15 Territorium Der Nymphen
Vertraute gelbe Lichtstrahlen empfangen mich, indem sie über meinen Körper gleiten und mich in eine friedliche Atmosphäre eintauchen lassen. Durch das Sonnenlicht geblendet, verkneife ich die Augen, als Akira mich ein paar Schritte weiter aus dem Schutz der Trauerweide herauszieht. Unter meinen leicht gesenkten Lidern nehme ich das knall-grüne, mit weißen Tupfen übersäte, Gras zu meinen Füßen wahr. Wenn man das überhaupt so sagen kann, denn an manchen Stellen reicht es bis zu den Hüften hinauf, sodass es nur um wenige Zentimeter von den überdimensionalen, weiß geblümten Pflanzen überragt wird. Die Halme sind bestimmt mehrere Finger breit. Vorfreude keimt tief in meiner Magengegend auf, lässt meinen Blick über den Boden wandern. Ein gutes Stück vor uns entdecke ich eine riesige, über das Land gespannte Wasserdecke, auf dessen Oberfläche das Sonnenlicht tanzt. Umrahmt wird sie von einem dünnen Streifen aus hellem Sand, auf welchem sich teils Felsen und große Steine häufen, die löchrige Wege bis Meter weit in das Meer hinein schaffen. Am Wasserrand, auf den Felsen, der Wiese, überall verteilt sitzen oder stehen Leute.
Für einen weiteren, kurzen Moment, einen klitzekleinen Moment nur für mich, schließe ich meine Augen. Plätschern, Zirpen, Gerede, Lachen. Ich sauge den Duft nach frischem Gras ein, als sich ein aufdringliches Summen meinem Ohr nähert. Ein paar dicke, fleißige Hummeln fliegen vor meiner Nase umher, lassen sich daraufhin aber auf ein paar in der Nähe stehenden Gänseblümchen nieder. Ich strecke meine leicht zitternde Hand aus, die meine Aufregung verrät. Darunter mischt sich ein winziger Teil an Angst, den ich mir selbst nicht zugestehen will, als eine der dicken Hummeln plötzlich reagiert und mit blitzschnellen Bewegungen über meine Finger krabbelt. Bei der Berührung durchfährt mich ein überraschtes Zucken, doch zum Glück scheint es das durchaus große Insekt nicht weiter zu stören. „Hier ist alles so...", fange ich den Satz an. Die Hummel rennt, wie vom Schlag getroffen, los, wandert über meine Arme, meinen Rücken, bis sie endlich auf meinem Handgelenk Halt macht. „...groß."
„Nur von Mutter Natur selbst geschenktes Leben. Wir sind hier im Territorium der Nymphen. Ihre enge Beziehung zu allem friedvoll Lebenden, wie zum Beispiel die Pflanzen hier", er deutet auf die riesigen Grashalme, „verschafft uns einen großen Einfluss auf diese Dinge", erklärt Akira fast, als würde er es nur nebenbei erwähnen. „Wir können willkürlich, nach Lust und Laune eingreifen und die Dinge verändern." Er schiebt behutsam seine Finger unter die Faustgroße Hummel, um sie wieder auf die Blume zu setzen. „Doch so etwas", er deutet auf die geflügelten Pummelchen, „schafft kein gewöhnlicher Nymph. Niemand ist allmächtig, doch Manche, Ältere, Nymphen mit einem großen Speicher voller gesammelter Erfahrungen, besitzen Wissen, mit dem sie auch auf vieles Einfluss nehmen können, wie es kein anderer kann."
Gebannt lausche ich Akiras Worten. Ich habe viel über Nymphen und jegliche andere Fabelwesen, Mythen, Legenden und so weiter gelesen, aber das, was er mir erzählt, was diese Welt mir zeigt, sind dennoch neue Informationen, die ich nur zu gerne aufsauge wie ein Schwamm das Wasser. Nymphen. Es gibt Dryaden und Nayaden. Die Einen für das Land die Anderen für das Wasser. Weiblich... oder auch nicht. An uns kommt eine Gruppe gut aussehender junger Männer vorbei, dessen Augen ihre wahre Natur verraten. „Ihre Augen, sie leuchten", merke ich an.
„So ist es", bestätigt Akira mit einem breiten Grinsen im Gesicht, als er seine Augen ebenfalls aufleuchten lässt.
Ich kann ihn nur verdattert ansehen. Mein ganzes Leben lang... dachte ich, er wäre ein Mensch. Wie konnte ich nur so falsch liegen, wo ich doch in Gedanken schon viel, viel zu lange in dieser Welt lebe? Er ist ein Nymph. Dinosaurierschreie zerreißen den angenehmen Klang der Natur, reißen mich von den blauen Himmeln in den Augen von Akira los und ich blicke erschrocken gen Himmel. Von oben herab stürzen sich immer größer werdende, bunte Punkte in die Tiefe, sausen zu uns herunter und lassen mich zusammenfahren, als sie wie farbenfrohe Schatten an uns vorbei huschen. Von Flügelschlägen erschaffenen Windböen zerren an meinen Haaren, als sich die Tiere nach und nach auf die weite, grüne Fläche setzen.
