10| Lynn

Meine leicht hochhackigen Schuhe baumeln in der Luft, während ich mit zusammengekniffenen Augen in der Sonne sitze. Plötzlich lässt sich jemand neben mich auf die Mauer fallen und hält mir einen Kaffee hin. "Leon, du bist ein wahrer Schatz", murmle ich und nehme das warme Getränk dankbar entgegen. "Ich weiß", grinst mein Gegenüber. Ein schelmisches Funkeln liegt in seinen hellbraunen Augen, doch im nächsten Moment blickt er bereits wieder nachdenklich durch die Gegend. Spätestens als sein Blick als verträumt zu bezeichnen ist, weiß ich, wer sich irgendwo am anderen Ende des Schulhofes befinden muss. "Nicht schon wieder!", seufze ich auf. "Ich kann doch nichts dafür! Sie ist einfach nur...perfekt. Ich weiß, ich weiß, ich habe keine Chance", kommt die schnelle Antwort. Plötzlich weiten sich Leons Pupillen vor Entsetzen. "Oh Gott, sie kommt! Sie kommt genau auf uns zu! Was soll ich sagen? ", keucht er, was mich zum Lachen bringt. "Bitte. Du weißt, wie schwer es in ihrer Anwesenheit ist, die richtigen Worte zu finden! Lynn, bitte, du kannst mich doch nicht einfach so hängen lassen", stößt er entrüstet aus, während er mich flehend anblickt.
Für eine lange Zeit hat sich hartnäckig das Gerücht gehalten, dass Leon schwul sei, nur weil er so viel mit mir und anderen Mädchen abhing und sein Herz auf der Zunge trug. Es war erschreckend, wie viel Hass er deswegen abbekommen hat. 

Ein theatralisches Aufseufzen reißt mich aus den Gedanken. "Bitte, du musst mich retten", flüstert Leon. "Du kriegst das schon hin", wispere ich und werde prompt in die Seite geboxt. Jedoch bleibe ich felsenfest bei meiner Aussage und gebe kein weiteres Wort von mir, sondern beobachte nur stumm, wie das Mädchen immer näher kommt.

"Hey Elani", entrutscht es Leon. Eine Oktave zu hoch und eine ganze Spur zu laut. Ich muss mir das Lachen wirklich verkneifen und versuche meinem Freund zuliebe möglichst seriös auszusehen, während das Mädchen vor uns stehenbleibt. Ihre dunklen, fast schwarzen Augen verleihen ihr ein freundliches, sanftes Aussehen, während ihre an den Spitzen lila gefärbte Cornrows ihr Temperament hervorheben.

Plötzlich nistet sich ein Gedanke in meinem Kopf ein und lässt mich nicht mehr los. Wie Gift breitet er sich in meinem ganzen Körper aus, egal wie sehr ich versuche, ihn abzuschütteln. Elani hätte ihre Familie nie so im Stich gelassen.
Unruhig zapple ich mit den Füßen, während Leon es doch tatsächlich schafft, sich mit seiner Angebeteten zu unterhalten.
Ich habe versagt.
Obwohl ich mir geschworen habe, nicht mehr an das Spiel zu denken, die Schule als Tabuzone fungieren zu lassen, ist in meinem Kopf kein Platz mehr für andere Sachen.
Ich habe versagt und nun ist Nelly ist in Gefahr.
Wehmütig schaue ich zu meinem besten Freund, der meine Laune den ganzen Tag über Wasser gehalten hat und spüre, wie die Uhr an meinem Handgelenk immer schwerer zu werden scheint. Schnell öffne ich sie und stopfe sie in meinen Ranzen. Ich will sie nicht mehr sehen, nicht mehr fühlen. Rasch springe ich von der Mauer und schmeiße meinen Kaffeebecher in den Müll, obwohl ich ihn kaum angerührt habe. Ich kann nicht mehr, brauche Hilfe, warum sieht das denn niemand? Fast schon beleidigt beobachte ich Leon. Er kann ja nichts dafür, dass er nicht weiß, was los ist, aber ich brauche ihn. Doch statt bei mir zu sein, flirtet dieser Chaot doch tatsächlich mit Elani. Oder zumindest versucht er es. Zum Glück ist das Mädchen so höflich, seine gestotterten Komplimente anzunehmen und ihn nicht bloßzustellen.

