15| Elody

"Während des Countdowns habe ich gesehen, dass irgendetwas mit seinem Gurt nicht stimmt. Ich wollte ihn vorwarnen, wirklich, aber er ist einfach gesprungen, bevor ich irgendetwas tun konnte. Oh Gott, ich habe ihn umgebracht!", wimmert Luke. Schon wieder fühle ich mich, als würde alles bereits Vergangene an die Oberfläche kommen, als würde ich es nochmal erleben. Diese Schuldgefühle kenne ich nur zu gut.
"Hey, du kannst doch überhaupt nichts dafür. Wir haben alle nicht rechtzeitig bemerkt, was los ist. Und du hast ihn hier rausgeholt", murmle ich, stocke dann jedoch kurz: "Warte Mal, wie hast du das überhaupt angestellt?"
Und da ist es wieder, das Misstrauen.

"Ich bin sofort hieruntergerannt. Ich dachte er wäre weg, aber dann habe ich ihn dort entdeckt", er deutet mir mit einem Kopfnicken die ungefähre Richtung an und atmet zittrig ein. In der Ferne kann ich Gestrüpp erkennen, welches an einer Seite ziemlich platt gedrückt ist. "Die Strömung scheint ihn irgendwie hierher gespült zu haben, wo ich ihn rausziehen konnte. Aber was bringt das schon, wenn er es jetzt sowieso nicht schafft?", meint der Junge und streicht sich frustriert durch sein nasses, blondes Haar. "Weißt du, er lebte noch, als ich ihn im Wasser packte, seinen Pullover von diesen blöden Dornen befreite. Aber an Land...", er bricht mitten im Satz ab und starrt ins Leere. Ich sehe, wie seine Mundwinkel verdächtig nach unten zucken und er sich schnell mit einem Ärmel ein paar Tränen aus den Augenwinkeln wischt. Verdammt, er wird sich das nie verzeihen können.

Ein Gefühl von vollständiger Hilfslosigkeit übermannt mich, scheint mir die Luft zum Atmen zu nehmen. Ich dachte, dass es heute vielleicht leichter wäre, da ich Mark kaum kenne, älter bin, doch das ist es nicht. Die Tatsache, dass ich zwar älter aber immer noch nutzlos bin und nichts dagegen, dass jemand direkt neben mir stirbt, unternehmen kann, macht alles sogar noch schlimmer.
Mir bleibt keine andere Möglichkeit, als Lynn zu vertrauen.
Doch damals konnten die Sanitäter auch nichts anderes tun, als den kalten, leblosen Körper -den Körper meines Bruders- , in ein Tuch einzuwickeln. Ich weiß noch genau, dass nur seine braunen Locken und ein winziger Fuß darunter hervorschaute, als die Rettungskräfte meine Eltern holten. Wie soll Lynn also etwas schaffen, was selbst Sanitäter nicht geschafft haben?

Sie meint, sie wäre ausgebildet worden. In der Schule. Ich bezweifle, dass der Titel "Schulsanitäterin" hierfür reicht, auch wenn sie die Wiederbelebung mit Ernsthaftigkeit und recht geübter Hand vollführt.
Diese ganze Situation ist doch absurd.
Warum Mark? Warum nicht jemand anderes von uns? Hat er mit Absicht den kaputten Gurt bekommen? Oder...hätte es jeden treffen können?
Eine Gänsehaut breitet sich an meinen Armen aus, die durch die gnadenlose Hitze der Sonne inzwischen wieder trocken sind.

Der Tarne rauscht leise neben uns, wirkt so unschuldig, was das Gefühlschaos in mir nicht besser macht. Ich würde am liebsten schreien, auf etwas einschlagen, mich irgendwo verkriechen und weinen oder mich einfach nur volllaufen lassen, obwohl ich das seit Ewigkeiten nicht mehr getan habe. Am meisten will ich aber nur noch hier weg. Jedoch kann ich nicht, irgendetwas hält mich zurück, einfach aufzuspringen. Vermutlich kann ich nicht zulassen, dass Mark dasselbe Schicksal wie meinem Bruder ereilt. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur zu erschöpft, körperlich wie psychisch, um überhaupt aufstehen zu können.

