Weihnachtsferien und William

Wieder saß Annika im Schnellzug Richtung London, wieder zogen die Landschaft und die jetzt kahlen Laubbäume an ihr vorbei, während sie aus dem Fenster blickte. Ihr Atem zeichnete auf der Fensterscheibe nebelige Spuren, da es draußen bitterkalt war. Der graue Himmel spiegelte ihre innere Gemütslage wieder und ließ sie frösteln.

Seufzend kuschelte sie sich enger in ihren dicken Pulli und ließ ihren Blick durch den Waggon schweifen. Der Zug war nur halb voll, was wahrscheinlich daran lag, dass es ein Vormittagszug war.

Caro hatte sie samt Gepäck zum Bahnhof gebracht. Ausnahmsweise hatte ihre Oma nicht darauf bestanden, Jeffrey zu schicken. Er war bestimmt zu sehr damit beschäftigt, sie zwischen Krankenhaus und der Wohnung in London hin und her zu kutschieren.

"Schreib, wenn du angekommen bist und halte mich bitte auf dem Laufenden, wie es deinem Opa geht", hatte Caro ihr ins Ohr gemurmelt, als sie sich verabschiedet hatten. "Und vergiss deinen Arsch von Trainer mal ein paar Tage", hatte sie noch hinzugefügt.

Annika hatte ihr natürlich von der Auseinandersetzung mit Nick im Training erzählt und diesmal hatte Caro jegliche Romantik in den Wind geschossen und Nick bis zum Mond und zurück mit Flüchen beschimpft. Annikas Wut auf ihn war schnell verdampft und einer unendlichen Traurigkeit und Frustration gewichen. Sie stritten und kränkten sich andauernd und schienen keinen Meter vorwärts zu kommen. Vielleicht war das, was sie füreinander fühlten, einfach nicht richtig. Nicht gut für sie.

Dieser Gedanke löste bei Annika aber einen Schmerz aus, der kaum zu beschreiben war.

"Und dann sehen wir uns in Cornwall", hatte Caro gegrinst, als der Zug eingerollt war und sie sich zum gefühlt hundertsten Mal umarmten.

Cornwall... Annika freute sich auf die Woche, die sie mit Caro in einem Ferienhaus in Cornwall verbringen würde, aber sie hoffte, dass davor alles mit ihrem Opa geklärt wäre. Falls William im Sterben lag, würde sie ihn auf keinen Fall verlassen.

Sie schluckte die sich anbahnenden Tränen hinunter und holte ihr iPhone aus der Tasche. Sie wusste, dass es irrsinnig war, trotzdem hoffte sie die ganze Zeit, dass Nick ihr geschrieben hatte. Dass er sich entschuldigen würde. Oder wenigstens die Hand nach ihr ausreichen würde. Den ersten Schritt wagen würde.

Aber auch dieses Mal war keine Nachricht von ihm gekommen.

Seufzend legte sie ihr Handy wieder weg und holte eine Schullektüre hervor. Direkt nach den langen Ferien fingen die Semesterklausuren an. In jedem Fach wurde eine Prüfung über den gesamten Stoff des ersten Halbjahres geschrieben. Da das eine Unmenge zum Lernen war, waren die Weihnachtsferien auch vier Wochen lang.

Vier Wochen... Vier Wochen würde sie Nick nicht sehen, stellte Annika fest und sah grübelnd von dem Buch auf. Caro hatte sie überredet, dass die letzten drei Tage im Ferienhaus Gab dazukommen würde. Damit Annika sich nicht als drittes Rad fühlte, hatten sie noch ausgemacht, dass er Simon mitnahm. Sie verstand sich mittlerweile wirklich gut mit ihm und die anfängliche Abneigung gegen ihn war ganz verschwunden.

Trotzdem störte sie der Gedanke, dass Gab und Simon kamen, Nick aber nicht. Die drei gehörten irgendwie zusammen. Und deswegen würde seine fehlende Präsenz umso heftiger wirken.

Es hatte eh keinen Sinn, darüber nachzudenken, redete sie sich selber ein und versuchte, sich wieder in die Lektüre zu vertiefen. Das klappte auch eine viertel Stunde, bis ihr iPhone vibrierte. Mit klopfendem Herzen nahm sie es zur Hand, nur um wieder diese abgrundtiefe Enttäuschung zu spüren. Die Nachricht war nicht von Nick.

Dafür aber von Joe und das konnte trotz allem ein kleines Lächeln auf Annikas Lippen zaubern.

