4 Streit In Der Mensa
„Hey Madi, wir wollen heute Abend ins Kino. Danach gibts noch Bier und Torte im Park. Hast du Lust?"
„Tut mir so leid, Lulu. Ich kann heute leider nicht. Ausgerechnet an deinem Geburtstag... Wir schreiben gleich morgen früh den Englischtest. Du weißt ja, wie das ist:("
Ja, ich weiß wirklich, wie das ist. In unserer Lage geht die Schule vor - immer. Egal, wie kurz wir vor dem Ferienbeginn sind. Wie könnte ich es ihr übel nehmen? Sie würde das Gleiche für mich tun und mein Geburtstag ist mir ohnehin nicht wichtig.
„Schon okay. Mach dir keinen Kopf. Wir sehen uns dann heute Abend:)"
„Okay. Hab' dich lieb"
„Ich weiß;)"
„:("
Der Gong zur Mittagspause ertönt und befreit uns von Ms. Longfields Unterricht. Sofort geht ein erleichtertes Raunen durch die Menge und in die eben noch, wie Zombies guckenden, leeren Hüllen kehrt das Leben zurück. Ohne, dass es jemand bemerkt, verschwindet das Handy wieder in meiner Hosentasche. Hektisch räume ich meine Unterlagen zusammen, um sie in meinen Rucksack zu werfen. Eines meiner Hefte zerknittert dabei, sodass ich mit einer schnellen Bewegung versuche, doch noch Ordnung in meiner Tasche zu schaffen. Ordnungszwang und so.
Der Junge vor mir ist schneller. Er packt seine Bücher nicht einmal in seine Tasche, sondern klemmt sie sich schnell und einfach unter den Arm und verschwindet zur Tür hinaus.
Wieder ist eine Gelegenheit verstrichen, in der ich sein Gesicht hätte sehen können. Spion, flüstert mir eine Stimme in meinem Kopf zu. Ich glaube, ich habe wirklich den Verstand verloren. Die ganze Stunde verbrachte ich damit, seinen Hinterkopf zu löchern und mir durchgekramte Fragen über ihn zu stellen.
Wer ist er? Was will er von mir? Warum beobachtet er mich? Was hat er vor?
Akira erhebt sich schon von dem Stuhl neben mir. ,,Endlich, ich verhungere!" Er stützt sich, über mich gebeugt, mit beiden Händen auf dem Tisch ab. Seine blauen Augen sehen belustigt auf mich herunter und beobachten mein Herumgewusel in der Tasche. „Deinen Heften wird das ein oder andere Eselsohr schon nicht weh tun."
,,Doch, das wird es. Und ich verhungere lieber bevor ich diesen ungenießbaren Fraß in mich hereinstopfe." Heute gibt es Fleisch in der Mensa. Wer sich keine Lebensmittelvergiftung einfangen will, sollte lieber darauf verzichten, die Pampe herunterzuwürgen.
Auch Jess und Tobi stehen schon abwartend in den Startlöchern neben meinem Tisch.
Ich beeile mich immer, meinen Kram schnell zusammenzuräumen. Wieso bin ich trotzdem immer die Letzte?
Die Drei sehen ungeduldig zu mir herunter bis ich endlich geradezu von meinem Sitz aufspringe. „Wir können los."
***
Inmitten des Gestankes der heutigen Mahlzeit, sitze ich zwischen meinen Freunden an unserem Stammtisch in der Mensa und stochere angeekelt in meinem Mittagessen herum. Dementsprechend lässt ein verzweifelter Blick zu Akira hinüber Neid in mir aufkeimen.
Sorglos schlingt er einen Happen, nach dem anderen herunter. ,,Also wenn du es nicht isst, dann tue ich es", bietet Akira mir an, als er sieht, dass ich noch nicht einen Bissen des anwidernden Fleischklopses gegessen habe.
"Tu dir keinen Zwang an."
Er nimmt das Tablett, welches ich ihm vor die Nase schiebe dankend an und beginnt sofort meine ungenießbare Mahlzeit zu inhalieren.
„Echt eklig", sagt Jess mit heruntergezogenen Mundwinkeln.
"Hey! Du bist bestimmt neu hier. Ich habe dich bis jetzt noch nie gesehen." Jemand zwinkert mir spitzbübisch zu.
Verblüfft wird mir klar, wer sich soeben mit an unseren Tisch gesellt.
„Ich bin Archibald, aber du kannst mich Archi nennen", stellt er sich vor und setzt, ganz der Goldjunge, sein hinreißendstes Lächeln auf.
Allein, dass er mich wahrnimmt! Bei wem oder was muss ich das Weltwunder melden? Bisher muss ich für ihn so etwas wie ein Geist gewesen sein, denn in all den Jahren, in denen ich nun schon diese Highschool besuche, hat er mich ganz offensichtlich nicht eines einzigen Blickes gewürdigt. Er war sich meiner Existenz nicht bewusst und das war gut so. Allein schon, wenn ich an den kleinen Herzinfarkt denke, als ich dachte, er und deine Kumpel hätten mich auf dem Flur angerempelt. Typen wie Archibald McRivers ziehen Dinge wie Prügeleien, schlechte Noten und Highschool-Dramen, wie ein Magnet an. Wie kommt unser Footballstar ausgerechnet jetzt dazu, sich an den Losertisch zu setzen und auch noch nett zu mir zu sein?
