29 Bestie

Je länger wir fliegen, desto unerbittlicher zerrt die Eiseskälte an meinen Kräften. Meine zitternden Finger in der dunklen Löwenmähne vergraben, liege ich, eng an das Tier gekuschelt, auf seinem Rücken. Ab dem Moment, in dem wir den Palast verlassen haben, machten wir keine Rast, flogen die ganze Nacht durch. Wenn ich jetzt meinen Kopf hebe, sehe ich der strahlenden Morgenröte entgegen, welche sich langsam über dem Land erhebt. Innerhalb weniger Minuten tränkt sie diese Welt in ihren lieblichen Farben. Doch der Grund zu meinen Füßen scheint selbst der Sonne zu trotzen. Rissiger, tiefschwarzer Boden, grenzt direkt an einem umso grüner blühenden Wald. Kein Baum, kein Tier scheint weit und breit auf dieser toten Fläche zu verweilen. Wie auch? Es scheint, als sei dieses Gebiet selbst im Kern vergiftet worden. Bis zum Horizont kämpft die Seite der Lebenden gegen die der Toten. Hell gegen Dunkel, Gut gegen Böse, blühendes Leben gegen den schwarzen Tod.

Plötzlich macht der Greif einen starken Schlenker und wirft mich beinahe ab, ehe er sich wieder fängt.

Es scheint, nicht nur mir geht die Kälte an die Nieren. Wir sollten Landen, doch nicht hier. Leider habe ich keine Ahnung, wie ich dieses Tier befehligen, geschweige dem zum Landen oder zum Stehen bringen soll.

Keine Sekunde später sausen wir in die Tiefe. Im letzten Moment zieht das erschöpfte Tier mit aller Kraft seine Flügel hoch, um uns vor einem tödlichen Aufprall zu bewahren. Der Greif kracht hart auf den Boden, wobei ich mich nicht mehr auf ihm halten kann und vorne überkatapultiert werde.

Noch im Flug lege ich meine Hände in den Nacken und meine Arme seitlich um meinen Kopf, damit ich nicht wie beim letzten Sturz dermaßen schlimme Verletzungen davon trage. Ich fühle, wie mein Körper dumpf auf den Boden prallt. Rascheln, mein lautes Atmen und gequältes Stöhnen dringen bei jeder Umdrehung, die ich mache in meine Ohren. Etliche Meter weiter bleibe ich liegen, komplett regungslos. Der Schock sitzt zu tief, als dass ich mich bewegen könnte.

***

Ich weiß nicht, wie lange ich dort liege, bis ich schließlich mein tränennasses Gesicht aus der Höhle meiner Armbeugen ziehe - vielleicht Minuten oder Stunden, vielleicht waren es aber auch nur Sekunden. Nachdem der Schock nachlässt, fühle ich den angerichteten Schaden umso stärker. Am schlimmsten ist das Pochen in meiner Schulter und das Ziehen darin, das mich bei jeder Bewegung zusammenzucken lässt. Einige Meter von mir entfernt vernehme ich klägliche Laute.

Der Greif liegt noch immer schwer und müde auf dem schwarzen Untergrund. Trotz der Farbe ist er eindeutig von seiner Umgebung zu unterscheiden. Sein Fell und seine Federn glänzen, während nicht einmal die schwarze Farbe des toten Bodens den Hauch von Lebendigkeit in sich trägt.

Eine feine Staubschicht, die die matte, vertrocknete Erde überzieht, bleibt an meinen Händen kleben, als ich mich mit verzogener Miene aufrappele. Auch die Luft ist mit Staub versetzt, erschwert das Atmen. Dieser Ort scheint die Kälte selbst zu bringen, denn der Boden fühlt sich an wie raues Eis. Von meinem schlechten Gewissen geplagt, schwanke ich zu dem armen Tier herüber, wobei mein Steißbein mit einem tiefsitzendem Druckschmerz auf sich aufmerksam macht. In meinem Wahn und der Angst geschnappt zu werden, habe ich vollkommen die Orientierung und den Überblick über meine Umwelt verloren. Ich weiß nicht, wo wir sind, und den Greif habe ich beinahe zu Tode gequält. Neben seinem Kopf lasse ich mich auf die Knie fallen - ignoriere dabei den Schmerz in meinem demolierten Körper - um diesen auf meinem Schoß zu betten. Behutsam lasse ich meine Hand über sein Fell gleiten.

Plötzlich schießen schrille Schrei aus seinem Schnabel. Er wackelt wild mit dem Kopf, taumelt hin und her, als er versucht sich aufzurichten.

Ein Blick nach vorne lässt mich versteinern. Aus der Ferne starrt eine hässliche, deformierte Kreatur zur uns herüber.

