1| Elody
Vorsichtig schließe ich die Tür hinter mir, verfluche das Klacken, das durchs ganze Haus zu dröhnen scheint, als sie ins Schloss fällt. Angespannt versuche ich meinen Atem zu beruhigen, der durch den steilen Rückweg immer noch keuchend geht und alle anderen Geräusche zu übertönen scheint. Als sich mein Puls endlich beruhigt hat, begrüßt mich eine unangenehme Stille, nur vom Ticken unserer alten Wanduhr gestört. Unruhig wippen meine Zehen in den Schuhen auf und ab und erzeugen leise, dumpfe Geräusche auf dem Teppich im Eingangsbereich.
Ich lausche in den Flur hinein, höre jedoch immer noch nur das hin und her schwingende Pendel der Uhr, welches mich langsam aber sicher in den Wahnsinn zu treiben scheint. Ungeduldig schaue ich auf meine Füße und sauge die Luft ein, die im Vergleich zur klirrend kalten Nachtluft, welche ich immer noch in meiner Lunge zu spüren scheine, stickig wirkt.
Nach einer angemessenen Wartezeit von etwa zwei Minuten beschließe ich, dass ich nicht ewig im Eingangsbereich stehen könne und das Risiko eingehen müsse. So leise wie möglich hänge ich meine Jacke an die hölzerne Garderobe und begebe mich begleitet vom Ticken der Uhr zum Schuhregal. Gerade als ich mir meine heißgeliebten roten Chucks von den Füßen streichen will, ist ein Rascheln zu hören. Ich drehe mich erschrocken um und muss hilflos zusehen, wie meine Jacke zu Boden fällt und der Reißverschluss mit einem stumpfen Geräusch auf dem gefliesten Boden aufschlägt. Verdammt. Mein Vorhaben war von Anfang an zum Scheitern verurteilt und jetzt würde ich auffliegen, bei dem unruhigen Schlaf meiner Mutter.
Aber was hätte ich den tun sollen? Nachts alleine zu dem Haus eines Fremden und anschließend auch wieder ohne Begleitung zurückzulaufen hätten mir meine Eltern nie erlaubt. Ich hasse es, mich ihnen zu widersetzen, es ist so schon schwer genug für uns alle, aber irgendwie fühlte ich mich gezwungen zu dieser Party zu gehen. Im Endeffekt waren nicht viele da, weswegen es viel gemütlicher und lustiger als gedacht wurde und die Feier wahrscheinlich bald in Vergessenheit gerät. Aber woher hätte ich das denn bitte schön wissen sollen? Das letzte mal, als ich eine Party abgesagt habe, war sie laut den Leuten aus meiner Klasse "legendär" und es wurde noch zwei Wochen später darüber geredet, während ich vollkommen außen vor war. Außerdem wird mir immer wieder gesagt, ich müsste "endlich meinen Eltern entkommen", auch mal "etwas selbst schaffen."
Obwohl mich dieser Kommentar normalerweise nur nervt, habe ich ihn diesmal ernst genommen. Was daran liegen könnte, dass er von meiner besten Freundin Luna, die sonst immer auf meiner Seite ist, stammt und es mir einen Stich versetzt hat, von ihr "lahm" genannt zu werden.
Die Kälte des Bodens dringt durch meine Socken, während ich immer noch wie erstarrt mitten im Flur stehe und darauf warte, dass ein Licht angeht und meine Mutter aus ihrem Zimmer tritt, geweckt vom Klang dieses blöden Reißverschlusses.
Doch es geschieht... nichts.
Ein Stein fällt mir von Herzen, als ich den regelmäßigen Atem meiner Mutter und kurz darauf ein lautes Schnarchen meines Vaters vernehme, das deutliche Zeichen, auf das ich die ganze Zeit gehofft hatte.
Langsam setze ich mich wieder in Bewegung, pflücke meine Jacke vom Boden und hänge sie auf, diesmal darauf bedacht, sie richtig am Haken zu befestigen. Dann schleiche ich in die Küche und suche nach einem Glas. Ich schnappe mir eines, dass so weit vorne wie nur irgendwie möglich steht, damit ich im Dunklen nicht zu sehr herumtasten müsste und im schlimmsten Fall etwas umstoßen würde, und fülle dann Wasser hinein.
