch trotzdem kontinuierlich.
Verdammter Mist.
Anscheinend hat der Rest meines Körpers bereits eine endgültige Entscheidung getroffen, ohne sie meinem Hirn mitzuteilen. Soll mir Recht sein, ich bin grade eh zu müde. Bald habe ich alles hoffentlich hinter mir, schließlich habe ich einen Plan. Nicht idiotensicher zwar, jedoch ist mir nichts besseres eingefallen. Ich werde mir anschauen, was ich in der Lagerhalle finden werde. Sollte ich das überleben, werde ich entscheiden, wie ich weiter vorgehen werde und am Ende des Tages würde dieses Bild, dass blöderweise als Druckmittel dient, hoffentlich ein für alle mal verschwunden sein. Ich könnte mein Leben weiterleben, das Geheimnis tief in mir vergraben, einen Käfig drumherum errichten und den Schlüssel wegschmeißen. Nach ein paar Jahren würde ich -wenn ich Glück habe- vielleicht selbst vergessen haben, was passiert ist.
Leicht zynisch lächle ich. Kurz vor meinem eventuell bevorstehendem Tod werde ich ja ganz poetisch.
Ein kleiner Teil meines ermüdeten Verstandes zwingt mich dazu, auf die Umgebung zu achten, damit ich nicht daran denke, wie dieser "Tod" aussehen könnte.
Ich bin ihm sehr dankbar dafür.
Was mir als erstes in den Sinn kommt ist die Farbe grau. Hässliches Betongrau. Es ist generell ziemlich dreckig hier draußen, was von dem trüben Wetter nochmal unterstrichen wird. Hinter jeder Ecke ist es dunkel, nur ab und zu durchbricht ein greller Lichtschein, der von den umherstehenden Häusern kommt, die Schatten. Unwillkürlich muss ich an die Mail denken. Die grelle, unangenehme Schrift scheint in meine Netzhaut eingebrannt zu sein, gräbt sich durch meine Gedanken.
Ein Schauer läuft meinen Rücken hinab.
Nein, ich habe mir doch verboten, daran zu denken!
Hastig widme ich mich den herumliegenden Zigarettenstummeln. Unterschiedlich groß, unterschiedlich alt. Unterschiedlich durchnässt vom Nieselregen, der meinen Schlaf heute zusätzlich erschwerte, da mir die Tropfen die ganze Zeit gegen das Fenster prasselten und meine Gedanken intensivierten, bis ich in den Alptraum glitt, in dem ich...
Ah verdammt, ich kann es auch echt nicht lassen, oder?
Na gut, vielleicht sollte ich mich ja mit meinem Tod beschäftigen. Vielleicht möchte mir mein Unterbewusstsein damit sagen, dass es so besser wäre, nicht ganz so überraschend kommen würde. Trotzdem habe ich schlicht und ergreifend keine Lust. Ich habe mein Leben noch vor mir. Zwar habe ich keinerlei Pläne für die Zukunft, würde sie aber trotzdem ganz gerne noch erleben.
So in meinen -zugegebenermaßen etwas missmutigen- Gedanken versunken, bemerke ich den betrunkenen Mann, der auf der Bordsteinkante am anderen Straßenrand sitzt, zuerst nicht. Dementsprechend zucke ich ziemlich heftig zusammen, als er mir irgendetwas hinterherruft. Die Beleidigungen ignorierte ich geflissentlich, werfe ihm nur einen kurzen Blick zu. Seine Klamotten wirken nicht schäbig, es sieht eher so aus, als wäre er heute erst gekündigt worden und würde nun seinen Frust im Alkohol ertränken: Sein Anzug ist zwar verschmutzt, sieht jedoch trotzdem teuer aus. Niemand auf dieser Seite der Brücke, die die kleine Stadt teilt, könnte sich einen solchen Anzug leisten.
Fast würde der Mann mir leid tun, wäre da nicht dieses anzügliche Grinsen in seinem Gesicht, dieses aggressive Funkeln in seinen Augen. Ich beschleunige meine Schritte, bekomme Angst.
Die nächste Bemerkung seinerseits jagt mir einen Schauer über den Rücken.
Was, wenn nicht dieses Spiel mich umbringt? Was ist, wenn ich es gar nicht lebendig zu diesem Spiel schaffe? Oder, noch schlimmer: Es gibt überhaupt kein Spiel, ich habe mich grundlos hierher begeben und werde vollkommen umsonst in einer Seitengasse mein Leben aushauchen!
Meine Beine bewegen sich noch etwas schneller. Ich traue mich nicht zu rennen -was, wenn er mir dann folgt?-, doch gleichzeitig möchte ich hier weg; so schnell wie nur irgendwie möglich. Alle Artikel über dieses Stadtviertel ziehen vor meinem inneren Auge vorbei. Die hohe Kriminalitätsrate, die vielen Drogendelikte und...
