11 Apartment 304
Die Tür öffnet sich selbstständig und verschafft uns freie Sicht auf den spärlich beleuchteten Flur des Apartments. Unsicher sehe ich zu Akira herüber. „Akira, wie bin ich hergekommen?", frage ich ihn und lasse meinen Verdacht im Unterton deutlich mitschwingen.
Er ignoriert meine Frage, fährt statt dessen aber mit einem „Ladys first" fort. Er macht mit dem Arm eine einladende Geste in die Richtung der Wohnung.
Trotz seiner offensichtlichen Hoffnung, ich würde mir nicht den Kopf weiter darüber zerbrechen, was eben geschehen ist, hört das Rad in meinem Kopf nicht auf, sich zu drehen. Wie könnte es auch? Man stahl mir meinen freien Willen. Dennoch weiß ich, jetzt ist weder der richtige Zeitpunkt, noch der geeignete Ort für diese Diskussion. Ich beschließe, die Konfrontation von Akira auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen. Darauf wende ich meinen Blick von meinem Freund ab, um den beengten Pfad vor mir zu beobachten. „Jaja, schieb die Kleinen vor", murmele ich noch in mich hinein, als ich bereits mit einem Fuß in dem Apartment stehe.
Wir betreten den gerade mal eineinhalb Meter breiten Flur, der obendrein auch noch mit Regalen und Gerümpel zugestellt ist, da quäkt auch schon eine alte Männerstimme, aus irgendeinem Teil der Wohnung, laut „Schuhe ausziehen!".
Schnell sehe ich auf und suche am Ende des Flurs den Besitzer der Stimme. Nichts zu sehen. „Das ist ja gar nicht gruselig", flüstere ich.
Akira verdreht die Augen, als er sieht, wie ich mir die Schuhe von den Füßen streifen will. „Lass sie an", beschwichtigt er mich.
Obwohl ich etwas verunsichert bin ziehe ich mir mein Schuhwerk wieder über die Fersen. Verblüfft stelle ich fest, dass Akira wohl den Pfeil aus seiner Schulter entfernt haben muss. Nicht einmal das habe ich mitbekommen.
Er zuckt gelassen mit der unverletzten Seite und bedeutet mir weiterzugehen.
Wir laufen weiter in die Wohnung hinein und landen in einer Art Wohnzimmer, Schrägstrich, Ablageraum. Gegenüber von einem kleinen, fleckigen Sofa steht ein alter, kastiger Fernseher auf einer Kommode und überall in der Wohnung lagern zig weitere offene Regale, die sich bis zur Decke stapeln. Sie bilden eine Art Durchgang, der an dem kleinen Sofa vorbei, hin zu einer Tür führt. Dabei handelt es sich eher um einen einsamen Türrahmen ohne Tür.
Akira schiebt sich an mir vorbei und geht voraus.
Ich folge ihm etwas langsamer, wobei ich neugierig in die zugestellten Regale hineinschaue. Überall sind kleine, bunte Döschen einsortiert und getrocknete Kräuter lagern in Einmachgläsern, hängen an Schnüren von der Decke und übersähen den Boden. Angespannt warte ich darauf, jeden Moment an abgehackten Hühnerkrallen und Augäpfeln im Glas vorbeizulaufen. Tatsächlich finde ich in einem der offenen Schränke, an dem ich vorbeilaufe, eine offene Büchse mit Hühnerkrallen, Schlangenhaut, etwas das aussieht wie Rattenschwänze und viel zu viele andere unheimliche Dinge, bei denen es mir kalt den Rücken herunterläuft.
Da ich zu fixiert auf den Inhalt der Regale bin, bemerke ich erst, dass Akira inzwischen stehen geblieben ist, als ich geradewegs gegen seine harte Brust laufe. Angespannt, wie ich bin, atme ich erschrickt auf.
„Angst?", fragt er mit seinem typischen Grinsen auf den Lippen.
„Natürlich habe ich Angst. Das hier ist schließlich keine stinknormale Wohnung. Hier sieht es aus wie in dem Haus einer kinderfressenden Hexe", lasse ich meiner Empörung, mit gezischten Worten, freien Lauf.
„Wie unhöflich", quäkt die alte Männerstimme hinter mir.
Erschrocken fahre ich herum, doch da ist niemand.
„Hier unten."
Vor mir steht ein vielleicht gerade mal einen Meter großer, schlitzäugiger Mann, der mich durch seine zusammengekniffenen Augen misstrauisch beobachtet. Sein Gesicht ist in tiefe Falten gelegt und von Altersflecken bedeckt. Die langen, grauen, dünnen Haare fallen ihm bereits oben aus aber die restlichen sind zu einem strengen Zopf am Hinterkopf zusammengebunden.
