38 Im Auge Des Sturms
Oh, mein Gott, ich glaube ich werde sterben. Salvatore möchte mich wohl tot sehen.
„Essen!", ruft der tägliche Elfenbote und ich rappele mich mit letzter Kraft vom Boden auf.
Heute ist erst der dritte Tag vom Training und ich habe mich kein Stück verbessert. Ganz im Gegenteil, ich glaube, ich bin sogar noch schwächer, als am Anfang. Salvatore sieht das aber anders und jagt mich, wenn es sein muss, höchst persönlich mit ein paar Arschtritten über das weite Feld. Im Beutel ist der selbe Inhalt wie die letzten beiden Tage. Kein Problem für mich, es ist wirklich lecker. Ich inhaliere den Inhalt, vor allem den mit Wasser gefüllten Beutel, bevor Mäire mich abholen und weiter plagen würde.
„Luna", ruft Mäire.
Ach, da ist sie ja schon. Mittlerweile kenne ich den Ablauf, also rappele ich mich schnell auf und laufe auf sie zu. Wieder begeben wir uns an die gleiche Stelle im Wald, an der wir auch gestern und vorgestern gelegen haben.
„Bereit?", fragt sie mich.
„Bereit." Ich lege mich neben das Wasser in das hohe Gras und schließe meine Augen. Irgendetwas muss sich in den letzten beiden Tagen an meiner Mentalität verändert haben. Wahrscheinlich liegt es an der dauerhaften Konfrontation mit meinen Gefühlen, Sorgen, Ängsten und was sich sonst noch so in meinem Inneren verbirgt. Plötzlich kann ich jedes Geräusch, das ich höre, viel deutlicher wahrnehmen. Wenn ich möchte, rücken alle anderen Störfaktoren sogar in den Hintergrund und alles was bleibt, ist das Plätschern des Flusses oder das Schnauben eines Rehs. „Es hat funktioniert", rufe ich und setze mich ruckartig auf. Mit dieser kleinen Errungenschaft, eröffnete sich für mich innerhalb eines minimalen und doch so intensiven Augenblick eine ganz neue Welt - auch wenn ich schon in einer bin. Doch jetzt bin ich nicht nur physisch sonder auch psychisch mit ihr verbunden, stelle ich fest.
„Leg dich wieder hin. Versuch noch einmal in die Sonne zu sehen", befiehlt Mäire mir, während sie mich kritisch beäugt.
Ich tue, wie mir geheißen wurde und lege mich zurück in das Gras. Meine Augen lasse ich vorerst geschlossen. Das Aushorchen der Umgebung funktionierte heute einfach aus dem Stehgreif. Es ist genauso, als würde man vom Zwei-Meter-Turm in das kalte Wasser springen. Hat man es erst einmal getan, geschieht es ganz von alleine. Eigentlich habe ich es kaum versucht, sondern mich einfach nur darauf eingelassen. Jetzt denke ich wieder zu viel darüber nach. Bestimmt funktioniert es wieder nicht. Ich atme tief ein und wieder aus und öffne die Augen. Die Sonne strahlt mir schmerzlich bis in mein Gehirn und ich kneife meine Lider wieder zusammen. „Es klappt einfach nicht", jammere ich und setze mich augenreibend auf.
„Leg dich wieder hin", sagt Mäire jetzt strenger. Sie spricht kaum einen anderen Satz zu mir. Was soll das für eine Ausbildung sein? Wie mein Hinterteil am besten mit dem Gras verwächst? Bockig lege ich mich zurück auf die Wiese und schließe meine Augen.
Wie so oft in den letzten Tagen wandern meine Gedanken wieder zu Kathrin und Madi. Doch nicht nur sie fehlen mir. Auch meine beiden tollen Freunde, Tobi und Jess, die eine so schön verschrobene Art haben. Tobis immer anwesendes Lächeln und die gute Laune, die er verbreitet. Ohne ihn werde ich bestimmt depressiv werden. Ich vermisse die entspannte Atmosphäre in unserer Clique. Doch es fällt mir heute schon leichter, als die letzte Woche. Eineinhalb Wochen - hört sich verdammt kurz an. Es fühlt sich so an, als wäre schon viel mehr Zeit vergangen. Schon so viele Dinge sind passiert oder haben sich offenbart. Verfolgungsjagden, eine Entführung, ein Feenball, aufgebrachte Waldnymphen, die Attacke eines deformierten Monsters und vor allem, die Offenbarung meiner Identität, meines Schicksals. War das diese glorreiche Reise, von der die Prophezeiung spricht oder wird sie noch beginnen, bin ich noch mitten auf der Reise? So viel ist passiert in so einer kurzen Zeit. Ein Wunder, dass ich die Kraft hatte, mich ohne weitere Heulausbrüche bis hier hin zu tragen.