Plötzlich höre ich ein leises Geräusch hinter mir. Alles in mir verkrampft sich, mir ist plötzlich unangenehm kalt. Unangenehm ist auch das Kribbeln auf meinem Rücken, meinem Nacken, meinem ganzen Körper.
Ich habe Angst. Ich habe verdammte Angst.
Ich weiß ich sollte Ruhe bewahren, doch meine Gedanken rasen, auf einmal bin ich hellwach. Was mir nichts, rein gar nichts nutzt, denn ich bringe keinen einzigen vernünftigen Gedanken zustande.
Lauf.
Schlau oder nicht, dies ist eine Anweisung, die ich befolgen kann und in diesem Moment brauche ich genau das: Ein Befehl, dem ich kopflos folgen kann.
Also beschleunige ich, haste die Straße hinab.
Mit jedem Meter werden meine Schritte schneller. Doch die hinter mir auch.
Der Mann kommt mir immer näher, ich höre ein leises Schnaufen.
Mein Puls pocht so laut in meinen Ohren, dass ich befürchte, mir würden die Trommelfelle platzen.
Ich will nach Hilfe rufen, wirklich, doch meine Stimmbänder scheinen schlicht und ergreifend nicht zu funktionieren. Was um genau zu sein nicht die einzige Tatsache ist, die mich zurückhält: Ich habe Angst, wen ich hier mit meinen Hilfeschreien anlocken würde.
Statt zu schreien biege ich also schnell um die nächste Ecke und presse mich ängstlich in eine kleine Nische. Die Schritte werden lauter, kommen immer näher.
Dann ist es still.
Er steht unmittelbar in meiner Nähe, ich kann seinen Schatten sehen. Der stechende Geruch von Alkohol dringt in meine Nase. Ich beginne zu zittern.
Verdammter Mist, warum habe ich mich auch hierherlocken lassen? So ein "Zwischenfall" ist auf dieser Seite der Brücke nichts besonderes. Blöd nur, dass diese sogenannten Zwischenfälle hier oft tödlich ausgehen können. So will ich ganz sicher nicht sterben!
Dass Not bekanntlich erfinderisch macht, trifft auf mich gerade leider nicht zu. Vielleicht könnte irgendjemand anderes eine nützliche Waffe in meiner nahen Umgebung finden, für mich sieht jedoch alles aus wie albernes Gerümpel. Sperrmüll, vor die Tür geworfen, vielleicht sogar vom Fenster aus, um dann abgeholt zu werden. Doch was soll ich mit ein paar alten Möbeln? Ein Stab oder so etwas in der Art wäre äußerst hilfreich. Doch anscheinend ist es dem Schicksal schnuppe, was ich als hilfreich betitele, denn aus der Entfernung kann ich auch auf einen zweiten Blick nichts brauchbares entdecken und aus meinem Versteck wage ich mich nicht.
Mir wird schummrig bei der Aussicht, dass ich mich wohl oder übel auf meine eingerosteten Selbstverteidigungskünste verlassen müsste.
Ich würde im Ernstfall vielleicht eine Minute durchhalten.
Die Alkoholfahne des Mannes ist plötzlich stärker zu riechen, ich kann ein paar gelallte Worte erhaschen. Würde ich meine Hand zur Seite, aus der Nische heraus, strecken, könnte ich vermutlich den weichen und sicherlich dreckigen Stoff seines Anzugs spüren.
Meine Gedanken rasen. Warum habe ich dieses blöde Pfefferspray, welches meine Mutter mir andrehen wollte, nochmal abgelehnt? Ach ja richtig, da wurde ich ja noch von keinem Irren erpresst und von keinen Betrunkenen verfolgt.
"Haltet die Klappe, haltet die Klappe, haltet die Klappe!", denke ich und versuche meine anderen -extrem nutzlosen- Gedanken damit zu übertönen, doch sie werden immer lauter, immer nerviger, immer weniger hilfreich.
Ich zittere stark, doch erstaunlicherweise nicht vor Angst, sondern einfach nur, weil mir verdammt kalt ist. Wundervoll, echt. Als hätte ich keine anderen Probleme.
Bibbernd presse ich mich noch mehr in die Nische und versuche kampfbereit zu sein.
Vergebens.
Die Müdigkeit und die Kälte haben ihren Weg in jedes einzelne meiner Glieder gefunden und scheinen mir jegliche Energie zu entziehen.
Am liebsten würde ich schreien. Nicht mehr vor Angst, nein, die habe ich langsam nicht mehr. Ich bin genervt. Genervt und stockwütend. Warum macht dieser Mann denn nichts? Wie lange soll ich denn noch hier stehen und warten, bis er sich entschieden hat, ob er angreifen will oder nicht? Es zerrt ungemein an meinen Nerven, hier so zu warten, mich mental auf einen Kampf vorzubereiten. Es ist anstrengend, zermürbend.
Vielleicht ist das ja seine Taktik: Mich erst anzugreifen, wenn ich so fertig bin, dass...
Plötzlich nehme ich ein Geräusch wahr, versuche, meine Hände schützend vor mich zu halten, kneife die Augen zusammen.