„Was macht ihr hier?", fragt er genervt.
„Es ist auch schön dich wiederzusehen, Großväterchen!", trällert Akira fröhlich, die Laune des kleinen Mannes ignorierend. Darauf beugt er sich ein Stück weit zu ihm herunter.
„Akira, womit habe ich deine Anwesenheit denn verdient?", möchte der Mann wissen und schaut gestresst zu Akira auf.
„Aus deinem Mund hört sich das wie etwas Schlechtes an", erwidert er mit gespieltem Ernst.
„Mmmh", der alte Mann gibt nur ein genervtes Geräusch von sich. Währenddessen begibt er sich in die Richtung des einsamen Türrahmens. "Also, wie kann ich dich schnellstmöglich wieder loswerden?"
„Wir brauchen deine Hilfe, gute Fee." Er grinst ihn frech an.
„Du brauchst immer etwas, wenn du herkommst. Was ist es heute?"
„Du wirst mit Sicherheit schon vermutet haben, warum ich hergekommen bin", deutet Akira an. Daraufhin tauschen Beide einen wissenden Blick aus.
„Sie ist es also?", fragt der alte Mann und deutet dabei mit einem Kopfnicken in meine Richtung.
Akira nickt stumpf mit ernster Miene.
„Nun gut." Der alte Mann kommt auf mich zu, um mich von oben bis unten zu mustern. "Komm mit", bestimmt er, um mich dann, durch das Gerümpel hindurch, zu seinem kleinen, ranzigen Sofa zu führen. "Setz dich."
Auf seine Anweisung hin, lasse ich mich auf dem Sofa nieder. Für seine Größe besitzt er dennoch ein großes Maß an Charisma und weiß offensichtlich genau, wie er jemanden dazu bringt, das zu tun, was er möchte.
„Weiß sie, wer sie ist?", spricht er jetzt wieder in Akiras Richtung.
„Nein, noch nicht. Doch leider haben bereits andere erkannt, was sie ist. Es waren zwar nur Söldner aber dennoch, es werden mehr kommen", erwidert Akira.
„Du siehst erschöpft aus. Ich mache dir einen Tee. Akira, komm doch bitte mit."
Noch bevor ich etwas einwerfen kann, verlassen sie den Raum durch den türlosen Durchgang und lassen mich alleine zurück.
Angesichts meiner Langeweile beschließe ich, das Zimmer erneut zu beäugen und bemerke, dass in der gesamten Wohnung nur eine einzige Lampe ist, die außerdem viel zu dunkel scheint, um alle Winkel und Ecken zu beleuchten. Davon überzeugt, dass es hier noch eine andere Lichtquelle geben muss, gehe ich zu der kleinen Tischlampe herüber, um sie auszuschalten. Sobald das elektrische Leuchten erloschen ist, wird der Raum von einem viel sanfteren Licht durchflutet. Überall sind Einmachgläser verteilt, die mit leuchtenden Krabbelviechern gefüllt sind. Fasziniert nehme ich eines der Gläser aus einem Regal heraus und öffne es. Die Glühwürmchen fliegen heraus in die Freiheit und schwirren fröhlich um meinen Kopf herum.
So fasziniert ich von ihnen auch bin, entgeht mir trotzdem nicht, dass etwas an meinem Bein hochklettert. Ich schaue nach unten und sehe, wie eine riesige, haarige Spinne an mir hochkrabbelt. Schreiend schüttle ich sie ab und ich springe auf das Sofa, um Abstand zwischen uns zu bringen.
Eine Sekunde später stürmt Akira ins Zimmer und dreht sich einmal um seine eigene Achse. „Was ist passiert?!" Als er die Spinne am Tischbein bemerkt lacht er laut auf und geht auf sie zu. Er nimmt sie einfach mit den Händen, damit er langsam mit der Spinne auf mich zukommen kann. „Luna, es ist nur eine Spinne. Sie tut dir nichts."
„Wenn du mir jetzt auch noch erzählst, dass die Spinne mehr Angst vor mir hat, als ich vor ihr, dann glaub mir, ist es das letzte was du sagst", motze ich Akira an, während ich mit meinem Oberkörper weiter nach hinten ausweiche.
„Sieh hin!"
Widerwillig wende ich meinen Blick auf die Spinne und sehe, wie ihre Beine plötzlich, beginnend von den Stellen, wo eigentlich ihre kleinen Füßchen sein müssten, verschwinden. Es ist, als würden sie in den Körper hineingesogen werden und auch die Haare verschwinden unter der Haut, als der Körper immer dicker wird. Schwups, kommen zwei kleine Beinchen und Ärmchen aus dem Klumpen. Dieser bekommt auch noch einen Hals und einen, im Vergleich zu dem restlichen Körper, riesigen Kopf, auf welchem zwei leuchtende Knubbel sitzen, mit zwei großen, runden Kulleraugen. Auch die Füße sind proportional viel zu groß.