Glänzende, weit geöffnete Menschenaugen beobachten uns. Es ist ein kalter, animalischer Blick, in dem nichts anderes liegt, als Hunger und Begierde. Der Körper jedoch ist keineswegs der eines Menschen, jedenfalls nicht vollständig. Überall stehen blutige Beulen und Schwielen ab, wo ein Körperteil an das nächste grenzt. Beinahe wirkt es wie der schiefgegangener Versuch eines Abklatsches von Frankensteins Monster. Und wenn Frankensteins Monster ein Welpe ist, dann ist das hier der große, böse Wolf. Langsam setzten sich die unterschiedlich langen Beine in Bewegung. Eines davon sieht aus wie das Bein eines großen Hundes und das andere ist derartig mit Beulen und Blut verschmierten Fellbüscheln besetzt, dass es kaum zuzuordnen ist. Das Monster torkelt auf uns zu, kommt immer näher. Es ist bestimmt zweieinhalb Meter hoch. Von seinem verwesten Brustkorb hängt Haut an einer Seite herunter und gibt den Blick auf seine Rippen und den leeren Brustkorb frei. Sein Gesicht, oder seine Gesichter, sind das mit Abstand grauenvollste an ihm. Jedes seiner Augen befindet sich auf einer anderen Seite des riesigen Spaltes, der sich durch seinen Schädel zieht. Ob dieser einmal menschlich gewesen ist, vermag wohl keiner mehr zu sagen, doch ich glaube auch Reißzähne zu erkennen.

Ein weiterer Schrei des Greifes holt mich aus meiner Starre. Mit flacher Atmung rappele ich mich langsam auf. Ich möchte keine ruckartigen Bewegungen machen, die diese Kreatur reizen könnten.

Die Augen des Monsters huschen erst zu dem Greif, dann zu mir. Auf einmal rennt es los. Sein humpelnder, schwerer Gang beschleunigt sich weiter und weiter, bis er schließlich einen Arm als drittes Bein verwendet wie ein Affe.

Keuchend hetze ich los. Der Greif trabt ebenfalls mit seinen, öfters nachgebenden, Beinen vor mir her, führt uns direkt auf den grünen Wall zu.

Es jagt uns direkt in den Wald hinein. Kurz hoffe ich, es würde vor der Grenze seines Territoriums zurückschrecken, doch die Bestie kennt keinen Halt. Sie treibt uns tiefer und tiefer in die grüne Landschaft, bis plötzlich eine Vielzahl an unterschiedlichsten Wesen aus dem Dickicht auftauchen, über uns hinweg fliegen oder über meinen Kopf springen. Die Bestie rennt direkt in einen riesigen Speer hinein und in diesem Moment erkenne ich den Schmerz in seinen Augen. Ein großer Mann zwingt es mit gezielten Bewegungen in die Knie, schleudert es zu Boden. Dann erlischt das Licht in den Augen des Monsters. Ohne die schwarze Landschaft und das, durch den Staub scheinende, Licht, wirkt es nicht ansatzweise so gruselig wie noch vor einem Augenblick. Es sieht viel eher misshandelt und unverstanden aus - und tot.

Trotz seiner Ekel erregenden Erscheinung, trifft mich bei seinem Anblick nur eines - Schuld. Ich frage mich, wie es zu so etwas geworden ist.

„Armes Geschöpf", brummelt auch der große Mann und zieht seine Waffe aus der Brust der vermeintlichen Bestie.

Bei dem Klang seiner Stimme, einer fremden Stimme, wird mir bewusst, dass der Moment des Aufatmens erneut verstrichen ist. Denn auch wenn ich dem Monster und dem manipulativen Hofstaat der Feen entkommen bin, stehe ich wieder mitten in einem Kreis von schwer bewaffneten Fremden, dessen Absichten ich nicht einmal erahnen kann. Zwar kann ich die Wesen benennen, trotzdem kenne ich sie nicht. „D-danke", stottere ich hervor.

Der gut gebaute, große Mann stellt sich vor mich. „Du bist Luna."

Spitze Ohren, er hat spitze Ohren, eine Fee. Verdammt. „J-ja." Auf meine Stimme ist heute einfach kein Verlass.

„Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Salvatore", erzählt er plötzlich mit einem Lächeln auf den Lippen. Gleichzeitig hält er mir die Hand entgegen. Eine Höflichkeitsfloskel, die ich in dieser Welt noch bei niemandem entdeckt habe.

„Freut mich", antworte ich ganz verdattert und nehme seine Hand entgegen.

„So gerne ich jetzt auch plaudern würde, schlage ich vor, euch eure Fragen zu einem geeigneteren Zeitpunkt zu beantworten. Kommt mit uns. Für eure Ankunft ist bereits alles vorbereitet worden", berichtet mir seine dunkle Stimme. Trotz seiner teilweise förmlichen Sprache, ähnelt er den Feen im Palast Nalani wohl nur äußerlich. Er wirkt viel aufgeschlossener, freundlicher und vor allem ehrlicher. Mit mehreren großen Schritten umrundet er mich, um voranzugehen. „Übrigens soll ich euch von Hikaru ausrichten, dass ihr auf eurem Weg viel zu viel Zeit verplempert habt", ruft er noch mit gehobener Hand über seine Schulter hinweg.

Ich versuche ihn einzuholen, aber mein Steißbein macht mir einen Strich durch die Rechnung. Bestimmt ist es auch total verrückt ihnen jetzt zu folgen, doch ich habe wohl kaum eine Wahl. Wo soll ich denn hin? Was soll ich denn mit mir anfangen? Abgesehen davon, ist Hikaru der letzte und einzige Bekannte, den ich in dieser Welt noch habe, unabhängig davon, wie flüchtig ich ihn kenne. Aus diesem Grund greife ich nach dem letzten Grashalm, den ich noch zu greifen bekomme, und folge dem sympathisch wirkenden Kämpfer.

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