Kapitel 12

Tyr wusste, dass er nicht erwünscht war und dass er früher oder später gehen würde müssen. Er hätte ein Leben in Gefangenschaft ertragen, wenn er dafür bei Lya gewesen wäre. Aber das war keine Option. Schritte rissen ihn aus seinen Gedanken. Eine Frau bog um die Ecke. Sie ging selbstsicher und sah ihn furchtlos an, als sie so nah ran tratt, dass er sie hätte packen können. Sie gab ihm das Tablett mit dem Essen und verzog sich dann in eine Ecke, starrte ihn aber immer noch an. Tyr wusste, dass sie bleiben würde bis er gegessen hatte. Er wusste nicht, was sie dachten, was er mit dem Tablett anstellen könne. Sie ließen ihn jedenfalls nicht unbeobachtet essen.

"Wie geht es deinem Hals, Wolf?", fragte die Frau.

Tyr griff sich unwillkürlich an den Hals und kniff die Augen zusammen. Diese Frau hatte ihm das Betäubungsmittel verabreicht. Er war sich ziemlich sicher, dass sie sich beim Sturz von ihm eine Rippe angeknackst hatte.

"Ich heiße Tyr und ich glaube deiner Seite geht es schlechter", gab er zurück.

"Rechter Rippenbogen", bestätigte sie, "hab den Fehler gemacht zu denken es wirke wie bei einem Menschen."

Darauf erwiederte Tyr nichts. Er war nun mal kein Mensch.

"Reed hat es schlimmer erwischt", fuhr die Frau fort, während er aß.

"Er wird auf dem Auge vermutlich nur noch sehr schlecht sehen können, wenn nicht sogar gar nicht mehr."

Tyr ließ die Hand mit dem Brötchen sinken und starrte die Frau durchdringend an.

"Ich werde mich dafür nicht entschuldigen."

Die Frau winkte ab.

"Reed startet immer auf eigene Faust Aktionen, die Zach nicht genehmigt hat. Er hätte auch drauf gehen können. Er legt es praktisch darauf an."

Tyr verstand nicht ganz den Zusammenhang, ließ es aber darauf beruhen.

"Ich bin übrigens Rachel", stellte sich die Frau vor.

Es interessierte Tyr herzlich wenig, aber er nickte trotzdem.

"Wie ist es ein Wolfsmensch zu sein?" Tyr blickte auf.

Das hingegen war eine interessante Frage.

"Wie ist es ein Mensch zu sein?", stellte er die Gegenfrage.

Rachel verzog das Gesicht offensichtlich unzufrieden, dass er auswich.

"Ganz gut, schätze ich. Wir leben in einer Gemeinschaft, die zusammen hält. Jeder kümmert sich um jeden. Außer, dass wir den Wolfsmenschen unterlegen sind, sehe ich keine Nachteile am Mensch sein."

"Im Einzelkampf seid ihr vielleicht unterlegen", stimmte Tyr zu, "aber ihr habt Waffen erfunden, während wir uns häufig nur auf Körperkraft verlassen. Außerdem seid ihr prozentual mehr Menschen als es Wolfsmenschen gibt."

Rachel schien ehrlich interessiert an Tyrs Worten. Er musste aufpassen nichts wichtiges zu verraten. Er hatte zwar mit seinem Volk gebrochen, aber es gab immer Unschuldige und die wollte er nicht in Gefahr bringen.

"Ich fänd es unglaublich toll so stark zu sein", gestand Rachel.

"Ganz ehrlich bei den Menschen herrscht immer noch der Gedanke, dass die Frau beschützt werden muss. Ich war nie so. Ich habe mich mit älteren Kindern geprüggelt, um meine Freunde zu beschützen. Ich bin mit Zach und Drew umher gestreift. Ich habe Kleider gehasst. Meine Mutter hatte es wohl nicht leicht. Ich war ein Wildfang. Wahrscheinlich rauft sie sich jetzt noch die Haare", erzählte Rachel lachend.

Tyr war gebannt. So offen hatte noch nie ein Mensch mit ihm gesprochen, ausgenommen Lya. Vielleicht weil sie ihn nicht behandelte wie ein Feind, gab er ihr auch noch einen Einblick in sein Leben.

