19 Klare Gedanken
Mein paranoider Blick gleitet über die Bildfläche, schießt immer wieder von links nach rechts, zu dem Boden unter meinen Füßen und über mich. Ich versuche angestrengt, die Umgebung um mich herum auszuhorchen, aber der Pulsschlag in meinen Ohren dröhnt so laut, dass er jedes andere Geräusch um mich herum in den Hintergrund zurückverbannt. Doch ein lautes Rascheln hinter mir durchbricht den Wall meines pumpenden Herzens, lässt mich schreckhaft herumfahren. Eine Gestalt stürmt auf mich zu und ich zucke heftig zusammen, setze dazu an, loszulaufen. Unbeholfen stolpere ich wenige Schritte rückwärts, wobei ich mich kaum auf den Beinen halten kann.
Er greift nach meinem Arm, zieht mich in seine Richtung und schiebt seine Hand unter Rücken. Akira drückt mich gegen seine Brust und mir entkommt ein verängstigtes Wimmern, ein kläglicher, erbärmlicher Laut. „Ich bin hier", stößt er die Worte hervor, drückt dabei bekräftigend gegen meinen Rücken.
„D-da ist-" Meine Stimme bricht bevor ich den Satz zu Ende bringen kann.
Laraldas Augen leuchten mich aus dem Dickicht heraus an, gleiten unter meine Haut. Mit nur einem Blick scheint sie mein Innerstes nach Außen gebracht, mich entblößt und mich durchschaut zu haben.
Akira dreht sich um seine eigene Achse, zu spät. Die Augen sind verschwunden.
Wie ein Blitz durchzuckt mich die Erkenntnis und ich sehe sie wieder vor mir stehen, wie sie mich eingehend durch die Menschenmasse hindurch ansieht, mich mustert. Es schien damals so normal, das Mädchen aus dem Kino. Aber jetzt weiß ich es besser.
Der Blick meines Freundes gleitet zwischen mir und dem Wald hin und her. Seine Augen zu Schlitzen verengt, die sein Misstrauen und sein Unbehagen deutlich erkennbar machen, beobachtet er für einen letzten Augenblick den Wald.
„W-was war das?", krächze ich. Ich strecke erschüttert meinen Finger in die Richtung, wo bis eben noch Laraldas Augen ihren Platze hatten.
„Das war eine stalkende Nymphe, und eine sehr mächtige noch dazu." Akira fasst mich an den Armen, um mich aus der Nähe dieses beäugten Waldes zu holen.
Als ich das Grün der Wiese, die sich vor uns auftut, beobachte, fließt die Angst plötzlich aus meinen Fingerspitzen. Mein Körper scheint sich auf dem Weg zu den bunten Reptilien, seiner Angst zu entledigen. Bei jedem Schritt tropft die kalte Angst von meinen Fingern auf den Boden herab und hinterlässt eine Spur des Unwohlseins. Meine Anspannung verfliegt. Stattdessen tritt ein wohlig, warmes Gefühl an die Stelle, an der bis vor kurzen noch mein Unwohlsein gesessen hat.
„Wo ist deine Kette?" Akira reißt seinen Kopf herum und sieht schockiert auf mein nacktes Brustbein herunter.
Ich tue es ihm gleich. Meine Hand berührt meine Haut, sonst nichts, als ich nach der Form eines kleinen Sichelmondes greifen möchte. Schuldbewusst sehe ich zu ihm hoch. „Es tut mir leid, es war dein Geschenk an mich. Ich wusste nicht, dass es dir so viel bedeutet."
Mein Freund fährt sich gestresst durch seinen dichten Haarschopf. „Okay." Er sieht noch einmal zurück zu dem riesigen Wald, dann zu der Wiese. „Du bleibst jetzt hier. Bleib in der Nähe der Drachen. Ich gehe zurück und hole das Amulett."
„Was...", ich greife nach seiner Hand, als er sich bereits auf den Weg macht.
Er löst sich vorsichtig von mir, gestikuliert beschwichtigend mit seinen Händen. „Es wird nicht lange dauern, versprochen. Wenn ich es nicht finde, komme ich wieder."
„Akira!" Und weg ist er. Lässt mich allein auf einer Wiese voller Drachen zurück. Überrumpelt starre ich ihm hinterher, wage es aber nicht, dem Wald näher zu kommen. Kurz zögere ich, bevor meine Füße mit kleinen, langsamen Schritten auf die Drachen zusteuern, weg von diesem verfluchten Wald. Aus irgendeinem Grund heitert mich der Anblick dieser liebevollen Monster auf.
Ein quietschgelber Drache hebt seine gelben Lider, um mich mit einem müden Blick zu begrüßen. Es sind freundliche Augen. Zwischen seinen Hörnern verläuft ein Farbklecks in einem fröhlichen Grünton, der sich hervorragend an die grüne Wiese anpasst. Ich schrecke ein wenig zurück, als er seinen Kopf hebt, um mich besser zu betrachten, doch er macht keine Anstalten mich zu zerfetzen oder vielleicht mit einem Feuerstrahl zu einem Häufchen Elend zu verbrennen. Seine Augen ziehen mich letztendlich komplett in seinen Bann.
Ich komme auf ihn zu, um mich etwa einen halben Meter direkt vor seine Schnauze zu stellen. Die Angst und alle anderen unterdrückten, vernebelten Gefühle kehren in meinen Körper und meine Seele zurück. Auch wenn es nur noch Erinnerungen an die Panik in Marianas und Tikus Haus und die Angst in dem verhexten Wald sind. Die reinigende Aura des gelben Reptils greift auf mich über, verschafft mir völlige Klarheit, befreit mich von jeglichen Einflüssen. Mit einem Mal wird mir bewusst, wie schwerwiegend sich diese Reise, diese ganzen Umstände auf mein Leben ausgewirkt haben und es noch immer tun. Die Erschöpfung zieht mich zu Boden, in den Schoß des Drachen, der sich schützend um mich legt. Mit zunehmender Erkenntnis merke ich, wie sich etwas in mir verändert. Der Verlust, die Lügen, der Verrat lassen mich hart werden, misstrauisch, paranoid. Ein großer Teil von mir ist bereits an dem Tag gestorben, als ich realisiert habe, dass ich meine Familie zurücklassen muss, doch anscheinend habe ich noch immer verzweifelt an der Vorstellung festgehalten, dass sich alles zum Guten wenden würde. Das wird es nicht. Ich kann nicht zurück. Ich bin kein Mensch. Ich bin eine Nymphe.
Während ich so dasitze und mein gesamtes Leben überdenke, dringt plötzlich ein schriller und vor allem lauter Vogelschrei in mein Trommelfell ein. Erschrickt schaue ich gen Himmel, von wo aus sich schwarze Punkte dem Erdboden nähern. Kurz bevor ich mich aufrappeln kann und zum Stehen komme, höre ich, wie vor mir etwas mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufkommt. Aufwirbelnder Wind zerzaust meine Haare und bringt das Geräusch raschelnder Federn mich sich. Als ich meine zusammengekniffenen Augen öffne, sitzen fünf Reiter vor mir, die von ihren Gefährten auf mich herabschauen.
Die schwarz gefiederten Kreaturen, stehen auf all ihren vier Tatzen, während sie außer Atem mit ihren Schnäbeln klappern. Greife, schießt es mir durch den Kopf. Ich dachte immer, sie besitzen das helle Fell eines Löwen, aber sie sind pechschwarz.
"Luna Evans", fragt die harte Stimme eines Mannes mit kastanienbraunen Haaren. Es hört sich eher nach einem Befehl an, als nach einer Frage.
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