40 Kaputt
Vier Wochen später kann ich bereits mit dem Dolch umgehen und schaffe es ab und zu sogar Salvatore mal eine zu Verpassen. Zwar nicht ohne Nachspiel, doch die Tatsache, dass ich meinen Trainer erwische, gibt mir Hoffnung, Stolz und vor allem Schadenfreude. Schließlich habe auch ich in den letzten Wochen genug Flecken davongetragen. Auch die Ausbildung meiner Kräfte kommt gut voran. Inzwischen erschaffe ich mühelos ganze Tsunamis, die dutzende Männer von den Füßen fegen würden. Das Problem ist, ich bin daran gewöhnt, alle benötigten Ressourcen griffbereit zu haben. Eine trockene Wüste oder ein Kerker würden mir zum Verhängnis werden.
Aus unerklärlichen Gründen, glaubt Mäire fest daran, dass die eigentliche Kraft, die mich von allen anderen abhebt, der Zugriff auf das Licht sei. Sie glaubt, ich könnte es brechen oder irgendwie so etwas ähnliches. Woher sie sich diese Idee zieht, möchte sie nicht verraten, warum auch immer. Seit einer Woche treffen wir uns deshalb regelmäßig nachts.
Jedes Mal versuche ich irgendetwas zu Stande zu bringen, doch es funktioniert nicht. Obwohl es im Dunkeln viel leichter ist, sich auf leuchtende Dinge zu konzentrieren, finde ich über keinen Weg Zugang auf die Lichtquellen. Laut Mäire müsste ich eine Verbindung spüren, doch genau das tue ich nicht - wie jede normale Nymphe auch.
Tagsüber trainiere ich immer noch mit Salvatore, um mich stetig zu verbessern. Wir beenden gerade das Training, also mache ich mich mit ihm zusammen auf den Weg zurück in das Dorf. Seit ich nachmittags nicht mehr mit Mäire zugange bin, essen wir gemeinsam mit den anderen Dorfbewohnern und Mitgliedern des Rates auf dem großen Platz. Nachdem meine Welt zutiefst erschüttert worden war, ist es schön Anschluss zu finden. Die Leute hier sind alle recht herzlich, bis auf ein paar wenige Ausnahmen, die ich in der Menschenwelt als griesgrämige, alte Menschen abgetan hätte.
Heute scheint etwas im Dorf passiert zu sein. In der Mitte des großen Platzes sammelt sich eine große Traube von Bewohnern, die ganz aufgeregt zu sein scheinen. Schulter an Schulter umringen sie etwas oder jemanden, wie sie es vor zehn Wochen auch bei mir taten. Salvatore und ich trennen uns, um uns durch die drängelnde Masse nach vorne zu quetschen und das Geschen zu beobachten. Über die Köpfe mehrer kleiner Trolle hinweg erkenne ich einen alten Bekannten, an welchen ich die Gedanken in den letzten Wochen so erfolgreich verdrängen konnte. Der Schock sitzt tief und es zieht mich in ein Wechselbad der Gefühle, als mich der Besagte entdeckt.
Auch in seinen Augen spiegeln sich mindestens so viele Gefühle wieder, wie Sterne am Himmel sind. Und genauso blau strahlen auch Akiras Augen, als er auf mich zukommt.
Trotz des Schocks erliege ich nicht, wie ich es die letzten Male tat, der Starre, laufe knapp an dem elenden Verräter vorbei und schnurstracks auf Egbert zu, welcher sich aus der Menge hervortut. „Was ist los? Warum ist er hier?", frage ich aufgebracht und wahrscheinlich etwas zu harsch.
Egbert nimmt es mir jedoch nicht übel und nimmt nur meine Hände in seine. „Geh ruhig, wenn du möchtest. Ich werde mich der Sache hier annehmen", beruhigt er mich.