Ich werfe einen kritischen Blick auf Lynn, die immer noch mit der Wiederbelebung beschäftigt ist. Der Körper unter ihr könnte genauso gut eine Schaufensterpuppe sein. Eine verschrammte Schaufensterpuppe, deren Arm in einem seltsamen Winkel absteht.

Glaube ich wirklich, dass er das alles hier übersteht?

Unwillkürlich muss ich Mark wieder anstarren. Er ist so blass. Sein Gesicht wirkt verzerrt, da seine Wange von einer hässlichen Wunde verunstaltet ist.
"Wir müssen den Notruf betätigen.", kommt es überraschenderweise von Mara.
Immer noch starre ich Marks schneeweiße Haut an, beobachte Lynns Bewegungen. Das Gespräch scheint im Hintergrund abzulaufen.
"Wir müssen den Notruf betätigen und ihr wisst das genau."
Lynn stockt kurz, ihre Gesichtszüge entgleisen. Im nächsten Moment pumpt sie umso verzweifelter und kräftiger weiter. " Wir schaffen das nicht allein", murmelt jetzt auch Luke, wie immer sehr leise und schüchtern, doch trotzdem bestimmt. Er scheint es endlich geschafft zu haben, sich etwas von seinem Schock zu erholen. Seit mir Lynn vor einer Stunde erzählt hat, woher er kommt, hört man, wenn man bei manchen Worten ganz genau lauscht, seinen finnischen Akzent etwas raus.

Laute Stimmen reißen mich aus meinen Gedanken, ich zucke leicht zusammen.
"Den Notruf rufen. Ja klar! Und dann? Was passiert dann mit dem Spiel? Macht euch doch nichts vor! Ihr wisst, dass wir von ihm abhängig sind. Wir müssen...", setzt Dennis an.
"Halt. Deine. Klappe", zischt Luke.
Alle schauen ihn erschrocken an, alle bis auf Lynn, die immer noch verzweifelt pumpt.
Er ist noch nie so laut, so selbstsicher gewesen. Dennis mustert ihn kurz, fängt sich aber schnell wieder und wirft ihm einen verächtlichen Blick zu. "Ach ja? Und seit wann darfst du über unser Schicksal entscheiden?"
"Willst du Mark lieber sterben lassen?
Wenn das Spiel vorbei ist und es sich deswegen an uns rächt, wird immerhin keiner sterben", faucht Luke.
Lynn zuckt unmerklich zusammen, konzentriert sich aber schnell wieder auf die Herzmassage.
Betroffenes Schweigen liegt über uns allen, wird nur durch Lynns Beatmen unterbrochen. Ich meine sie weinen zu sehen. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, ich fühle mich hilfloser als nie zuvor. Nein, Nein, Nein!
Ich will schreien, weinen, die Uhr zerstören, Hauptsache ich kann irgendetwas tun!
30 Mal pumpen. 2 Mal beatmen. Die Zahlen wirbeln in meinen Kopf herum, es scheint alles so unwirklich zu sein. Diese zwei Zahlen sollen ein Leben retten können?
Frustriert grabe ich meine Finger in die Erde unter mir.