Akira belächelt meinen verdutzten Gesichtsausdruck und beugt sich leicht zu mir herunter, „Sie tun dir nichts. Wie jedes andere Tier greifen auch Drachen nur dann an, wenn sie bedroht werden".
Wie in Trance setzen sich meine Beine in Bewegung, machen einen Schritt nach dem anderen in die Richtung der riesigen Reptilien. Ein paar Meter von den ersten Drachen entfernt bleiben wir stehen. Knallbunt und in vielen verschiedenen Farben sind sie dort, jeder in seiner Form etwas anders als der nächste. Mein Herz schlägt höher, macht einen Satz in meiner Brust. Als müsse ich mich von der Realität dieser offensichtlich realen Kreaturen überzeugen, gehe ich auf sie zu und nähere ich mich einem quietschgelben, fläzenden Drachen. „Er ist wunderschön."
Das Geräusch flüsternder Kinderstimmen dringt aus dem hohen Gras. Ich muss mir ein lachen verkneifen, als ich drei Haarschöpfe hinter einem kleinen Hügel ausmache, die lustig hin und her wackeln.
Blitzschnell bewegt sich einer der drei Köpfe nach oben und grasgrüne Augen mustern mich für wenige Sekunden, bevor sie sich erschrocken weiten und der Kopf zurückgezogen wird. „Sie hat uns gesehen!", flüstert das Kind den anderen beiden zu.
Akira rollt seufzend die Augen. „Kinder sind immer so neugierig." Als würde er einer Dame die Hand hinhalten wollen, hebt er sie und krümmt merkwürdig verkrampft seine Finger, woraufhin das Gekreische und Gezeter dreier kleiner Mädchen hinter dem Hügel ertönt. Grashalme von riesengroßem Ausmaßen, geflochten zu einem runden, löchrigen Ball, befördern die Kind ohne Wenn und Aber über den Hügel bis zu unseren Füßen.
Erschreckt klettern sie aus ihrem grünen Gefängnis, um sich stolpernd und mit hochroten Köpfen vor uns aufzubauen. „Entschuldigung", sagen sie fast gleichzeitig. Der Anblick ist einfach herzzerreißend.
Sie sehen sich alle sehr ähnlich. Ihre Augen finden sich jeweils zwischen braunen Erdtönen, einem Grasgrün und Blütengelb wieder. Das Mädchen, dessen eine Hand sich jetzt an meinem Hosenbein festhält, besitzt die interessantesten Augen. Sie sind hellbraun und ein knalliges Gelb umringt gezackt ihre Pupillen. Die Haare gehen ihnen allen bis über die Taille. Helles, reines Braun wie man es sonst nirgendwo findet, fällt in leichten Wellen die kleinen Rücken hinunter. Sie tragen schlichte, weiße Kleider, die ihr Erscheinungsbild noch unschuldiger machen, als es ohnehin schon ist.
„Wie ihr seht, brauchen wir ein wenig Hilfe", spricht Akira die drei Mädchen an und deutet dabei mit dem Kopf auf meinen verbundenen Oberkörper.
Die Drei nicken heftig. Sie scheinen ganz seiner Meinung zu sein.
„Könnt ihr uns sagen, wo wir eine Wasserheilerin finden?", fragt er höflich.
Die Mädchen führen uns an einem großen Felsen vorbei, zu dem Ufer des Sees. Dabei sehen sie sich immer wieder zu uns um, um sicher zu gehen, dass sie nicht zu schnell laufen und ich mit meinen massakrierten Rippen hinterherkomme. „Wartet kurz hier." Sie laufen zu einer Gruppe von Kindern, die Wasser durch die Luft gleiten und Blumen zwischen den Steinen hervorsprießen lassen. Kurz darauf kommt eine von ihnen mit einem strohblonden Jungen wieder und lässt uns mit ihm allein. „Ich bin Tikus. Serena hat gesagt, dass ihr Hilfe braucht. Meine Mutter kann euch bestimmt helfen, wenn ihr wollt, kann ich euch zu ihr bringen. Sie ist gerade auch Zuhause", bietet Tikus uns seine Hilfe an.
„Danke", erwidert Akira und ich nicke ihm lächelnd zu.
„Kommt mit", ruft Tikus uns zu, als er sich schon umdreht und nach wenigen Schritten im See verschwindet.
In meinem Kopf prangt ein riesiges Fragezeichen. Kein Schatten, keine Silhouette. Nichts. Der Junge ist einfach verschwunden, als hätte ihn das Meer verschluckt.