Kurz hadere ich, bevor ich dann doch dazu tendiere, mich auf den Weg in den Wald zu machen. Was soll ich jetzt machen? Wie soll ich ihm gegenüber treten? Schon bei seinem Anblick hätte ich mich am liebsten heulend in seine Arme geworfen und ihm von dem harten Training erzählt - die Macht der Gewohnheit. Für mich ist Akira nicht mehr mein engster Vertrauter. Auf die Gefahr hin theatralisch zu klingen: Nichts ist mehr so, wie es vorher war. Alles ist kaputt - auch unsere Freundschaft.
Bewacht von Sturmfeder setze ich mich in eine der heißen Quellen, die ich vor zwei Wochen zufällig gefunden habe. Eine angenehme Abwechslung zu dem eiskalten Teich.
***
Während des ganzen Bades und dem Spaziergang zurück in das Dorf hingen meine Gedanken an Akiras dämlichen Haken fest. Er hat mich, so zu sagen, an der Angel. Ich kann ihn einfach nicht abschütteln, egal was ich versuche, dieser Junge geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Wo man gerade vom Teufel spricht...
Akira wartet bereits, an den Riesenbaum gelehnt, auf meine Rückkehr. Als er mich entdeckt kommt er schneller auf mich zu, als ich abhauen kann und hält mich am Unterarm zurück. „Luna, ich weiß ich habe Mist gebaut", rattert er herunter, bevor ich ihn unterbrechen kann.
„Mist gebaut hat man, wenn man einen Geburtstag oder einen Klausurtermin vergisst. Du hast mich hintergangen. Du hast mir vorgemacht, ich könnte dir vertrauen und trotz der Tatsache, dass du mir eine ganze Welt und sogar meine Identität verschwiegen hast, habe ich dumme Kuh dir eine zweite Chance gegeben!", schreie ich ihm mitten ins Gesicht. Es ist mir egal, wer zuhört. Er soll meinen Zorn spüren und wenn das bedeutet, ihn vor aller Augen zur Schnecke zu machen, dann ist das so. Immerhin hat er sich Ort und Zeitpunkt ausgesucht.
„Lu-"
„Nein! Es reicht!" Mit diesen letzten Worten klettere ich auf Sturmfeders Rücken und fliege zum Baumhaus zurück. Für jemanden, der mich so hinters Licht geführt hat, hat er genug erfahren. Ich würde ihm nicht noch mehr Teile meines Herzens offenbaren. Für ihn habe ich nicht anderes mehr übrig, als meine kalte Schulter. Auf dem Flug wische ich mir ein paar Tränen der Wut aus den Augenwinkeln, bevor wir auf dem großen Balkon landen. Fluchtartig springe ich von meinem Gefährt herunter und Stürme das Zimmer, in welchem mich schon eine Überraschung erwartet.
Hikaru sitzt geduldig auf dem ungemütlichen Holzstuhl am kleinen Tisch.
„Hikaru", grüße ich ihn überrumpelt.
„Wie ich sehe, hat dich die Ankunft des jungen Prinzen wohl sehr mitgenommen", mutmaßt der kleine Mann.
Mit entkommt ein verächtliches Schnauben und ich begebe mich aufs Bett, um mich auf die Kante zu setzen. „Ich weiß nicht, was er hier verloren hat", motze ich.
„Du darfst nicht vergessen, wer dich vor den Gefahren auf deiner Reise in unsere Welt beschützt hat", rügt mich der Hikaru großväterlich.
„Willst du mir jetzt eine Standpauke halten?"
„Nein, nein. Das geht mich nichts an." Hikaru hebt abwehrend seine mit Altersflecken übersäte Hand.
„Also?", frage ich und komme mir dabei selbst äußerst unhöflich vor.
„Ich wollte dir Bescheid geben. Der Rat hat entschieden, Akira vorerst Asyl zu gewähren. Schließlich ist dieser Ort für Flüchtlinge erschaffen worden."