Vielleicht ist das einer der Gründe, für mein heutiges Gelingen. Trotz Gewissensbisse und meiner Müdigkeit, gebe ich weiterhin mein Bestes. Außerdem fasse ich einen Entschluss: Ich werde zu meiner Familie und meinen Freunden zurückkehren. Und wenn das bedeutet, dass ich zuerst eine ganze Welt retten muss, dann werde ich das tun. So schwierig kann das doch nicht sein. Ein paar Male in die Sonne blinzeln, ein paar Windböen und schwups, ehe ich mich versehe werde ich wieder bei Kathrin und Maddi sein. Oder? Mit dieser Entscheidung, werden meine Gewissensbisse weniger und mein Wille stärker.
Mit neuer Kraft öffne ich die Augen. Problemlos blicke ich dem großen, roten Feuerball entgegen und sehen gleichzeitig alles um ihn herum, jede Wolke, jeden Vogel, jedes Insekt, das durch die Luft schwirrt, ohne dass auch nur der Ansatz des Bedürfnisses aufkommt, meine Augen zuzukneifen. „Mäire, ich kann es, Mäire!" Hoch erfreut über meine errungenen Sieg hüpfe ich über die Wiese.
„Sehr gut. Das ist ein guter Anfang, Luna. Damit können wir arbeiten. Deine Kräfte werden langsam wachgerüttelt. Jetzt sollten wir versuchen, sie auch zu benutzen", erklärt Mäire mit einem hauch von Stolz, wie ich vermute, in der Stimme. Gleichzeitig piekt sie sich nachdenklich in ihr Kinn und wandert dabei ganz langsam eine kleine Strecke auf und ab.
„Was ist los?", frage ich, als ich feststelle, dass sie nicht wirklich zu einem Schluss kommt.
Mäire bleibt stehen. „Die meisten nymphischen Kinder können zuerst einen Grasalm wachsen lassen oder werfen in einem Wutanfall mit ihren Wasserkräften ein Getränk um. Doch du hast eine Windböe erschaffen. Das könnte unter Umständen recht gefährlich werden...", sie legt wieder ihr Kinn zwischen ihre Finger und wandert auf und ab.
„Naja, dann lass ich einen Grashalm wachsen."
„Nein, so einfach ist das nicht. Die Kraft einer Nymphe äußert sich zuerst in nur einer bestimmten Richtung. Später greift es auf die nächsten Teile über und weitet sich dann Stück für Stück aus. Die Luft zu beeinflussen ist gewöhnlich mit das letzte, was eine Dryade kann...Na, gut, dann werden wir es genau umgekehrt machen. Auch, wenn sich das als schwierig erweisen wird." Kurz scheint sie noch einmal zu überlegen doch einen Augenblick später wirft sie ihre Zweifel über Bord, jedenfalls scheint es äußerlich so. „Aber wir haben wohl keine andere Wahl."
„Okay..."
„Komm. Stell dich breitbeinig hin. Du brauchst einen festen Stand. Aufrecht hinstellen." Sie klopft gegen meine Knie, damit ich mich noch ein wenig breiter mache. „Erinnerst du dich an das Gefühl von gerade - wie es ist alles viel intensiver wahrzunehmen, die Umgebung in seiner totalen Vielfalt zu entdecken?"
„Ja, ist auch erst ein paar Minuten her", erwidere ich ironisch.
„Ernst bleiben", mahnt mich meiner Mentorin.
