11| Elody

Genervt wippe ich mit den Füßen auf und ab, während Frau Rinkel versucht der Klasse irgendwelche mathematischen Gleichungen zu erklären. Die Sonne scheint prall durch das große Fenster. Die Hälfte der Klasse blickt sehnsüchtig nach draußen, man merkt ihnen deutlich an, dass sie keine Lust auf Nachmittagsunterricht haben.

Irgendwie komisch.
Ich habe mein Leben riskiert, um mein Geheimnis zu bewahren und jetzt sitze ich im Unterricht als wäre nie etwas passiert. Irgendwie hoffe ich, dass es so ist. Dass nie etwas passiert ist, dass alles nur mal wieder meiner dummen Fantasie entsprungen ist.
Alles ist wieder so wie früher.
Sonst funktioniert dieses Wunschdenken immer, doch heute ändert sich meine Stimmung nicht. Die Erinnerung an meine Wut, meine Verzweiflung ist einfach noch zu frisch. Vorsichtig lasse ich meinen Blick an meinem Ärmel hinab wandern.
Die Uhr erscheint unendlich schwer an meinem Handgelenk. Ich wünschte, ich könnte sie einfach loswerden. Wegschmeißen, das Spiel einfach vergessen. Im nächsten Moment beginnt es auf dem Display kurz zu blinken. Wie eine Warnung.
Ich lache auf, es passt einfach zu gut.
Als könnte sie meine Gedanken lesen.

Mein Lachen wird leiser, unsicherer. Einen kurzen furchtbaren Moment habe ich Angst, dass es wirklich so ist.

Entschlossen schüttele ich den Kopf.
Wenn das so weiter geht, sehe ich bald einen Außerirdischen aus der Tafel herausspringen. Diesmal muss ich lauter Lachen, was mir einen genervten Blick von Frau Rinkel einbringt.

Schuldbewusst schlage ich mein Heft auf und versuche mich auf den Unterricht zu konzentrieren, doch immer wieder schweifen meine Gedanken ab.
Diese Uhr...
Ich muss wissen, was sie alles kann.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Jason mir die ganze Zeit besorgte Blicke zuwirft. Ich starre zurück, kurz treffen meine braunen auf seine grauen Augen. Schnell wende ich meinen Blick ab, da ich mich bei so intensiven Blickkontakt einfach unwohl fühle.
Vielleicht kann ich ihn aber fragen. Wegen den Uhren.
Ich glaube er hat mal erzählt, dass er ganz gut mit Technik klarkommt.
Doch was soll ich ihm sagen?

Hey, ich habe dich zwar bisher nur angemotzt und ziemlich deutlich gemacht, dass ich dich nicht leiden kann, aber kannst du mir bitte trotzdem helfen? Womit? Ach, nur mit einer Uhr, die ich mir nie im Leben leisten könnte, was du auch genau weißt.

Unsicher schiele ich zu Jason. Er hat seinen Blick stur auf sein Mathebuch gerichtet. Meine Schultern sacken herunter, mir wird bewusst wie alleine ich eigentlich bin.

Ich kann niemanden von diesem Spiel erzählen.
Ich bin komplett auf mich allein gestellt. Es fühlt sich an als hätte man mir einen Schlag in die Magengrube versetzt. Verzweiflung kommt in mir auf, ich schiebe meine Mathesachen missmutig von mir. Wie es den anderen Spielern wohl mit dieser Regel geht? Und ob sie sich daran halten? Sie müssen einfach, sonst bringt uns das alle in Gefahr.

Plötzlich nehme ich eine Bewegung auf dem Schulhof wahr. Ich bemerke vor lauter Erleichterung gar nicht, wie sich ein Lächeln auf mein Gesicht stiehlt. Wenn man vom Teufel spricht...

Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf, was die Aufmerksamkeit aller auf mich richtet. Sobald ich stehe, kehrt der heftige Muskelkater in meinen Beinen zurück. "Ähm...Mir geht es nicht so gut. Darf ich kurz raus, frische Luft schnappen und so?", bringe ich gerade so hervor. Frau Rinkel nickt, während Jason sich umdreht und wissen möchte, ob er mit gehen soll. Ein leises Kichern geht durch die Klasse und ich laufe rot an. Wirklich nett von ihm, aber er kann nicht mit!

"Ne, das geht schon, danke", murmle ich und schiebe mich an den Tischen vorbei. Selbst durch die geschlossene Tür kann ich hören, wie alle sich darüber lustig machen, dass Jason vor der gesamten Klasse eine Art Korb bekommen hat.