Angesichts der Tatsache, wen wir hier bei uns haben, starren auch Jess und Tobi mit offenen Mündern zu dem Jungen mit dem rabenschwarzen Haar hinüber. Genauso wie der Rest der Mensa.
„Ich muss dich wohl leider enttäuschen. Ich habe nie eine andere Schule besucht", widerspreche ich Archi hoffentlich mit genug Höflichkeit. Der Idiot gibt an unserer Schule vielleicht den Ton an, doch das bedeutet längst nicht, dass ich mich wie eines seiner Püppchen aufführen muss, das sich ihm ohne weiteres an den Hals wirft, nur weil er gut aussieht. Alle hier benehmen sich, als wäre es die höchste Ehre, dass Archibald auch nur ein Wort mit ihnen wechselt. Der kann sich sein schmieriges Lachen gleich wieder aus dem Gesicht wischen. Dieses Mädchen hier wird ihm nicht aus der Hand fressen, egal wie groß ihre Angst und wie schlimm ihr Herzflackern ist. Wenigstens sein attraktives Aussehen kann man ihm zuschreiben. Wie bekannt ist, ist sein Umgang mit Mädchen, als auch seine Intelligenz, im Gegensatz dazu, wohl recht zweifelhaft.
„Ach ja? Das ist komisch. Normalerweise hätte ich eine so schöne, junge Dame wie dich doch nicht übersehen." Er wirft mir ein anzügliches Lächeln zu, lehnt sich gleichzeitig noch ein Stück weiter zu mir herüber. Der Duft seines doch recht angenehm riechenden, bestimmt sauteuren Aftershaves weht zu mir herüber.
Etwas zu schmalzig für meinen Geschmack. Und der Versuch sich gewählt auszudrücken ging offensichtlich auch in die Hose. Er redet wie ein älterer Herr. Junge Dame. Was ein Charmeur.
Archibald gafft mit dem Gesichtsausdruck eines verblödeten Ochsen zu Akira neben mir herüber, als ein leises Lachen von ihm ausgeht.
Er lehnt sich gefährlich nah zu dem, doof dreinschauenden, Hornochsen hinüber und antwortet für mich. ,,Auf eine billige Anmache von einem eingebildeten, verwöhnten Muttersöhnchen kann sie mit Freuden verzichten."
Er hat Recht, Archibald ist ein Muttersöhnchen. Sobald es ein Problem gibt, stehen seine Eltern auf der Matte. Natürlich stets in Begleitung ihrer beiden liebsten Freunde: Mrs. Money und Mr. Influence. Nichtsdestotrotz, kann ich es nicht unterdrücken, meine Augen für einen kurzen Moment der Genervtheit zu schließen, um die Fassung zu bewahren.
Archibald scheint erst irritiert zu sein - wahrscheinlich kann er es nicht fassen, dass sich ihm jemand widersetzt - bevor sich sein Mund zu einem fiesen Grinsen verzieht.
"Du suchst wohl Stress..." Archibald macht eine lange Pause in seinem Satz und mustert Akira noch einmal abschätzig, „...Loser". Offenbar weiß Archibald auch Akiras Namen nicht. Dem Sportler ist es deutlich anzusehen, dass er sich geistig unterlegen fühlt. Alle schauen zu und er steht dumm da. Schlussendlich begreift Archibald, dass er seine Machtposition hier an der Schule nicht mit seinem zurückgebliebenem Intellekt verteidigen kann und lehnt sich, so weit es geht, über den Tisch.
Mein Puls schießt in die Höhe. Was soll ich tun? Ich wusste es, er zieht nur Stress an. So ein Mist. Was soll ich tun? Die Welt vor meinen Augen beginnt sich zu verändern. Alles erstrahlt in bunten Farben, die ich vorher noch gar nicht kannte.
„Akira, mein Name ist Akira." In diesem Moment erheben sich beide von ihrem Stuhl. Über den Tisch hinweg bauen sie sich wie zwei Vögel, die um die Wette plustern, voreinander auf. Es sieht lächerlich aus, aber so wie es aussieht, meinen sie es todernst.
Ich sehe zu meinem besten Freund hinauf, der seine Beute in's Visier genommen hat wie eine gefährliche Raubkatze. Erstaunt sehe ich, wie seine Augen förmlich leuchten unter dem Filter, der sich über meine Sicht legt. Wie zwei hellblaue Sommerhimmel, in denen auch am Tag die Sterne leuchten, funkeln sie gefährlich ihr Gegenüber an. Nach einem Rundumblick stelle ich fest, dass nur seine Augen glühen. Müssten die der anderen nicht auch wenigstens ein bisschen leuchten? „Setzt euch hin und beruhigt euch", zische ich zu ihnen hoch.