„Wir werden tauchen müssen, Luna", Akira sieht von der Seite auf mich herunter. Sorgsam und ein wenig mitleidig. Er kennt mich. Er kennt meine Vergangenheit und meine Ängste und ich bin glücklich darüber jemanden zu haben, der mich versteht. Jemand, dem ich nichts erklären muss, weil er alles zusammen mit mir durchgemacht hat.
Dennoch schaue ich herunter, als ich das Mitleid in seinen Augen erkenne. Ich räuspere mich. Mein Mund und Hals werden plötzlich ganz trocken und schon beim Eintauchen meiner Füße in das Wasser bilden sich Schweißperlen auf meiner Stirn. Angstschweiß. „Okay", krächze ich kaum verständlich. Belegter kann meine Stimme kaum sein. Wenn ich mir nur vorstelle, wie die Kleidung an mir klebt, voller Sand und Dreck, schüttelt es mich. Zusätzlicher Ballast, der an meinen Beinen zerrt, meine Bewegungsfreiheit einschränkt und mich nach unten zieht.
Akira greift nach meiner Hand. Er streicht beruhigend mit seinem Daumen auf und ab. „Du kriegst das hin. Mach dir keine Sorgen, du kannst alles ganz mir überlassen. Du weißt, ich würde nie zulassen, dass dir etwas passiert", versichert er mir.
„Sprach er zu dem Mädchen mit dem kaputten Kopf und den gebrochenen Rippen", gebe ich ihm ironisch zu bedenken. Mit jedem Schritt, mit dem ich weiter in den See laufe, durchtränkt das Wasser mehr und mehr meine Kleidung. Es geht ziemlich steil hinunter.
„Touche."
Als mir das kalte Wasser bis zu meinem Bauchnabel hinauf reicht, stelle ich mich automatisch auf die Zehenspitzen.
„Kalt?", Akira schmunzelt.
„Halt die Klappe", erwidere ich barsch, spüre dabei, wie er sich ein Lachen verkneifen muss.
„Aber im Ernst. Ich passe auf dich auf, Luna", erklärt er mir nach einer kurzen Pause noch einmal mit mehr Nachdruck.
Dieses Mal glaube ich ihm. Der Boden unter unseren Füßen verflüssigt sich langsam im tiefen Meer. Wegen meinen Verletzungen ist es mir kaum möglich mich im Wasser zu bewegen, geschweige dem mich über Wasser zu halten, aber Akira hält mich fest umschlossen.
Einen Arm im Wasser ausgestreckt den anderen um meine Taille gelegt hält er uns beide mühelos ein gutes Stück über Wasser. „Luft holen."
Hektisch schnappe ich nach Luft, bevor Akira mich mit sich in die Tiefe zieht. Das Wasser schlägt über meinem Kopf zusammen. Dann sehe ich nur noch verschwommen durch einen Schleier die Sonne über mir und über dem Wasser am Himmel scheinen. Nach einem Meter, der mir viel weiter vorkommt, als er es in Wirklichkeit ist, setzt mein Gehirn vollkommen aus. Meine Schmerzen sind verflogen, die Aufregung ist viel zu groß. Wild schlage ich um mich, möchte mich aus Akiras Griff befreien.
Doch er zieht mich erbarmungslos weiter hinab und je tiefer wir schwimmen, desto dunkler wird es um uns herum. Es ist, als würde uns eine bedrückende Finsternis verschlucken.
Schon bald geht mir die Luft aus und der Druck auf meinen Ohren ist auch kaum noch auszuhalten. Wir schwimmen auf eine hell leuchtende Quelle zu, die den dunklen Grund des Meeres beleuchtet. Ich bewege ich mich instinktiv so schnell ich kann in die Richtung dieses hellen Lichtes. Wie eine Motte die vom Licht angezogen wird. Wir kommen auf dem Grund des Meeres zum Schwebestand, wo ich sehnsüchtig die nach oben steigenden Luftblasen beobachte, welche aus der strahlenden Öffnung im Boden dringen.
Akira zieht mich zurück an sich, zieht mich mit sich und wir schwimmen noch tiefer, in das Loch hinein. Ein Wunder, dass Akira überhaupt gegen die Strömung anschwimmen kann, aber wer weiß, was Nymphen alles können? Irgendwann schwimmen wir schräg zur Seite hinweg, lassen somit die starke Strömung hinter uns und halten auf einen zweiten Grund des Meeres zu.
Auf einmal wird ein enormer Druck auf meine Seiten und meinen Nacken ausgeübt. Akira saust rekordverdächtig, übermenschlich Schnell durch das Wasser. Wie eine Rakete schießen wir auf den Grund zu, bis ich frische Luft auf meiner Haut spüre und nach Luft schnappe.
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