Gierig trinke ich es aus und stelle es auf die Spüle, während ich an die "Party" zurückdenke. Es waren knapp zehn Leute anwesend, wovon ich insgesamt fünf, Luna einbezogen, aus der Schule kannte. Wir haben nicht wirklich viel gemacht außer Musik gehört und gelabert, aber "allein für die Snacks war es wert zu kommen". Ich muss innerlich lachen, als ich an Lunas Kommentar zurückdenke. Ich vermisse sie, vermisse unsere Verbindung, die ehemals so stark war. Früher hätte sie gefragt, was los ist, statt mich lahm zu nennen.
Aber was mache ich mir vor, ich hätte es ihr damals genauso wenig gesagt wie heute. Sie ist toll, aber meine Geheimnisse will ich unter keinen Umständen preis geben.
Gähnend schleiche ich durch den Flur, prüfe paranoider Weise noch einmal, ob meine Jacke richtig hängt und schleiche schließlich die alte Treppe hinauf, sorgsam darauf bedacht, die knarrenden Stufen nicht zu berühren. Wie immer, wenn ich zu müde bin, kriege ich das nicht hin, jedoch ist es mir diesmal gleichgültig. Ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, dass meine Mutter eine dieser Beruhigungstabletten genommen hat, sonst wäre sie längst wach. Jetzt könnte also die Welt um uns herum untergehen und sie würde tief und fest weiterschlafen.
Leicht grinsend öffne ich meine Zimmertür und grabe meine eiskalten Zehen in den schwarzen Flauschteppich, der im Dunklen wie ein riesiger Ölfleck in der Mitte des Raumes wirkt.
Als mir etwas wärmer ist, streife ich mir das schwarze Kleid vom Körper und schlüpfe in meine Jogginghose und ein schwarzes T-Shirt, dass ich gestern Abend über meinen Schreibtischstuhl geschmissen habe. Im nächsten Moment laufe ich rot an. Shit. Die Vorhänge vor den großen Fenstern auf der Nordseite meines Zimmers sind nicht vorgezogen. Die Wahrscheinlichkeit, dass meine Nachbarn um drei Uhr morgens gerade aus ihren Fenstern starren ist sehr gering, aber falls es so wäre, hätten sie mich bequem beim Umziehen beobachten können.
Ich liebe die Aussicht, aber das ist ein riesiger Nachteil an dem Haus. "Egal, jetzt ist es eh zu spät" denke ich und setze mich resigniert an meinen Computer.
Sofort tauchen mehrere Nachrichten auf. Luna betont nochmal, wie "geil" es doch sei, dass ich mit gekommen bin und will wissen, ob ich den Gastgeber nicht auch "voll süß" finden würde. Ich ignoriere sie. Früher haben wir einfach nur uns beide gehabt und ich war nie gezwungen, mit ihr über Jungs zu reden, die ihr die Zunge beim Knutschen in den Hals steckten.
Seufzend klickte ich auf die zweite Nachricht. Eine Mail, Unbekannter Absender.
Verwundert richte ich mich auf und kicke meinen Turnbeutel zur Seite, um anschließend mit meinem Schreibtischstuhl etwas nach vorne zu rücken.
Jemand von der Party? Jemand, der sich einen dummen Scherz erlauben will? Aber wer versendet denn heutzutage noch E-Mails? Neugierig öffne ich die Nachricht. Während sie lädt, nehme ich einen Bleistift in die Hand und wirble ihn hin und her, lasse ihn über meine Finger tanzen. Das Display erhellt sich und ein Text erscheint. Meine Mundwinkel sacken hinab, ich starre ihn geschockt an, mein Gehirn realisiert erst Sekunden später, was ich da vor mir habe. Nein, das kann, darf nicht sein! Der Bleistift gibt ein lautes Knacksen von sich, als sich meine Finger krampfhaft an ihn krallen. Mit einem Schlag sind meine Eltern, die Party und Luna vergessen.
Verdammt, was ist hier los?
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