"Du Dreckssau hast heute schon Ferien, weißt du wie eifersüchtig ich gerade bin? ... Nein, mal Spaß bei Seite. Ich hoffe mit deinem Opa ist alles palletti! Ich denk an dich :*"

Womit hatte sie nur einen Kumpel wie Joe verdient? Alle ihre "Freunde" aus London hatten sie vergessen, seit sie auf die Carmelot-Schule ging. Hatte sie ein oder zwei Mal was von ihnen gehört? Traurig war sie darüber nicht, eher überrascht wie oberflächlich die Londoner High Society in Wirkilchkeit war.

"Danke, bin gespannt wie es ihm geht... Wenn du so eifersüchtig bist und dich langweilst, kannst du ja einfach schwänzen und dich zu mir gesellen", ärgerte sie ihn und wusste ganz genau, wie verlockend das Angebot für ihn war.

"Koffer ist schon gepackt, ich komme sofort!", erhielt sie kurz darauf seine Antwort und musste leise kichern.

"Aber mal im Ernst, ich will dich in den Ferien schon gerne sehen", schrieb Annika, da sie wusste, dass Joe mindestens zwei Wochen in der Hauptstadt verbringen würde.

"Alles für dich. Aber ich muss weiter zum Unterricht, Pause ist aus. Hab dich lieb, Schwesterchen!"

Wieder kicherte Annika. Sie fand es lustig, dass Joe diese Bruderrolle angenommen hatte, als wäre es selbstverständlich. Rebecca hatte ihr erzählt, dass Gerüchte herumschwirrten, dass sie und Joe etwas miteinander hätten. Aber das war zwischen ihnen nie auch nur ansatzweise eine Möglichkeit gewesen. Von Anfang an war irgendwie klar gewesen – ohne dass sie darüber gesprochen hatten – dass sie nur Freunde waren. Mehr nicht.

Außerdem war es nur eine Frage der Zeit, bis das, was zwischen Joe und Phoebe lief, ernster wurde. Dann würden alle Gerüchte über sie dementiert werden, ohne dass sie dafür etwas tun musste.

Im Grunde war es ihr aber eigentlich auch egal. Für sie zählte jetzt erst einmal die Gesundheit ihres Großvaters.

___

Geraume Zeit später hielt der Zug endlich in London. Annika hievte ihren zentnerschweren Koffer aus dem Zug, machte ihre Winterjacke ganz zu und versuchte durch den leichten Nebel, der über der Stadt lag, zu sehen. Sie ging einige Schritte, als sie Jeffrey, den Familiechauffeur, erkannte, der suchend über den Bahnsteig blickte. Der eher wortkarge Mann erkannte sie und kam auf sie zu.

"Ach, Jeffrey", seufzte Annika erleichtert darüber, eine ihr wohlbekannte Person zu sehen und ließ sich von ihm in die Arme schließen.

"Schön Sie zu sehen, Miss", murmelte er und nahm daraufhin ihren Koffer. Obwohl sie sich ihr Leben lang kannten, beharrte er darauf, sie 'Miss' zu nennen, trotz zahlreicher Aufforderungen, sie beim Namen zu nennen.

"Mrs. Cullum wartet zu Hause auf Sie. Danach fahren wir ins Krankenhaus", erklärte er, während sie zum Auto gingen.

"Wie geht es ihm, Jeffrey?", fragte sie ängstlich. "Oma sagt nicht viel dazu."

"Ich weiß es nicht, Miss. Mrs. Cullum hat mich noch nicht zu ihm gelassen."

Annika sah Jeffrey fassungslos an. Das war einmal wieder typisch von ihrer Oma! Aufgebracht schnaubte sie und schüttelte den Kopf.

"Ich werde dafür sorgen, dass du ihn sehen kannst. Das verspreche ich dir", lächelte sie ihn aufmunternd an, als sie auch schon den Privatwagen erreichten. Annika setzte sich auf den Beifahrersitz, was Jeffrey mit einem amüsierten Grinsen quittierte. Ihre Oma würde ausflippen, wenn sie sah, dass sie nicht hinten saß – wie es sich gebührte.

Die Fahrt verlief wortlos, zu ängstlich war Annika über den Zustand ihres Opas. Sie ließ ihren Blick über die zahlreichen Weihnachtsdekorationen in den Straßen Londons streifen. Zig Lichterketten trugen dazu bei, dass ihre Stimmung sich ein klein wenig hob.

Zehn Minuten später stand sie vor der Wohnung, in der sie aufgewachsen war, und wartete darauf, dass Diana ihr aufmachte. Als die Tür aufging, hielt Annika den Atem an. Ihre Großmutter sah wie immer elegant und würdevoll aus, doch Annika konnte trotz dem dick aufgetragenen Make-Up die dunklen Augenringe erkennen, die so gar nicht in das Gesicht Dianas passten.

