2 Große, Weite Welt
Luna:
Der Anblick bringt mich ins Schwanken. Als ich sehe, wie meine ehemaligen Schulkameraden doch tatsächlich die Tür zum Arbeitszimmer durchtreten, verlässt mich jeglicher Halt. Alles um mich herum scheint meilenweit von mir entfernt. Akiras Anwesenheit ist der letzte Zweig, an den ich mich klammern kann. Er gibt mir die Kraft, mich aufrecht zu halten, mich nicht schon wieder von dem Gefühl des Verrats in die Knie zwingen zu lassen. Denn so hart mich die Wucht auch trifft, mit welcher meine Gefühlswelt auf mich niederprasselt, so weiß ich jetzt auch, dass ich nicht mehr alleine bin.
Ailwyn sieht abwartend zu mir herüber. Das freundliche Lächeln auf seinen Lippen ist versiegt, denn Fremde sind in den Palast vorgedrungen. Seine Hülle ist glatt und undruchdringbar. Das wohlige Gefühl, das mir das warme Grün seiner Augen stets schenkte, ging mit seinem Lächeln.
Kurz überrascht es mich, als mich der kalte Blick seiner matten Augen durchdringt, doch rufe ich mir wieder in's Gedächtnis, wer er ist. Eine Fee, eine Palastwache, mein Untertan. Ich erinnere mich an das Gespräch, bevor sich die Tore zum Thronsaal öffneten und ich den Schicksalspfad hin zu meiner Hochzeit betrat. Würde dies das letzte vertraute Gespräch sein, das wir geführt haben?
„Danke, Ailwyn." Akiras tiefer Bass durchdringt die Stille in diesem Raum, doch vertreiben kann auch seine Stimme nicht die Eiseskälte. Auf seine Worte hin, nickt er unserer Wache zu, ehe sie sich nach einer angedeuteten Verbeugung zurückzieht. Mit Ailwyn verschwindet auch der Boden unter meinen Füßen.
Mein Herz muss ein paar Schläge ausgesetzt haben, denn als es plötzlich wieder zu schlagen beginnt, fühlt es sich an, als wäre es nicht mehr das meine. Zu oft ist es verletzt worden, zu oft ist es verraten worden. Es ist jetzt ein neues Herz, ein neues Ich. Langsam und schwach klopft es gegen meine Rippen und bettelt um Gnade. Zu gerne würde ich sie ihm gewähren und nie wieder aus meinem dunklen Loch hervorkriechen, doch ihre wundervollen, braunen Augen scheinen mich zu bannen. Ich brauche nicht darüber nachzudenken, warum sie mir bis in diese Welt gefolgt sind, oder gar warum sie sich als meine Freunde ausgaben. Die Schuld in ihren leuchtenden, hellen Augen gibt mir genug Antworten auf meine zusammengesponnenen Verschwörungstheorien.
Die Stimmung ist merklich angespannt. Jeder beobachtet jeden. Alle starren sich gegenseitig an und keiner traut sich, auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen. Doch bin ich bereits geübt darin, auch in unangenehmen Situationen weiterzumachen, als würde nichts davon auf mich abfärben, als würde nichts von alle dem von Belangen sein. Ich räuspere mich kurz, wobei ich mich fast an meiner eignen Spucke verschlucke. Die Köpfe schnellen in meine Richtung. „Wollt ihr uns nicht erzählen, was es mit eurem Auftauchen auf sich hat?" Bemüht ruhig, lasse ich die kühlen Worte durch meine Kehle rinnen.
Jess und Tobi wechseln skeptische Blicke, ehe der Riese einen winzigen Schritt auf uns zu macht. „Wir wollen helfen."
Jetzt sind es Akira und ich, die einen Blickwechsel vornehmen. Helfen wobei? Was wissen sie? Wie können sie überhaupt davon wissen?
„Wie seid ihr in diese Welt gekommen? Menschen können nicht durch die Tore", stellt Akira fest und lässt damit die unübersehbare Andeutung in der Luft hängen. Er steht aufrecht und seine Maske scheint sich bildlich vor seinem Gesicht zu manifestieren. Er schließt uns aus, die Außenwelt, Jess und Tobi. Sind sie Freund oder Feind? Spione?
Die beiden treten ertappt auf der Stelle. Sie werfen uns ernste Blicke zu. Ihr Unbehagen ist ihnen deutlich anzusehen. Was haben sie zu verbergen? Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache. Mein Magen zieht sich zusammen.
„Wir sind keine Menschen." Tobis schuldbewusster Blick versetzt mir einen Stich. „Wir sind Gestaltwandler." Trotz der Klippe die sich zwischen uns vieren auftut, trotz der zugegebenen Schuld, die Tobi auf seine Schultern lud, steht er aufrecht da, mit breitem, sicheren Stand. Alles an ihm strahlt Selbstbewusstsein aus, er ist bereit die Konsequenzen zu ertragen.
Kann ich das auch? Kann ich dich Konsequenzen ertragen, die diese Offenbarung mit sich bringt? Sie bringt uns meilenweit auseinander, treibt uns in entgegengesetzte Richtungen. Unsere Freundschaft hängt an seidenem Faden. Wenn es sie überhaupt noch gibt, wenn es sie denn jemals gegeben hat.
„Gestaltwandler?" Akira scheint sichtlich verwirrt.
„Ihr seid schließlich nicht der einzige Kontinent, den es auf dieser Welt gibt", erklärt Tobi weiter.