Als es zur nächsten Stunde klingelt, kommt er freudestrahlend auf mich zu. "Hast du das gesehen? Ich habe mit ihr geredet!" Bei seinen nächsten Worten habe ich bereits abgeschaltet. Ich würde normalerweise genauso wie er aus dem Häuschen sein, schließlich hat er schon von Elani geschwärmt, bevor wir uns kennengelernt haben, was auch schon über sieben Monate her ist. Damals war er noch ziemlich still, das waren wir beide, aber irgendwie haben wir es geschafft, unser Selbstbewusstsein gegenseitig zu pushen.
Seine honigbraunen Augen funkeln mich erwartungsvoll an, anscheinend ist er mit seinem tausendsten Vortrag über Elanis Schönheit und Anmut fertig und wartet auf meine Zustimmung.
"Ja, echt toll", lächle ich leicht, stoße mich von der Mauer ab und laufe los. Augenblicklich ist dieses blöde Spiel wieder das einzige was in meinem Kopf herumschwirrt. Für andere Gedanken ist einfach keinen Platz mehr.
"Hey, freust du dich denn gar nicht für mich?"
Was, wenn Nelly etwas passiert? Das würde ich nicht aushalten!
"Jaja", murmle ich und laufe zügig weiter.
"Hey, du hörst mir ja gar nicht richtig zu! Erde an Evelyn!", ruft Leon. Der Idiot weiß genau, wie er meine Aufmerksamkeit bekommt"Lynn. Ich heiße Lynn" , grummele ich und boxe ihn. Nicht gerade sanft.
"Autsch", ruft er aus, während ich entsetzt auf meine Hand starre. Vorsichtig packt er diese, öffnet meine Faust und blickt mich an. "Hey, was ist mit dir los? Du benimmst dich extrem komisch. Schon den ganzen Tag. Ist es wegen deiner Mutter?" Vorsichtig senkt er seine Stimme. "Ist ihr Neuer wirklich so schlimm? Ist er bei euch eingezogen? Hat er dir irgendetwas getan? Ich schwöre dir..."
"Nein, es ist nicht der Neue", setze ich an und runzle die Stirn, "Warte, woher weißt du jetzt schon wieder davon, dass sie einen Neuen hat? Das weiß ich selbst erst seit diesem Wochenende und ich habe dir noch überhaupt nicht von ihm erzählt!"  Um genau zu sein hatte ich ganz andere Probleme und habe nicht einen Gedanken an den neusten Verehrer verschwendet. Langsam sind mir all diese "Traumtypen" wirklich egal, soll meine Mutter doch machen, was sie möchte.
Er winkt ab. "Frau Schneider hat es meiner Mutter erzählt."

Natürlich. Die alte Frau hat nichts besseres zu tun, als den ganzen Tag am Fenster zu sitzen und jeden zu beobachten, der das zwölfstöckige Gebäude, in dem wir leider auch wohnen, betritt. Manchmal hasse ich sie dafür.
Ich blicke Leon genervt an, woraufhin er entschuldigend lächelt. "Tut mir leid, du weißt ja, wie diese Frau ist. Und meine Mutter kann Geheimnisse immer so schlecht für sich behalten...Warte Mal, hey, du hast versucht mich abzulenken! Also, was ist wirklich los?"
Mist, hier sind wir also wieder: Ich brauche seine Hilfe, er ist sogar bereit mir zu helfen, aber ich darf ihm nichts sagen. Erzähle niemandem vom Spiel oder du bringst ihn in Gefahr. "Ich...mir geht es heute einfach nicht so gut"
 Er scheint nicht überzeugt. Zu Recht.
"Nelly ist krank!", rutscht es mir heraus. Verdammt, das ist eine blöde Lüge. Leon wohnt quasi zwei Häuser von uns entfernt, Nelly müsste nur vor die Tür gehen und ich würde auffliegen.
"Nicht sehr. Aber es war trotzdem stressig heute morgen", versuche ich mich zu retten. Zum Glück deutet uns ein Lehrer mit einem Handzeichen an, dass wir uns beeilen müssen, bevor ich mich noch weiter in meinen Lügen verstricken kann. Hastig schiebe ich mich an dem verdutzten Leon vorbei und rufe ein kurzes "Bis später", bevor sich unsere Wege trennen.