Die Streithähne sehen mit einer Mischung aus Zorn und Verwunderung zu mir herunter.
Als Akiras Blick mich trifft, setzt mein Herz einen Schlag aus und ich atme erschrocken ein. Zittrig stoße ich die Luft wieder aus meinen Lungen. Jetzt bloß nicht klein bei geben, Luna.
Jedes Augenpaar in diesem Raum ist auf uns gerichtet, sie lechzen buchstäblich nach einem Schauspiel.
Tobi und Jess sind klugerweise, mit ihren Stühlen, vom Tisch zurückgerutscht.
Schlechtes Omen, kreisen die beschwörerischen Worte durch meinen Kopf wie eine Erinnerung, eine Mahnung, vielleicht sogar eine Drohung. So einen Mist kann ich mir nicht leisten. Was soll ich jetzt tun? Alle starren uns an. Gleich kommt mit Sicherheit ein Lehrer und wenn das hier eskaliert, dann bekommen wir alle miteinander eine Verwarnung.
"Du solltest auf die Kleine hören", säuselt Archibald.
„Ihr beide", mahne ich sie noch einmal mit mehr Nachdruck, denn Akira packt seinen Rivalen am Kragen. „Bitte", sage ich schüchtern mit einem gekonnten Augenaufschlag zu Archibald. „Das ist mein Geburtstagswunsch." Mit einem schüchternen Lächeln erringe ich schließlich seinen Rückzug.
Der Footballer hebt ergeben die Hände, während er mich mit seinen frivolen, blauen Augen zu durchbohren scheint.
Akira schnaubt gereizt, doch lässt er ihn ebenfalls los und setzt sich wieder neben mich.
„Für dich werde ich eine Ausnahme machen", sagt der Footballstar so laut und deutlich, dass jeder in diesem Raum es hören kann. „Zu gegebener Zeit, bin ich mir sicher, wirst du dich dafür revanchieren." Archibald wirft einen letzten Blick in meine Richtung, bevor er sich zu seiner Mannschaft zurückzieht. Auf dem Weg dreht er sich noch einmal provokant zu unserem Tisch und hält, den Daumen und den kleinen Finger abgespreizt, seine Hand neben sein Ohr. Ruf mich an, formen seine Lippen. Noch von Weitem kann man seine pechschwarzen Haare genauso gut wie seine blauen Augen erkennen, die der Farbe des Ozeans wirklich sehr nahe kommen.
"Gehen wir", knurrt Akira. Wenn Blicke töten könnten...
***
„Was war das denn?" Auf dem Flur angekommen stoppt Jess unsere Flucht, um auf das Geschehen in der Mensa zurückzukommen. „Ich kann gar nicht fassen, was da eben passiert ist." Das kleine Mädchen fuchtelt aufgebracht mit ihren Armen.
Genau diese Frage stelle ich mir auch. Eine Stimme in mir ruft mir die Antwort zu, doch ich ignoriere sie. Wie könnte ich auch auf sie hören, wenn ich mich nicht selbst für verrückt erklären will? Aber je länger ich sie ignoriere, desto lauter schreit sie.
Alles hat seinen Grund, ruft mir die Stimme des Schicksals zu. Geh dem nach. Finde heraus, was sich verändert.
Ein Zusammenstoß, die Aufmerksamkeit von Archibald McRivers höchstpersönlich. Was kommt als Nächstes? Was ist der gemeinsame Nenner?
„Das war absolut abgefahren!", quietscht Tobi. „Wirklich der helle Wahnsinn. Archibald McRivers saß an unserem Tisch."
Er scheint die Tatsache, dass Archibald an unserem Tisch saß mehr zu beachten, als die beinahe ausgeartete Schlägerei.
„Ach halt doch die Klappe, Tobi. Er ist ein Idiot. Wieso freust du dich über so einen Schwachsinn?", macht Jess ihren Standpunkt klar. Auf ihr Urteilsvermögen ist wie immer Verlass.
„Ja und?" Tobi kann sich vor Freude kaum beherrschen. „Und was war das überhaupt? Das ist mein Geburtstagswunsch", belustigst imitiert Tobi mein Schauspiel aus der Mensa.
„Ja, das würde ich auch gerne wissen", gesteht Akiras tiefe Stimme. Im Gegensatz zu Tobis, scheint seine Laune in den Keller gesunken. Was hat den denn gestochen?
„Ich könnte dich das Selbe fragen", kontere ich. Er ignoriert meine Antwort und sieht konzentriert zu Boden. Soll mir auch recht sein. Der Gong für das Ende der Mittagspause schallt durch die Gänge und unterbricht unsere Konversation. Zum Glück. Akira und ich haben uns schon beinahe in die Haare gekriegt. Aufgebracht stampfe ich auf meinen nächsten Kurs zu und versuche die Tränen in meinen Augenwinkeln wegzublinzeln. Was habe ich falsch gemacht, dass er so sauer ist? Ich mag es nicht, mich mit ihm zu streiten.
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