***


"Dennis!", keuchend versuche ich den hageren Jungen aufzuholen. "Was?", fährt er herum. Kurz liegt auf seinem Gesicht ein Ausdruck, den ich nicht so ganz deuten kann, doch dann weicht dieser seinem typischen ausdruckslosen Blick. "Hey, Dennis, kennst du die?", ruft ein Junge, der gerade aus der Mensa tritt. "Ne, keine Ahnung was die will. Einen Moment, ich muss sie kurz loswerden. Geh' schonmal vor!", ruft Dennis. Während ich ihn verwirrt anstarre, verschwindet der Junge kopfschüttelnd. "Was machst du hier? Ging das nicht etwas diskreter?", werde ich augenblicklich angefaucht. Wild gestikulierend deutet Dennis auf den nun leeren Mensaeingang. "Das ist der Bruder meiner Freundin. Und sie wird verdammt schnell eifersüchtig. Also wäre es echt toll, wenn ich sie nicht schon wieder davon überzeugen muss, dass ich keine geheime Affäre habe. Außerdem", er legt mir einen Finger auf die Lippen, bevor ich etwas erwidern kann, "ist es gefährlich, wenn andere versuchen, eine Verbindung zwischen uns herzustellen. Am Ende fliegt das ganze Spiel noch auf und dann sind wir dran!" Ich starre ihn stumm an. Seltsamerweise ist mein einziger Gedanke "Der hat eine Freundin?". Ich meine klar, hässlich ist er nicht, aber seine Art ist ja nicht gerade...fürsorglich und höflich. "Ich habe mir schon gedacht, dass du mich ansprichst, ich meine, klar, es gibt ja auch viel zu besprechen", sagt er, während ich ihn mustere, mich frage, was seine Freundin wohl so toll an ihm findet. Warum zum Teufel hat er eine Beziehung und ich nicht? Immer noch verwundert blicke ich ihn an, höre ihm nur mit halben Ohr zu. "Vermutlich blockt er nicht jegliche Zuneigung sofort ab", meldet sich eine fiese Stimme in meinem Kopf.
Plötzlich wird mir ein Zettel in die Hand gedrückt, was mich aus meinen Gedanken reißt. Während Dennis mit großen Schritten in der Mensa verschwindet, blicke ich kurz auf die Telefonnummer, bevor ich das Stück Papier tief in meiner Jackentasche versenke und den Rückweg antrete.

***

Obwohl Mathe zu meinen Lieblingsfächern zählt, kann ich mich einfach nicht mehr konzentrieren. Jason wirft mir ab und zu seltsame Blicke zu, die ich mit einem aufgesetzten Lächeln quittiere.
Er gibt sich damit zufrieden.
Meine Mundwinkel bleiben bis zum Ende der Stunde oben, viele, die meinem Blick begegnen, lächeln zurück.
Es ist beunruhigend, dass keiner mitbekommt, wie es mir eigentlich geht. Somit wird mir nur noch mehr bewusst, wie isoliert ich bin.

Im Ernstfall wird mir keiner helfen
Sie wissen ja noch nicht mal, wann ein Ernstfall ist. Ich könnte bereits tot sein. Langsam aber sicher fängt mein Lächeln an zu bröckeln.
Als auf meiner Uhr pünktlich zum Gong eine Nachricht erscheint, sinken meine Mundwinkel komplett nach
unten.

Vorsichtig wage ich einen Blick auf das Display und erstarre. Wie kann das sein, woher weiß der Spielleiter davon?

Die Schülermassen strömen hinaus, doch ich rühre mich nicht von der Stelle. Frau Rinkel erscheint vor mir, redet auf mich ein.
Ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagt.
Ihre Lippen bewegen sich, doch es scheint nichts herauszukommen.
Irgendwie faszinierend, wie ich mich fast vollständig von meinem Körper gelöst habe.
So als würde ich nicht dazugehören.
Das Einzige, was ich höre, sind meine Gedanken. Vor meinem inneren Auge spielt sich alles nochmal ab, wie ich die erste Mail bekommen habe. Wie unheimlich mir Mara vorkam, wie heftig mich Dennis an die Regeln erinnerte.
Und jetzt diese Nachricht auf der Uhr...

Frau Rinkel wedelt vor meinem Gesicht herum, tippt mich leicht an.
Gewaltsam werde ich zurück in meinen Körper katapultiert. Im nächsten Moment fühle ich mich, als würde ich fallen, mir wird furchtbar übel. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Schnell stammle ich ein leises "Entschuldigung" und stolpere auf wackligen Beinen in Richtung Mädchenklo hinaus.
Ich schaffe es gerade noch durch die Tür, dann breche ich mein gesamtes Mittagessen wieder aus.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top