"Bei uns sind es auch oft Frauen, die den Ton angeben. Sie können genauso gefährlich sein, wie die Männer und werden deshalb respektiert."

Rachel fand die Vorstellung wundervoll. Klar sie war Wächterin der Gemeinschaft und hatte alle möglichen Kampftechniken gelernt. Aber letzendlich würden die Männer immer versuchen sie zu beschützen und sie vom schlimmsten Kampf fernzuhalten. Tyr ahnte, was Rachel durch den Kopf ging.

"Beschützt zu werden, ist nicht selbstverständlich. Bei uns werden die, die sich nicht selbst verteidigen können, verstoßen. Ist es nicht gut zu wissen, dass jemand da ist, wenn man sich nicht selbst schützen kann?", fragte Tyr.

"Habe ich recht, wenn ich denke, dass jeder von euch einen verletzten Kameraden schützen würde, ob Frau oder nicht?", hakte er weiter nach.

Er wollte, dass Rachel verstand das Schutz nicht selbstverständlich war. Zumindest nicht bei seinem Volk.

"So habe ich das noch nir gesehen", gestand Rachel.

Sie stand auf und nahm, dass Tablett an sich.

"Du bist anders als ich erwartet habe, Wolf."

Dann ging sie. Tyr ging das Gespräch noch oft in Gedanken durch, das er nie gedacht hätte so mit einem Menschen zu führen.

Etwas später kam Zach vorbei. In der Hand hielt er eine Decke, die er Tyr hin hielt.

"Wolfsmenschen sind kälte gegenüber resistent", sagte Tyr.

Zach schnaubte.

"Meinst du, das weiß ich nicht. Aber den harten Boden spürt ihr schon noch oder?"

"Das stört mich nicht", erwiederte Tyr.

"Nimm sie einfach sonst reißt mir deine Lya den Kopf ab."

Da nahm Tyr die Decke und Zach verschwand zufrieden. Der Tag verlief ohne weitere Begegnungen. Abendessen brachte ihm nicht Rachel, sondern ein schweigsamer Mann. Tyr erinnerte sich, dass er der Vater des Jungen Ruben war. An den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern.

Er vermutete, dass die Nacht eingebrochen war und versuchte sich zu entspannen. Er fuhr sofort wieder hoch als er kurze Schritte hörte. Er spürte wie sich seine Eckzähne verlängerten und seine Augen sich an die Lichtverhältnisse anpassten. Eine Gestalt bog um die Ecke und er entkrampfte sich wieder.

"Was machst du hier, Lya?"

Sie stockte kurz und kam dann näher.

"Ich kann nicht schlafen, wenn ich weiß, dass ich in einem gemütlichen Bett liege und du nicht", flüsterte sie.

Dann setzte sie sich neben ihn.

"Du solltest es endlich genießen", murmelte Tyr und wickelte sie in die Decke ein, welche sie ihm hatte bringen lassen.

Die Ketten an seinen Handgelenken glirrten leise. Es rührte ihn sehr, dass sie obwohl sie nun endlich ein richtiges Bett hatte zu ihm gekommen war. Zu genau erinnerte er sich an die dünnen Decken und klapprigen Schlafgestelle, mit welchen die Menschen auf der Burg auskommen mussten.

"Wenn du gehst, komme ich mit dir", sagte Lya plötzlich und bewies damit, dass auch sie wusste, warum er nicht bleiben konnte.

Tyr stockte kurz.

"Ich weiß", erwiederte er dann.

Denn er wollte nicht, dass Lya jetzt mit ihm diskutierte, wo sie doch eigentlich schlafen sollte. Er spürte, dass sich der Mensch, welcher Lya gefolgt war, zurück zog. Er schlang einen Arm um sie, achtete aber darauf ihre verletzte Schulter nicht zu berühren. Ihr Geruch umgab ihn und erfüllte ihn mit Zufriedenheit. Er beugte sich näher zu ihr und strich ganz sanft mit seinen Lippen über ihre. Ganz kurz spürte er wie ihr der Atem stockte. Dann reckte sie sich ihm entgegen und vereinte seine Lippen mit ihren.

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