"Oma." Annika schloss sie hart in ihre Arme und zu ihrer Verwunderung erwiderte Diana die Umarmung mit der gleichen Portion Gefühle.

"Endlich bist du hier. Komm' rein." Sie lösten sich von einander und Diana ließ ihre Enkeltochter in die Wohnung, Jeffrey trug hinter ihnen den Koffer rein.

"Wie geht es Opa?", fragte Annika sofort, weil sie diese Ungewissheit einfach nicht länger aushielt.

"Ein wenig besser." Diana wirkte unbeschreiblich müde. "Ich war den ganzen Vormittag bei ihm", fügte sie hinzu.

"Fahren wir zu ihm?" Keine Sekunde länger wollte sie von William getrennt sein. Keine Sekunde.

"Er ruht sich bestimmt gerade aus", versuchte ihre Oma sie abzuwiegeln. Hilflos warf Annika Jeffrey einen Blick zu, als könne er ihr helfen. Dieser jedoch schüttelte nur aufgebend den Kopf.

"Oma, bitte", bat Annika noch einmal und musterte sie genauer. Trauer blitzte in ihren Augen auf. Trauer und Angst. Leise atmete sie aus. Ihre Oma war am Ende ihrer Kräfte. Es musste ihr unglaublich weh tun, William so leiden zu sehen. Nach so vielen Jahren zusammen musste sie den Schmerz förmlich selber spüren können.

SIE brauchte Ruhe. Es war wahrscheinlich jedes Mal für sie eine Überwindung, zu William zu fahren und ihn so krank zu sehen.

"Oma, Jeff kann mich fahren. Dann bleibe du hier und ruhe dich aus. Du siehst müde aus."

"Ich bin nicht müde", kam es etwas schroff von ihr zurück, doch sie mied Annikas Blick. Dann nickte sie aber. "Gut, Jeffrey soll dich fahren. Aber überanstrenge ihn nicht. Und du bist spätestens um vier wieder daheim. Matthew und Daphne kommen heute Abend. Rupert wahrscheinlich morgen", sagte sie und alles schnürte sich in Annika zusammen. Wenn die Familie anreiste, konnte das nur heißen, dass sie alle noch Abschied nehmen wollten.

"Was ist mit Mama und Papa?", fragte sie dann und wartete gespannt auf die Antwort. Seit der Postkarte im September, hatte sie nichts mehr von ihren Eltern gehört.

Diana zuckte mit den Schultern. "Ich habe ihnen geschrieben, nachdem ich mehrmals vergeblich versucht habe, sie telefonisch zu erreichen. Wer weiß schon, wo sie sich auf der Welt gerade befinden", sagte sie mürrisch. Annika schüttelte enttäuscht den Kopf.

Ihre Eltern benahmen sich so verantwortungslos, dass sie sich dafür in Grund und Boden schämte. Sie hatte keine Eltern-Kind-Beziehung zu ihnen. Es kam ihr eher so vor, als wäre ihre Mutter ihre unreife ältere Schwester und ihr Vater ihr immer noch pubertierender Freund aus der High School.

Einfach unglaublich.

"Jetzt fahr schon zu ihm", wedelte Diana mit der Hand und Annika nickte. Sie umarmte ihre Oma noch einmal.

"Bis später", sagte sie und schnappte sich ihre Tasche.

"Und was ist mit deinem Koffer? Soll der einfach hier im Flur stehen? Ich dachte, die neue Schule hätte dir ein paar Manieren beigebracht!" Und schon war Diana ganz sie selbst. Annika jedoch lächelte nur schief und beeilte sich, ihren Koffer in ihr Zimmer zu ziehen. Dann förmlich sprintete sie zum Auto in der Tiefgarage, in dem Jeff schon auf sie wartete.

___

Jeffrey wartete erst einmal im Flur des Krankenhauses, damit Annika ein paar Minuten alleine mit ihrem Großvater verbringen konnte.

Seit sie das Krankenhaus betreten hatten, klopfte Annikas Herz wie wild. Sie hatte Angst, was sie erwartete, wenn sie das Zimmer von William betrat. Wie würde er aussehen? Fahl im Gesicht? Eingefallen? Mit leeren Augen?

Vorsichtig klopfte sie an der Tür und machte sie langsam auf. Wie in allen Krankenhäusern roch es steril, trotzdem aber nach Krankheit. Als sie jedoch den ersten Schritt ins Zimmer wagte, vermischte sich mit dem Hospitalsgeruch auch der Duft von Williams Eaux de Cologne. Das war schon einmal ein gutes Zeichen.

