16/ Lynn
Ein stechender Schmerz zuckt durch meinen Fuß und ich schlage zum dritten Mal seit unserer Flucht auf dem harten Erdboden auf. "Verdammt, was ziehst du auch so dumme Schuhe an?", werde ich von Elody angeschnauzt. Diesmal kann ich nicht Mal etwas gegen ihre genervten Kommentare sagen: Der Schmerz ist so stark, dass mir kurz übel wird. Stöhnend winkle ich meine Knie an und kremple meine Jeans ein Stück nach oben, um den pochenden Knöchel zu begutachten. Er ist jetzt bereits leicht geschwollen und rötlich.
"Kannst du mal aufhören, sie andauernd runterzumachen?", schaltet sich Luke ein. Obwohl er im nächsten Moment schüchtern den Kopf senkt, muss ich leicht lächeln. Es fühlt sich gut an, seine Unterstützung zu haben. "Tschuldigung", murmelt Elody, die sich wohl etwas abgeregt hat, und zieht mich am Arm nach oben. Wimmernd versuche ich, aufrecht stehen zu bleiben, kann den Fuß aber einfach nicht belasten. Verdammt, so komme ich nie nach Hause. Und mir bleibt bestimmt nicht mehr viel Zeit, um Nelly von der Schule abzuholen.
Aus Gewohnheit greife ich an meine Hosentasche, um mein Handy hervorzuholen und auf die Uhr zu blicken, spüre jedoch... nichts.
Erschrocken blicke ich Elody und Luke an, kann sogar kurz den Schmerz ignorieren. "Scheiße", entrutscht es mir, "unsere Sachen". Ich meine in ihren Augen die gleiche Besorgnis zu erkennen, die sich gerade in mir ausbreitet. Wenn wir Pech haben, werden die Sanitäter unsere Sachen, die wir in der Nähe der Aussichtsplattform notdürftig in Büschen versteckt haben, finden. Oder sie haben sie bereits entdeckt.
Auf meinen ganzen Schulheften steht mein Name, sie würden keine Probleme haben, meine Adresse ausfindig zu machen, mich zu finden. "Wir müssen zurück", keucht Elody und ich nicke zustimmend. "Seid ihr verrückt?", stößt Luke aus, "Wir können nicht zurück, hört ihr? Wie sollen wir unauffällig an eure Sachen kommen? Ist euch schonmal aufgefallen, wie wir aussehen?"
Ich zucke zusammen, bin so heftige Aussagen nicht von ihm gewohnt. In Stresssituationen scheint er seine Schüchternheit besser im Griff zu haben.
Aber er hat ja Recht.
Man sieht uns allen deutlich an, dass wir uns pitschnass ans Ufer geschleppt haben und dort sitzen blieben: Unsere Klamotten weisen lauter Dreck auf, sind an manchen Stellen noch nicht richtig getrocknet.
Aber Luke hat gut reden, schließlich hatte er nur sein Handy dabei und konnte dieses kurz nach Marks Sturz einfach mitnehmen. Für mich und Elody sieht es deutlich schlechter aus.
"Einfach weglaufen können wir auch nicht, sonst kreuzt irgendwann jemand bei uns Zuhause auf. Ich weiß nicht, ob sie die Umgebung untersuchen, vielleicht haben wir auch Glück und sie werden es nicht tun. Ich glaube aber nicht, dass das der Fall sein wird. Die finden jemanden, der nicht mehr atmet und niemand weit und breit. Sie werden früher oder später Fragen stellen" Elodys Stimme überschlägt sich fast vor Aufregung. Bevor irgendjemand etwas erwidern kann, macht sie auch schon auf der Stelle kehrt und läuft zurück, zwischen den Dornen hindurch, die wir niedergetrampelt haben. Verdammt, man wird uns auf jeden Fall finden. Dieser Weg, unsere Sachen...Haben wir überhaupt eine Chance?
Ich versuche ihr zu folgen, zucke aber schmerzerfüllt zusammen. Das Pochen in meinem Knöchel setzt wieder ein. "Warte!", rufe ich und humple ein paar Meter, kann sie jedoch nicht einholen.
Seufzend nimmt Luke meinen Arm und legt ihn sich um seine Schulter. "Komm, ich helfe ich dir, bevor du dir noch etwas brichst oder so", meint er, traut sich dabei aber nicht, mich direkt anzuschauen. Irgendwie ganz süß.