***

Französisch ist wie immer katastrophal, trotzdem war ich noch nie zuvor so kurz davor in Tränen auszubrechen. Was bekomme ich eigentlich auf die Reihe? Meine Schwester bringe ich in Gefahr, nur weil ich einen verdammt schlechten Orientierungssinn habe und jetzt kriege ich nicht Mal mehr die simpelsten Sätze übersetzt, während Leon in seinem Lateinkurs wahrscheinlich Mal wieder glänzt. Missmutig stütze ich meinen Kopf auf die Hände und starre zu meinen Sitznachbarn. Maries Arbeitsblatt ist unter ihrer wilden Lockenmähne verborgen, abschreiben ist also keine Option. Aber sie kann ich auch nicht nach den Lösungen fragen, schließlich habe ich ihr letztes Jahr erst klargemacht, dass ich nichts mehr mit Leuten wie ihr zu tun haben möchte. Leuten, die mich in Schwierigkeiten bringen und mich dann alles alleine geradebiegen lassen.
Genervt schüttle ich den Kopf, um nicht mehr daran zu denken und versuche halbherzig, mich an irgendwelche Vokabeln zu erinnern. Selbst wenn sie mir einfallen, bringt mir das nicht viel, weil ich am konjugieren scheitere. Echt wundervoll.
Verzweifelt versuche ich die Wut, die sich anscheinend seit gestern Abend in mir angestaut hat, zu unterdrücken. Warum kann ich nicht einfach einen kühlen Kopf bewahren? Das würde mir gerade deutlich mehr bringen!

Marie schaut mich fragend an. Erst als sie sich genervt räuspert, bemerke ich, dass ich wieder zu ihrem Blatt geschaut habe. "Tut mir leid", murmle ich, "habe nur nachgedacht, ich wollte nicht abschreiben oder so".  "Alles okay."
Etwas betreten starren wir uns an. Vermutlich erinnert sie sich gerade auch daran, wie gut wir befreundet waren, bevor...das Ereignis passiert ist. "Lynn, ich weiß-", setzt sie an, wird jedoch von unserem Lehrer unterbrochen. "Bitte etwas mehr Ruhe!"
Unsere Köpfe drehen sich augenblicklich zurück zu unseren Arbeitsblättern, schließlich hatten wir uns sowieso nichts zu sagen. Uns beiden war klar, dass unsere Freundschaft nicht mehr halten würde. Ein kleiner Teil in mir hofft jedoch immer noch auf ein Entschuldigung, um zurückkehren zu können. Das Vertraute, Unbeschwerte zwischen uns, die Bequemlichkeit sich immer auf jemanden verlassen zu können.
Fast immer.
Nun widme ich mich wirklich wieder meinem Arbeitsblatt.

Plötzlich wird die Stille des verhältnismäßig kleinen Klassenraums mit einem Brummen durchbrochen. Sofort herrscht Aufregung zwischen den Schülern, da ein klingelndes Handy einen Kuchen für die Klasse vom Besitzer des Gerätes bedeutet. Kuchen, das wäre tatsächlich etwas, was ich im Moment gebrauchen könnte. 
Marie stupst mich vorsichtig an "Lynn, ich glaube das kommt aus deinem Ranzen".
Reflexartig fährt meine Hand in meine Jackentasche, wo ich sofort mein Handy ertaste, welches definitiv ausgeschaltet ist. "Nein, das kann nicht s-", setze ich an. Verdammt.
Das Brummen verstummt zwar - und somit auch die Aufregung in der Klasse-, doch meine Gedanken sind lauter als je zuvor. 
Es kam aus meinem Ranzen, genau von dort, wo ich meine Uhr hingelegt habe.
Reglos sitze ich auf dem unbequemen Stuhl und starre ins Leere. 
Willkommen in Level 2.

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