Ein unangenehmes Piepen durchbricht die Stille. Ich blicke mich um, kann das Geräusch schnell lokalisieren: Luke hat sein Handy angeschaltet. Seine zitternden Finger wandern zur Notruftaste, die Zeit scheint für einen winzigen Moment stehenzubleiben. Lynn schnauft hinter uns, sie schafft das nicht mehr lange. Wie lange wir wohl schon hier sind? Luke wirft einen knappen Blick auf sie, drückt entschlossen auf die Taste.
Ein Tuten ertönt.
Dennis Blick zuckt unruhig hin und her, bleibt schließlich hasserfüllt an Luke hängen.
Stille.
Mara nestelt nervös am Reißverschluss ihrer Jacke herum, während sich Dennis Hände zu Fäusten ballen.
Noch ein Tuten.
Dann meldet sich eine Stimme. Durch den Lautsprecher klingt sie verzerrt, ist kaum zu verstehen. Luke presst sich sein Handy ans Ohr, seine Knöchel treten weiß hervor.
"Hallo?", fragt er, mal wieder unglaublich leise. "Es gibt hier einen Verletzten, er atmet nicht mehr, wir wissen nicht, was wir noch tun sollen!" Er redet zu schnell, viel zu schnell, wie soll ihn denn irgendjemand so verstehen können? Leise gibt er unseren ungefähren Standort durch, immer noch viel zu gehetzt.
Im nächsten Moment schlägt Dennis ihm das Handy aus der Hand. Es landet auf dem nassen Gras. Unglaublich schnell streckt der schwarzhaarige Junge seine Hand aus und drückt auf Auflegen.
"Spinnst du eigentlich du Idiot? Wir wollen keine Fragen!
Meinst du ernsthaft, die würden uns glauben, dass wir hier spazieren waren, Mark entdeckt und aus dem Wasser gefischt haben? Sie werden so lange nachhaken, bis sie etwas in Erfahrung bringen! Und? Was waren eure Ausreden zu Hause? Wo seid ihr gerade angeblich?", brüllt er, außer sich vor Wut. Verdammt, er hat ja Recht. Schließlich dürfte ich nicht Mal mehr das Haus verlassen. Wenn ich jetzt meinen Eltern erklären müsste, wie ich Mark "gefunden" habe, gäbe das Ärger. Wieder sagt keiner etwas, alle blicken zu Boden, meiden seine Blicke. "Also ich bin hier raus. Wenn die kommen will ich echt nicht mehr hier sein", keift er Luke an und steht auf. Er steht tatsächlich einfach auf und geht! Weg. Verdammt, er ist weg!

Unsicher blicke ich mich um.
Mara erhebt sich langsam, nachdenklich. "Er hat Recht", flüstert sie, "Wir sollten nicht hierbleiben." Fassungslos starre ich ihr hinterher, beobachte, wie ihr rotbrauner Schopf zwischen den Büschen verschwindet.
Man kann kurz noch ihre rote Jacke sehen, die sich zwischen den Ästen hindurchschlängelt, dann wird sie komplett vom Gestrüpp verschluckt. Die Äste hinter ihr bewegen sich leicht im Wind.
Ich habe mich noch nie zuvor so alleine gefühlt.
"Scheiße. Verdammte Scheiße!", schluchzend bricht Lynn über Mark zusammen. " Ich schaffe das nicht. Ich kann ihn nicht wiederbeleben! Ich kann nichts, einfach nichts. Er wird sterben wegen mir, verdammt!", wimmert sie.
Ich stehe ebenfalls kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Uns bleiben vielleicht noch zwei Minuten, dann tanzen hier die ersten Rettungskräfte hier an.
Ich fühle mich furchtbar unter Druck gesetzt. Mark muss Hilfe bekommen, aber Fragen von Rettungskräften helfen uns im Moment auch nicht weiter.

"Wir müssen abhauen", schallt eine Stimme über die Wiese. Meine Stimme.
Lynn unterbricht ihr Schluchzen kurz, schaut nach oben. "So helfen wir Mark mehr", versuche ich meinen feigen Rückzug zu rechtfertigen, " Er wird auch in Schwierigkeiten kommen, wenn wir zu viele Fragen beantworten. So wird er einfach sagen können, dass er sich an nichts erinnert." Mit einem leisen Wispern füge ich hinzu: "Wenn er Glück hat, stimmt das vielleicht sogar."
Langsam nickt Lynn, auch Luke scheint Einsicht zu haben.
Ihnen gehen Dennis' Worte auch nicht mehr aus dem Kopf.
Ich gehe auf Lynn zu, helfe ihr auf, was gar nicht so einfach ist:
Ihre manikürten Finger krallen sich verzweifelt an Mark fest. "Wir dürfen ihn nicht hier lassen", murmelt sie immer wieder. Ihre Ausbildung zur Sanitäterin scheint gut gewesen zu sein. Zu gut.
"Wir dürfen ihn hier nicht liegenlasen", wiederholt sie, diesmal mit mehr Nachdruck, trotzdem folgt sie mir nach einem letzten Blick auf den leblosen Körper.
Auch Luke rappelt sich auf.
Zusammen bahnen wir uns einen Weg durch die Büsche, folgen der kleinen Spur von niedergetrampelten Dornen, die Mara und Dennis hinterlassen haben.
Eine Sirene ertönt und wir beginnen zu rennen.

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