Nichts passiert.
Blinzelnd öffne ich die Augen und da ist sie wieder: Die Angst. Können sich meine Gefühle nicht endlich Mal entscheiden?
Abgelenkt durch weitere Geräusche verstummen meine Gedanken.
Moment. Waren das...Schritte?
Angestrengt lausche ich.
Da, schon wieder dieses Geräusch!
Schwerfällig, schlurfend. Unverkennbar: Der Mann entfernte sich mit einem leisen Fluchen wieder.
Ich stoße erleichtert die Luft, die ich unbewusst angehalten habe, zwischen den Zähnen hervor und zähle bis zehn. Etwas schwach auf den Beinen verlasse ich meine Nische und biege tief durchatmend um die Ecke. Es ist niemand mehr da. Ich umrunde eine alte Kommode und durchquere die Gasse, diesmal deutlich vorsichtiger. Dreckige Pflastersteine erstrecken sich vor mir. Ich beginne meine Schritte zu zählen, um meinen Puls wieder etwas herunterzubekommen.
1,2,3,...
Die Gegend wird älter, die Gebäude etwas größer.
22,23,24...
Meine Atmung wird langsamer, ich zwinge mich, nicht mehr an eben zu denken.
39,40,41...
Sowas passiert halt in dieser Gegend mal.
45,46,47...
Doch was, wenn es mit dem Spiel zu tun hat?
Meine Schritte geraten kurz ins Stocken, ich stolpere fast.
Nein, hat es nicht. Das ist absoluter Blödsinn.
Ich zwinge meine Atmung, etwas ruhiger zu werden.
Alles ist gut.
Ich setze mich wieder in Bewegung, den Blick starr auf meine Schuhe gerichtet.
48,49,50...
Der Wind weht durch meine Haare, kurz ist meine Sicht von einem dunkelbraunen Schleier, bestehend aus leicht verwuschelten Strähnen, bedeckt.
61,62,63...
Die Straßenlaternen scheinen hell auf meine Schuhe.
65,66,67...
Plötzlich hören die Pflastersteine auf, werden durch einen geteerten Weg mit lauter Schlaglöchern ersetzt. Mein Blick wandert nach oben.
Ein großes Gebäude erstreckt sich vor mir. Das Dach wirkt so, als könnte es jeden Moment in sich zusammenfallen. Die Wände sind kalt, grau und voller Graffiti, die Fenster eingeschlagen worden. "Sieht doch einladend aus", murmele ich sarkastisch und gehe näher heran. Kurz prüfe ich, ob noch irgendwo Scherben herumliegen, dann klettere ich mit einem leisen Ächzen durchs Fenster. Ein stechender Geruch umhüllt mich. Alles ist voller Staub.
Unsicher versuche ich die Lage einzuschätzen. Die untergehende Sonne wirft lange Schatten, man kann die Staubkörner herumwirbeln sehen. Soweit ich das richtig erkennen kann, liegt trotzdem mehr als die Hälfte der Halle im Schatten verborgen.
Plötzlich nehme ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Ich zucke erschrocken zusammen und spüre, wie mein Kopf gegen die dreckige Wand hinter mir stößt. Verdammt. Eine Welle des Schmerzes pocht gegen meine Schädeldecke und erlaubt es mir nicht, mich zu konzentrieren, geschweige denn die Gestalt ausfindig zu machen.
Ob das der Verfasser der Mail ist? Oder vielleicht doch eher eine Art Mitspieler, der ebenfalls erpresst wird? Schließlich war von mehreren Spielern die Rede.
Abermals kneife ich die Augen zusammen, doch kann wieder nichts als einen Schatten erkennen. "Wer ist da?", frage ich laut. Eine weitere Schmerzwelle durchzuckt meinen Kopf und ich versuche so unauffällig wie möglich, die verletzte Stelle unter meinen Haaren zu ertasten. Sie fühlt sich warm an und schmerzt höllisch, sobald ich leichten Druck auf sie ausübe. Ich bin mir sicher, dass ich die nächsten Tage mit einer Beule herumlaufen darf.
"Wer ist da?", wiederhole ich meine Frage, obwohl diese mich gerade echt in Gefahr bringen kann. Wer weiß, wen ich hier gerade auf mich aufmerksam mache...
Gerade als ich ein genervtes "Hallo?" von mir geben möchte, scheint sich der Raum plötzlich zu verdunkeln, so als...
Nein, das kann, darf nicht sein! Wie konnte ich nur so unvorsichtig sein?
Der Raum scheint sich zu verdunkeln, so als würde jemand direkt hinter mir stehen und das Fenster verdecken. Eine Gänsehaut bildet sich in meinem Nacken, ich spüre, wie ein leichter Luftzug über meine eiskalte Haut streift. Vorsichtig versuche ich mich umzudrehen, doch werde jäh zurück gerissen, als sich eine Hand ruckartig in meinen Nacken bohrt.
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