Zwischenzeitlich sehe ich von dem Riesen herab zu Jess. Sie versucht meinen Blick zu meiden, hat sich bisher nicht einmal zu Wort gemeldet. Immer wieder zucken ihre Augen in meine Richtung und schnellen wieder zurück. Ich starre sie nur an und warte auf irgendetwas. Keine Ahnung, worauf ich warte. Eine Entschuldigung, vielleicht eine Erklärung, die das alles hier besser machen würde?
„Nicht der einzige Kontinent?", fragt Akira jetzt mit zu Faltengelegter Stirn. Die Gewohnheit muss ihn übermannt haben. Seine Maske ist gefallen und er gibt sich so locker, als stünden wir hier in Mr. Browns Englischklasse.
„Naja es gibt, um genau zu sein, außer euren und unseren, noch zwei weitere... Aber wir sind nicht hier, um euch in Geographie zu unterrichten." Die Stimmung, die sich für den Bruchteil einer Sekunde zu lockern schien, fällt erneut in den Keller. „Es geht um den Schatten." Tobis dunkle Stimme trieft nur so von Bedeutung. Finsternis huscht durch seine Augen, Schmerz, Erinnerung.
„Was wisst ihr über den Schatten?" Diese Information lockte mich nun endgültig aus der Reserve. Durch meinen Kopf zucken Bilder von deformierten, verwesenden Kreaturen. Gleichzeitig graut es mir vor mir selbst. Diese Wesen und diese Welt haben aus mir eine Mörderin gemacht, einen schlechten Menschen, auch wenn ich das nur zur Hälfte bin. Wenn ich an den armen König denke, schlafend und schutzlos liegt er im Bett, während Akira ihm das Gift in den Rachen kippt. Und ich... ich sehe nur auf die tragische Szene herunter, nicht fähig dazu, mich zu bewegen, etwas zu sagen.
„Sie haben unseren Kontinenten verschlungen. Alles was noch übrig ist, ist die trockene, schwarze Ödnis, die sie mit sich ziehen. Unsere Heimat ist zerstört, unser Volk so gut wie ausgerottet. Ein paar konnten noch auf andere Kontinente fliehen aber... wir haben jeglichen Kontakt verloren." Er macht eine kurze Pause und sieht zu mir herüber. „Einige Zeit zogen wir durch die Wälder, versteckt. Wir wussten nicht, wo wir in dieser feindlich gestimmten Welt einen Platz für uns finden sollten. Immerhin waren wir Fremde. Wir waren schon dabei einen Weg nach Übersee zu finden, da-"
Ich unterbreche ihn mitten im Satz. „Da habt ihr von der Retterin gehört." Das ist also der Grund dafür, dass man unbedingt in meiner Nähe sein möchte. Wieder einmal.
„Es gab uns Hoffnung. Wir wollten unsere Heimat zurück", erklingt plötzlich Jess helle Stimme. „Luna, wir wollten doch nur nach Hause. Du bist unsere letzte Hoffnung." Ihr flehender Blick schneidet mir so tief in's Fleisch, dass ich glaube, mich übergebe zu müssen.
Meine Füße machen sich selbstständig und tragen mich davon. Ich halte es nicht länger in diesem Raum aus mit diesen beiden. Falsche Freunde, Verräter, das sind sie! Ich reiße die Tür auf und Stürme hinaus auf die Gänge des Palastes. Das Moss auf dem Boden verschluckt die leichtfüßigen Schritte von Akira, als er plötzlich hinter mir steht und mich zu sich herumdreht.
„Wo willst du hin?", fragt er mit besorgter Miene.
„Weg." Ich habe jetzt keine Lust mit ihm zu diskutieren.
„Ich komme mit." Er will uns weiterschieben aber ich bleibe wie angewurzelt stehen.
„Nein."
„Dann sag mir wenigstens, wie du dich fühlst?" Er hört nicht auf, mich zu nerven, bis er sich sicher ist, dass ich nicht durchdrehen werde, da bin ich mir sicher.
„Wie soll ich mich schon fühlen? Gibt es irgendjemanden in dieser verfluchten Welt, der mich mag, weil ich bin, wer ich bin. Selbst Jess und Tobi, kamen nur zu mir, weil in irgendeinem uralten, verstaubten Buch steht, ich würde diese Welt retten! Gerade du solltest wissen, wie es mir jetzt geht, nach allem, was wir durchgemacht haben." Die Worte platzen einfach so aus mir heraus.
„Ich weiß genau, wie es die letzten Monate zwischen uns lief. Für mich war es genauso hart, dich nicht mehr um mich zu haben." Akira scheint nun ebenfalls verärgert zu sein, doch ich fühle mich gerade nicht in der Lage, näher darauf einzugehen. Alles prasselt auf mich herab. „Luna, du weißt genau, der Grund, warum ich bei dir sein will, ist nicht der, dass du die prophezeite Retterin bist." In seinen Worten liegen mehr als nur eine Bedeutung.
Mein Herz setzt einen Schlag aus und hämmert gegen meine Brust. Der Gedanke an unseren Kuss macht mich unsicher. Die Schmetterlinge in meinem Bauch, die eigentlich gar nicht da sein sollten, setzen noch einen oben drauf. Ich trete hastig einen Schritt zurück. Mein Fluchtinstinkt setzt sich durch. „Tut mir leid. Ich möchte jetzt alleine sein", presse ich die letzten kurzen Sätze hervor und wende mich ab. Ich muss meinen Kopf frei bekommen.
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