14| Elody

Zusammengekauert sitzen wir am Ufer, während unsere nassen Klamotten die sandige Erde unter uns dunkel verfärben. Meine Arme schlingen sich zitternd um meinen Oberkörper, ich versuche zumindest den Saum meines T-Shirts auszuwringen. Alle um mich herum sind bleich, geschockt. Das Rauschen des Flusses kommt mir bösartig vor, so als wolle er sich über unseren Verlust lustig machen.

Sofort versinke ich wieder in Gedanken.
Sehe Mark, wie das eiskalte Wasser ihn verschluckt. Der Ast, der über ihn hinweggetrieben ist, ihn verschwinden ließ. Schwarze Haare, die untergehen. Arme, die verzweifelt in die Höhe gereckt werden, um Hilfe flehen.
Plötzlich werden die Haare heller, verwandeln sich in ein lockiges braun, auch die Arme werden rundlicher. Kindlicher.
Nicht mehr Marks, sondern seine braunen Augen starren mir flehend entgegen.

Grimmig schüttele ich den Kopf und erhebe mich, versuche die feuchte Erde aus meiner Kleidung zu reiben, was alles nur noch schlimmer macht und dreckige Flecken auf meiner Jeans hinterlässt. Ich muss aufhören, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu vergleichen, es ist schon so lange her seit der Sache mit meinem Bruder. Meine Schuhe geben ein nerviges Schmatzen von sich, als ich einen Schritt nach vorne mache.

Die Anderen blicken mich an.
Alle, bis auf Luke.
Keiner weiß so genau, wo er abgeblieben ist. Er ist nicht gesprungen, das steht fest, schließlich hängen nur vier Gurte über dem Wasser. Vier Gurte und ein kaputter.
Kurz stutze ich. Er ist verschwunden, ungefähr in dem Moment, in dem Mark gesprungen ist.

Was, wenn er Schuld daran trägt?
Wenn er dieses Spiel inszeniert hat, uns hierher gelockt hat, um Mark zu töten?
Aufregung packt mich.
Was, wenn es wirklich so war?
Aber...
Warum dieser große Aufwand?
Und woher kennt er Mark?
Und eine besonders wichtige Frage bleibt noch:
Was hat Mark ihm angetan, dass er zu so etwas bereit ist?

Mir wird eiskalt, diesmal jedoch nicht wegen der leichten Brise, die über meine nassen Klamotten streicht. Ich weiß nicht, wozu meine Mitspieler fähig sind.

Dieser Gedanke macht mir furchtbare Angst. Wir sind Gegner, ich darf ihnen nicht vertrauen. Entschlossen schüttle ich den Kopf. Vermutlich ist das genau das, was das Spiel will. Wenn wir auch noch gegeneinander kämpfen, bekommt es viel schneller das, was es möchte: Einen Gewinner. Es kostet mich einige Überwindung, von meiner Paranoia loszulassen, danach fühle ich mich aber etwas besser. Ich bin nicht alleine, die anderen müssen ebenfalls diese Hölle durchstehen. Vielleicht könnte man sie überzeugen, gemeinsam nach dem Spielleiter zu suchen?
Schon jetzt tut es mir leid, Luke überhaupt verdächtigt zu haben.
Ich sollte mir eher Sorgen um ihn machen, schließlich hat er verweigert, das Level zu absolvieren.
Aber...wo ist er jetzt?

Unruhig und genervt stapfe ich auf und ab, als meine Zweifel wieder einsetzen. Ich nehme mir vor, erstmal eine Erklärung von dem blonden Jungen abzuwarten, bevor ich ihn verurteile. Abwarten. Was anderes wird mir wohl nicht übrigbleiben.
Ich spüre ein leichtes Kribbeln in meinem Nacken und drehe mich schnell herum. Mara beobachtet mich von ihrem Platz aus. Ihre rötlichen Locken liegen platt an ihrem Kopf an, ein paar kräuseln sich an der Stirn. Ihre Augen sind genauso undurchdringlich, gruselig wie sonst auch, doch diesmal wirkt sie zusätzlich...feindselig. Ja, das ist das richtige Wort.
In diesem Moment frage ich mich, warum ich sie aus meinem Blickfeld verschwinden habe lassen. Ich bin mir sicher, dass sie eine der manipulativsten und unberechenbarsten Personen dieser Gruppe ist. Und sie war diejenige, die mit den Uhren ankam.

Frustriert raufe ich mir die Haare. Luke und jetzt auch noch Mara. Ich sollte ihnen vertrauen und endlich aufhören sie zu verdächtigen. Jedoch kann ich das einfach nicht. Nicht, solange sich Maras eisblaue Augen sich direkt durch mich durchzubohren scheinen.

Mit einem mulmigen Gefühl gehe ich weiter auf und ab.

Die Steine unter meinen Füßen geben bei jeden Schritt ein knirschendes Geräusch von sich.
Ich werfe einen schnellen Blick über meine Schulter. Mara hat sich kein Stück bewegt, blickt mich aber nicht mehr an.
Gut.