Kochend vor Wut springe ich auf, doch lasse mich nach ein paar verlorenen Schritten durch das Zimmer wieder auf das Bett fallen. Ich kann meine Enttäuschung über diese Entscheidung gar nicht in Worte fassen. Deswegen versuche ich es auch erst gar nicht.
„Außerdem soll ich dir noch eine Nachricht überbringen. Salvatore hat mich gebeten, dir zu sagen, du mögest noch einmal zum Trainingsplatz kommen, so schnell es geht."
„Danke", bringe ich so höflich, wie es mir gerade möglich ist, unter angespanntem Kiefer, hervor.
„Sollen wir dich unten absetzen?", frage ich, bevor ich zum Greife gehe.
„Nein, nein, schon gut. Geh nur."
„Okay." Ich lasse mich nicht ein zweites Mal beten und sitze keine Sekunde später auf dem Rücken von Sturmfeder.
***
„Eure kleine Lichterstunde wird heute ausfallen", erklärt Salvatore. „Wir legen eine weitere Kampfstunde ein. Du musst lernen das Kämpfen mit deinen Kräften zu verbinden. Darum ist auch Mäire hier. Während du gegen mich kämpfst, wird sie dir Tipps geben, wie du mich besiegen und gleichzeitig deine Fähigkeiten mit einbauen kannst."
Das kann doch nicht wahr sein. „Hätten wir das nicht schon heute Morgen machen können?"
„Nein, hätten wir nicht." Salvatore schüttelt den Kopf und geht auf Position.
„Und warum nicht?", frage ich genervt, während ich mich ebenfalls in Stellung bringe.
Mäire rückt ein paar Meter zurück, um sich aus der Bahn zu ziehen.
„Wir kämpfen ohne Waffen", erklärt Salvatore, ohne auf meine Frage einzugehen. „Los!" Er rennt auf mich los und setzt zum Schlag an.
Ich wehre ihn mit meinem unteren Arme ab, dann die andere Seite. Unter dem nächsten Schlag muss ich mich hinweg ducken, um nicht getroffen zu werden. Gleichzeitig hole ich aus, ziele auf seine Magengrube, doch er dreht sich rechtzeitig zur Seite weg. Da er nun hinter mir ist, hocke ich mich auf den Boden und versuche ihm mit ausgestrecktem Bein die Füße wegzutreten.
Salvatore springt gekonnt über meinen Angriff herüber und versucht erneut einen Treffer zu landen.
Schnell entziehe ich ihm mein Gesicht und taumele ein paar Schritte nach hinten.
Er folgt mir und gibt mir weiter Schläge zum parieren.
„Seine Arme, Luna! Versuch sie zu fesseln!", ruft Mäire mir zu.
Für einen Augenblick bin ich abgelenkt und kassiere einen Fausthieb in die Rippen. Meine Arme legen sich reflexartig um die verletzte Stelle und eine Sekunde später hat mein Trainer mir im Schwitzkasten. Ich ramme ihm meinen Ellenbogen in die Rippen, er lockert seinen Griff, und ich schleudere meinen Kopf nach hinten direkt auf seine Nase. Als er zurücktaumelt nutze ich den Moment und lasse zwei dicke Wurzeln aus der Erde schießen, die sich um seine Handgelenke und dann seine Arme hinauf schlingen.
Mein Gegner ruckelt wehrlos an seinem Gefängnis herum. „Sehr gut. Gleich nochmal."
***
Nach dem Kräfte zehrenden Training mache ich mich direkt auf den Weg zum Teich, um mich noch einmal frisch zu machen, bevor es ins Bett geht.
„Luna", ruft Akira mir zu, welcher zwischen ein paar Bäumen hervortritt.
Das kann doch nicht wahr sein. Immer noch ein wenig atemlos schüttele ich den Kopf und laufe einfach an ihm vorbei. Vielleicht würde er mich irgendwann in Ruhe lassen, wenn ich ihn einfach ignoriere, doch als er mich wieder an meinem Unterarm packt ist es um mich geschehen. Er sollte ich lieber nicht mit mir anlegen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top