"Opa?", fragte Annika, schloss die Tür hinter sich und trat ganz in den Raum. Mit angehaltenem Atem machte sie sich auf seinen Anblick gefasst. Und als sie ihn endlich sah, brach sie in Tränen aus – vor Freude.

Putzmunter und frisch rasiert, aber in Krankenhausklamotten, saß er aufrecht im Bett und las in seiner Zeitung. Beim Klang ihrer Stimme hob er den Blick und sah sie erstaunt an.

"Annika!"

"Oh, Opa!" Strahlend ging sie auf ihn zu und warf sich halb in seine Arme. Die Tränen konnte sie vor lauter Erleichterung, ihn in so guter Verfassung vorzufinden, gar nicht mehr zurückhalten.

"Annika, Schatz, was machst du denn hier?"

"Meinst du das ernst?", fragte sie ihn, löste sich von ihm und wischte sich die Tränen weg. "Ich habe mir solche Sorgen gemacht!"

"Wieso das denn? Mir geht es doch gut", grinste er frech und legte die Zeitung zur Seite.

"Aber Oma...", fing sie an zu erklären und setzte sich neben ihn aufs Bett. William machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Diana will nicht einsehen, dass es mir gut geht", meinte er und zuckte mit den Schultern. "Ich glaube, sie hat so einen Schrecken gekriegt, dass sie noch total unter Schock steht."

"Was du nicht sagst! Matthew und Daphne kommen sogar heute Abend!" Fassunglos über ihre Großmutter, sah Annika zu ihrem Opa. Diana hatte allen den Anschein gegeben, dass er quasi im Sterben lag.

"Passt prima. Wir waren lange nicht mehr versammelt und ich werde morgen entlassen." William schien bester Laune und vor allem bester Gesundheit zu sein. Annika konnte nicht anders als kurz aufzulachen. Das ganze war so absurd. Sie legte eine Hand gegen ihre Stirn und schüttelte den Kopf. Ihre Angst, ihre Tränen... Alles so gut wie umsonst.

"Aber sag, geht es dir wirklich gut?" Sie konnte nicht anders, als ihm die Wange zu tätscheln. Er lächelte und schnappte sich dann ihre Hand, um sie in seiner ganz fest zu halten.

"Mir geht es bestens. Ich bin noch ein wenig müde, aber ich habe keine bleibenden Schäden vom Schlaganfall getragen. Die Ärzte haben natürlich etliche Untersuchungen durchgeführt und sie haben keinerlei Bedenken, mich morgen gehen zu lassen."

"Ich kann es kaum glauben. Ich dachte schon... Ich dachte schon, dass du..." Wieder traten Tränen in ihre Augen, als sie daran dachte, wie schlimm es hätte enden können.

"Denke gar nicht dran!", warnte William sie lächelnd und mit erhobenem Zeigefinger. "So leicht werdet ihr mich nicht los. Das Erbe wird warten müssen."

Wieder lachte Annika, während sie sich die Tränen wegwischte. Dann riss sie plötzlich die Augen weit auf.

"Ich habe von der Schule frei bekommen wegen dir", meinte sie und spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil der Grund für die extra freien Tage bei Weitem nicht so gravierend war, wie erst angenommen.

William lachte und schüttelte dann den Kopf. Da fiel Annika noch etwas ein.

"Oh, Jeff sitzt draußen und wartet. Oma hat ihn nicht zu dir lassen wollen, weil du angeblich so entkräftet warst."

"Das Weib ist manchmal unmöglich", hörte sie William murmeln, als sie aufstand, um den Chauffeur ins Zimmer zu holen. Überrascht sah sie zu ihm. Selig lächelnd sah auch er sie an. "Trotzdem ist sie meine große Liebe."

Bei den Worten wurde Annika ganz warm ums Herz. Diana konnte manchmal fürchterlich sein, worüber ihr Großvater sich durchaus bewusst war, doch trotzdem liebte er sie mehr als sich selber.

So eine Liebe wollte sie auch gerne einmal erfahren, dachte sie, als sie auf den Flur trat, und Jeff bat mit ihr mitzukommen.

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Sorry, dass ich momentan für die Updates bissl länger brauche - aber ich benötige die Zeit, um den weiteren Verlauf genau zurecht zu legen^^ Es soll perfekt werden und ich habe mich noch nicht ganz entschieden, was genau wann passieren soll :D

Danke für eure Geduld aber :D

Tyskerfie <3

PS: Das neue, wundervolle Cover hat die liebe HeyGuys77 gemacht *-*

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