Etwas beruhigter setze ich meinen Weg fort. Meine nassen Socken kleben an meinen Füßen, meine Schuhe quietschen. Ich bin wirklich froh, dass ich meinen Ranzen und somit auch mein Handy nicht dabeihatte, während wir gesprungen sind, sondern ihn in einem Gebüsch versteckt habe.
Vorsichtig begebe ich mich auf eine kleine Anhöhe und versuche den Platz zu überblicken. Unter mir befindet sich eine kleine Bucht, in der Mara, Dennis und Lynn immer noch bibbernd sitzen. Links neben uns führt ein kleiner Weg in Richtung Aussichtsplattform. Bei dem Gedanken daran, dass ich diese gerade eben einfach so hinabgesprungen bin, wird mir übel. Das sind locker 20 Meter gewesen. Vielleicht ist dies nicht tödlich, aber schwer verletzt ist Mark auf jeden Fall. Und es gibt immer noch die Strömung, die mich unter Wasser nur fast gepackt, ihn jedoch komplett mitgerissen hat.
Schnell laufe ich den Hügel wieder hinab, bahne mir einen Weg zwischen den vereinzelten Büschen hindurch. Vorsichtig steige ich über die Wurzel eines Baumes, der seine knorrigen Äste stolz dem Himmel entgegenstreckt.
Mein T-Shirt riecht nach dem Flusswasser: Muffig, leicht nach Wasserpflanzen. Angeekelt rümpfe ich die Nase. Das werde ich Zuhause definitiv nicht erklären können. Zuhause. Allein dieses Wort macht mir schon Angst. Schließlich habe ich Hausarrest. Wenn ich nicht rechtzeitig in meinem Zimmer bin, dann...Ich will den Gedanken nicht zu Ende denken.

Ein Windstoß lässt ein paar lose Blätter auf mich hinabrieseln, trägt eine leise Stimme zu mir.
Schnell zupfe ich mir die Blätter aus den Haaren und lausche angestrengt, während die kalte Luft eine Gänsehaut auf meinen immer noch leicht nassen Armen verursacht.
Wieder pfeift der Wind durch die Äste des Baumes.
Die Stimme wird lauter.
Unsicher wanke ich darauf zu.
Erkennen kann ich niemanden, das Gestrüpp, dass sich tief am Ufer verwurzelt hat, gewährt mir kein Schlupfloch. Energisch schiebe ich ein paar Äste beiseite und bahne mir ein Weg durch die Dornen ins Innere.
Die Pflanzen dämpfen die Geräusche des Flusses, es wird von einen Moment auf den anderen gespenstisch still.

Unsicher wage ich mich ein paar Schritte weiter, bedacht darauf, dass die Dornen mich nicht berühren.
Äste zerbrechen unter meinen Füßen, das laute Knacken klingt unnatürlich laut.
Es ist, als befände ich mich in einer anderen Welt. Ein bisschen Tau glitzert auf den Pflanzen, die Sonne scheint durch die Blätter der Bäume, zaubert hübsche Muster auf die sandige Erde.
Plötzlich taucht Mara neben mir auf und reißt mich aus meinen Gedanken. Ihre rote Jacke hebt sich deutlich vom braun der Äste ab, zerrt mich zurück in die Realität.
Sie drängt sich an mir vorbei, blickt sich hektisch um.
"Von wo kam das?"
Ich zucke als Antwort nur mit den Schultern, während ich höre, dass Lynn und Dennis sich ebenfalls zu uns durchkämpfen.

Die Stimme ist verstummt. Ich kann nichts mehr hören bis auf das stetige Rascheln der Blätter, was mich viel unruhiger macht, als wenn da tatsächlich ein weiterer Schrei gewesen wäre. Ich beschleunige meinen Schritt und schlage die Äste etwas schneller zurück. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Mara ebenfalls an Tempo zulegt. Dicht nebeneinander preschen wir durch das Gebüsch. Mara rennt nun fast. Auch ich beginne, ein noch höheres Tempo an den Tag zu legen, ignoriere die schmerzhaften Kratzer, die mir die Dornen verpassen.
Die Stimme ertönt plötzlich wieder, wird immer verzweifelter.
Unsere Füße fliegen förmlich über den Boden, auch wenn ausgerechnet jetzt mein Muskelkater zurückkehrt: Meine Beine schmerzen und ich stolpere nun schon zum dritten Mal fast über eine Wurzel.
Die Pflanzen lassen nun mehr Licht durch, man kann das Rauschen des Flusses wieder hören.
Ich springe über eine Wurzel, lege einen Endspurt ein.
Im nächsten Moment ergießt sich grelles Sonnenlicht über mich, lässt mich geblendet blinzeln.

Die Stimme ist nun klar, unmittelbar in meiner Nähe.

Ich schlage die Augen auf.
Vor mir, im hohen Gras knieend, befindet sich Luke.
Neben ihm liegt Mark.
Fassungslos blicke ich in sein blasses, blutiges Gesicht. Sein einer Arm steht in einem seltsamen Winkel ab und weißt wie der andere einige Schrammen auf.

Ich meine auch bei Mara eine ähnlich geschockte Miene erkennen zu können, doch im nächsten Moment hat sie wieder ihren üblichen abweisenden Ausdruck im Gesicht.
Sie nickt mir zu.
Sofort stürmen wir beide auf die Jungs zu, lassen uns neben Luke ins Gras fallen. Einige Grashalme piksen schmerzhaft durch meine verdreckte Jeans hindurch.
All diese Eindrücke in mich aufzusaugen, hat mich kaum Zeit gekostet.
"Er atmet nicht mehr, egal was ich mache", keucht Luke verzweifelt.
Trotzdem war es zu lang.

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