Dankbar lächle ich ihn an und wir machen uns auf den Weg.
***
Als wir etwas oberhalb der Lichtung angekommen sind, schmerzt mein Fuß so sehr, dass Lichtpunkte vor meinen Augen flackern und mir teilweise kurz schwarz vor Augen wird. Ironischerweise reißt der Schmerz mich aber immer wieder aus einer Ohnmacht, bevor sie richtig eintritt.
Meine Schuhe kommen mir zu klein vor, der lila-rötliche und dick angeschwollene Knöchel scheint zu groß. Jede einzelne Bewegung ist eine Qual. Ich hasse es, das zugeben zu müssen, aber... "Ich kann nicht mehr", verkünde ich leise, um niemanden auf uns aufmerksam zu machen. Luke nickt nur kurz. "Wie wäre es, wenn du hier sitzen bleibst und ich deine Sachen hole?" Bevor ich protestieren kann, redet er schon weiter. "Ich will nicht, dass du dich noch mehr verletzt. Und, falls du willst, dass ich mich nicht nur für dich in Gefahr begebe: Es geht uns alle etwas an, wenn einer von uns von der Polizei befragt wird und die irgendetwas in Erfahrung bringen. Wir wissen schließlich nicht, was die Konsequenzen dieses Spieles sind."
Es wurmt mich enorm, dass ich seine Hilfe benötige und er alles so plausibel erklärt hat. Ich lasse mir nicht gerne helfen, ich bin froh, wenn ich Dinge selbst auf die Reihe bekomme.
Wie um mir ein Zeichen zu geben, sticht mein Knöchel und ich stöhne auf. "Na gut", murmle ich und füge ein widerwilliges "Danke" hinzu. Eigentlich ist es ja ganz nett, dass er mir helfen möchte.
Er lächelt nur kurz, bevor er zwischen den Bäumen verschwindet. Verschwindet, mich alleine hier sitzen lässt, etwa hundert Meter von dem leblosen Körper entfernt, der bis vor zwei Stunden noch ein Namen, ein Leben hatte.
Das Warten zieht sich unglaublich in die Länge.
Er kommt nicht zurück. Irgendetwas ist schiefgegangen. Die haben sie gefunden, Luke und Elody, ihre dreckigen Sachen gesehen und sie ohne weitere Fragen eingesperrt.
Umso stärker ich versuche, diese Gedanken zu unterdrücken, desto hartnäckiger, gemeiner werden sie. Wie viel Zeit ist vergangen? Nicht Mal das kann ich nachschauen, schließlich habe ich nur die alberne Uhr, mit der alles begonnen hat und die nichts kann, außer Aufgaben zu übermitteln. Anders als Mark hat diese den Sprung ohne jegliche Kratzer überlebt. Ich glaube das frustriert mich am meisten. Zusammen mit der Tatsache, dass Mark schon vor einigen Minuten weggebracht wurde und ich nichts, rein gar nichts tun konnte, um ihm zu helfen.
Verzweifelt vergrabe ich den Kopf in meinen Händen, versuche den nervtötenden Schmerz in meinem Fuß zu ignorieren.
Ich schaue erst wieder auf, als ich höre, wie sich jemand nähert. Ich sollte mich verstecken, aber verdammt, wie soll ich hier bitte schön wegkommen? Ich wüsste nicht, wie ich ohne Lukes Unterstützung laufen könnte. Erschrocken blicke ich mich um, entdecke eine ziemlich blasse Gestalt mit dunklen, leicht feuchten Haaren. Sie trägt zwei Rücksäcke, deren Bändel über den dreckigen Waldboden schleifen. "Elody?", frage ich, meine Stimme zittert leicht. Ihr starrer, verängstigter Blick löscht alle restliche Ruhe in mir aus, lässt nichts als Panik, Chaos zurück. Hinter ihr tritt Luke hervor, kommt langsam auf mich zu und deutet auf Elody.
"Ich habe sie auf dem Weg nach oben eingeholt. Die Gurte, sie sind weg. Da oben war kein Polizist, sie haben sie nicht mitgenommen. Es muss..." Er räuspert sich kurz, man sieht ihm selbst an, dass er es nicht glauben möchte, "Es muss der gewesen sein, der hinter diesem ganzen verdammten Spiel steckt. Er war hier Lynn. Er ist hier irgendwo ganz in der Nähe."
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