Das Figürchen sieht neugierig zu mir hoch. „Tschuldigung", spricht es mit der niedlichsten Stimme, die ich je zu hören bekommen habe.
„Schon gut", antworte ich nach einiger Zeit zögerlich.
„Ich bin Rina", stellt sie sich höflich vor.
„Wir nennen sie Schicksalsgeister", erklärt mir Akira. "Sie können deine Rettung oder dein schlimmster Alptraum sein. Wie du siehst, können sie auch ihre Gestalt verändern. So zeigen sie dir deine Ängste. Und zu deinen gehören ganz offensichtlich Spinnen", stichelt er.
Akira und ich setzen uns nebeneinander auf das Sofa, als klirrende Geräusche aus dem Nebenraum näher kommen.
Der alte Mann kommt mit einem zugestellten Tablett um die Ecke und wir machen den Tisch frei, damit er das Tablett dort abstellen kann. Schließlich setzt er sich gegenüber von uns auf einen alten Klappstuhl. Er nimmt die Teekanne und befüllt mit dem Inhalt die, auf dem Tisch stehenden, Tassen. Dankend nehme ich eine davon entgegen und schenke ihm ein dünnes Lächeln. Vorsichtig trinke ich einen Schluck, der Flüssigkeit, während der Alte mich abwartend beobachtet.
Überrascht erwidere ich seinen Blick. „Wow, der Tee ist wirklich lecker."
„Gut, dann wirkt er", verkündet Dieser nüchtern.
Auf die Antwort hin ziehe ich die Brauen zusammen und lasse den süßlich scharfen Geschmack des Tees auf meiner Zunge zergehen.
„Bevor wir beginnen, sollte ich mich wohl zunächst vorstellen. Mein Name ist Hikaru. Es freut mir deine Bekanntschaft zu machen, Luna", stellt Hikaru sich höflichst vor.
Er weiß auch schon meinen Namen. Hat Akira ihm ihn verraten? Glaube ich kaum. „Die Mühe mich vorzustellen kann ich mir offensichtlich sparen. Anscheinend weiß jeder, mich ausgenommen, besser, wer ich selbst bin. Deswegen verzeiht mir, wenn ich etwas verwirrt bin. Ich verstehe nicht, warum wir hier sind. Was soll ich hier?", stelle ich jetzt endlich die Frage, die mir schon viel zu lange auf der Zunge liegt.
„Luna, es ist nicht wichtig, wer ich bin und warum ihr hier seid. Wichtig ist, dass du herausfindest, was deine Aufgabe ist. Du musst herausfinden, wer du bist. Ich kann es dir genauso wenig sagen wie jeder andere. Das ist etwas, das du alleine bewältigen musst", erklärt Hikaru mir sanft aber bestimmt. „Dabei geht es viel weniger um das Wesen, das du ohne Zweifel bist, als um die Züge deines Charakters."
Herausfinden, wer ich bin. Das Wesen, das ich bin. Die Worte dieser einfachen Tatsachen hallen wie ein nie endendes Echo durch meinen Kopf. Was soll ich dazu sagen? Vor ein paar Stunden machte die Laufbahn meines Lebens eine 180-Grad-Wende und jetzt steht selbst meine Existenz, als Mensch, zur Debatte. Mein Umfeld, das ich so liebte ist mir entrissen worden und mit ihm selbstverständlich meine Familie und meine Freunde. Was soll ich Hikaru jetzt antworten? Dass ich diese Aufgabe gar nicht will? Dass ich nicht herausfinden möchte wer ich bin, sondern viel lieber zu meiner Familie zurückkehren möchte, doch dass ich das nicht kann, weil sie sonst alle von zwielichtigen Kreaturen ermordet werden?
Ein Klopfen zerreißt die Stille, ruckartig drehen alle ihre Köpfe in Richtung der Wohnungstür.
„Was ist los?", flüstere ich. Das Aufschrecken meiner Begleiter versetzt mich in Aufregung.
„Pst!", der alte Mann springt auf und saust los. „Ihr müsst hier raus!", flüstert er uns zu. „Sie sind hier! Such Egbert. Er kann dir helfen. Er kann dir alles zeigen", erklärt er knapp und schnell.
Akira zieht mich hoch und wir laufen auf den Türrahmen zu, während ich im Hintergrund vernehme, wie die Wohnungstür mit einem lauten Knall auffliegt.
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