Ich räuspere mich, um ein Lachen zu unterdrücken. Doch ich weiß auch, wie ernst es ist, also reiße ich mich wieder zusammen und atme tief ein und aus. Um mich besser konzentrieren zu können, schließe ich meine Augen. Ich höre, wie Mäire hinter mir hergeht und das Gras dabei unter ihren Füßen raschelt. Vögeln zwitschern, der Wind bläst durch die Bäume. Ich atme noch tiefer ein, bis meine Lungen brennen und mein Brustkorb zu explodieren droht. Plötzlich zerrt der Wind an meinen Haaren und die Lautstärke des Rauschens drängt alle anderen Geräusche in den Hintergrund.
„Augen auf!", ruft Mäires Stimme über den Lärm hinweg.
Ich gehorche und zum zweiten Mal in meinem Leben erlebe ich den Schock im Auge des Sturmes meine Augen zu öffnen. Die Szene versetzt mich zurück an den Abend im Park, an meinem Geburtstag.
„Luna, Luna, du darfst jetzt nicht in Panik geraten."
Das sagt sich so einfach, denke ich, während mir die Angst bereits den Nacken hinauf krabbelt. Was soll ich tun? Was soll ich tun? Was soll ich tun?
„Luna!"
Mäires Stimme bringt mich zurück in das Hier und Jetzt.
Dennoch atme ich viel zu schnell. Meine Lungen sind überladen mit all dem Sauerstoff, der sich durch meine Luftröhre drängelt.
„Du musst ausatmen Luna. Atme gleichmäßig, so beruhigst du den Sturm."
So schwer es auch ist, ziehe ich noch mehr von der Luft in meine Lungen und reize so den letzten Rest der Kapazität aus ihr heraus. Der Tornado wird breiter und höher, lauter, stärker.
„Gut! Jetzt muss du ausatmen, so viel du kannst!"
Wie soll das gehen? Es fühl sich an, als sei der Wind in meinem Brustkorb angeschlossen. Dennoch tue ich, was sie sagte. Ich atme aus, doch nur ganz wenig, denn eine Blockade verhindert Weiteres. Wie eine Irre puste und keuche ich dagegen an, bis sich eine gefühlte Ewigkeit später, die Blockade lockert. In pruste weiter, krümme mich und falle schließlich zu Boden. Genauso fällt auch der Sturm in sich zusammen.
„Geht es dir gut?", Mäire lässt sich zu meiner Linken nieder und hilft mir, mich aufzusetzen.
„Ja, alles in Ordnung", hechele ich.
„Wir sollten für heute aufhören. Wie hätte ich denn wissen können, dass du einfach mit geschlossenen Augen ins Abenteuer hineinrennst?"
„Naja, ich dachte so könnte ich mich besser konzentrieren und plötzlich war alles so viel", versuche ich mich herauszureden.
„Jaja, schon gut. Wenigstens wissen wir jetzt, wo wir ansetzen können."
Ich grinse meiner Mentorin frech entgegen. „Das werde ich dann mal als Sieg verbuchen." Da fällt mir etwas widersprüchliches ein. Wenn ich damals im Park den Sturm hervorgerufen habe? Wieso haben sich meine Augen dann erst so spät verändert? „Mäire, kann es sein, dass sich die Augen einer Nymphe nicht direkt, naja... verwandeln, wenn sie ihre Kräfte einsetzt?"
„Nein." Ihre Augen fahren über meinen Körper. „Aber du bist ein Halbblut. Deine Gefühle könnten deine Transformation zurückgehalten haben... Ja, das wäre möglich."
Für mich klingt es, als würde sie damit versuchen sich selbst zu überzeugen.
***
Aufgeregt sprinte ich in Rekordzeit die Treppen hinauf, um Sturmfeder, so habe ich den Greif benannt, von meinem Tag zu erzählen. Während ich ihm also ausführlich von dem Horrorszenario berichte, fliegen wir gemeinsam zu dem kleinen Teich herunter. Schnell streife ich meine Kleidung von meiner klebenden Haut und springe hinein. „Das war der Hammer. Wer weiß, was ich bereits morgen zu Stande bringe?"
Der Greif hebt den Kopf von seinen Tatzen und kreischt mir fröhlich zu.
Lachend hohle ich Luft, bevor ich untertauche, um meine Haare von meinem Schweiß zu befreien. „Weißt du, ich habe einen Entschluss gefasst. Wenn meine Aufgabe hier erledigt ist, wird es wohl kein Problem mehr geben, sodass ich zu meiner Familie zurückkehren kann. Ich werde also mein Bestes geben!"
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