Verliebt und verarscht

Letztes Kapitel für heute :)
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Nick wiederholte noch einmal die letzten Anweisungen: "Aggressive Abwehr, geduldiges Angriffsspiel!" Dann konnte die zweite Halbzeit starten.

Das Carmelot-Team hatte Anwurf, Nora leitete den ersten Spielzug ein und Annika nutzte die Sperre der Kreisspielerin Jessika aus. Vier Tore Führung.

Die Paddington-Spieler waren frustriert und wütend, was ihnen aber anscheinend eine geballte Ladung an Energie und Willen gab. Ihr Spielzug funktionierte perfekt. Sechzehn zu dreizehn.

Obwohl sie mit drei Toren führten und noch mehr als fünfundzwanzig Minuten zu spielen hatten, waren Annikas Nerven zum Zerreißen gespannt. Kurz überkam sie eine abstruse Form der Ruhe, als sie den Ball in der Hand hielt, bevor sie ihn an Megan weiter passte. Solange sie sich auf das konzentrierte, was sie konnte, und von dem sie sich sicher war, konnte sie ihre Nervosität in Grenzen halten.

Als sie den Ball von Megan zurück bekam, kreuzte sie mit Nora, die hinter sie rannte, und stellte eine Sperre für Victoria, die jetzt den Ball hatte, hochsprang und warf. Der Ball war fünf Zentimeter zu weit nach links platziert – er traf den Pfosten und flog vom Tor weg direkt in die Hände eines Paddington-Spielers.

Die gegnerische Mannschaft leitete einen Kontergegenstoß ein und schmetterte den Ball ins Tor. Sechzehn zu vierzehn.

Es wurde wieder spannender. Die Carmelot-Schule verlor auch im nächsten Angriff den Ball und fand sich plötzlich in einer Abwehr wieder, die vom Gegner förmlich überrannt wurde. Tanja versuchte mit aller Macht ein Tor zu verhindern und tat, wie Nick es gewünscht hatte – sie ging in der Abwehr aggressiv vor. Ihre direkte Gegenspielerin jedoch fiel zu Boden, Tanja bekam eine Zwei-Minuten-Zeitstrafe und die Paddington-Spieler einen sieben-Meter-Wurf.

Die Anführerin führte den Strafwurf sicher aus. Sechzehn zu fünfzehn.

Annikas Geschmack zufolge wurde das Spiel jetzt wieder zu eng. Dadurch, dass sie auf einen Spieler verzichten mussten, taten sie sich im nächsten Angriff schwerer als bisher. Es dauerte länger und als sich endlich eine Lücke auftat, parierte der Torwart sicher den Ball. Die Zuschauer flippten förmlich aus und der Effekt war sichtbar. Die Paddington-Spieler wurden selbstsicherer, bekamen ihre Überheblichkeit zurück und wurden deswegen auch treffsicherer. Auf einmal stand es sechzehn zu sechzehn.

Annika merkte, wie ihr Puls zu rasen begann. Die Paddington-Schule durfte jetzt auf gar keinen Fall noch einen Treffer erzielen und somit die Führung übernehmen! Einen drei Tore Rückstand so schnell einzuholen, konnte im Endeffekt tödlich werden.

Sie warf Nick schnell einen Blick zu, der mit gekräuselten Augenbrauen und der Time-Out-Karte in der Hand dastand. Für ihn waren die letzten Minuten besorgniserregend gewesen, daran zweifelte Annika nicht.

Obwohl sie nicht die Anführerin war, fühlte sie sich dafür verantwortlich, dass sie jetzt nicht total zusammensackten. Während sie ihren Angriff aufbauten, wurden sie wieder vollzählig und Annika nutzte die kurze Unkonzentriertheit der Paddington-Spieler aus, als Tanja wieder aufs Spielfeld kam. Sie drang zum Kreis durch und erzielte durch einen frechen Heber das siebzehn zu sechzehn.

Ein wenig erleichtert rannten sie in die Abwehr zurück und machten sich für den nächsten Angriff bereit.

"Geht früh auf sie raus!", rief Nora den anderen zu, um sie an Nicks Anweisungen zu erinnern. Gesagt, getan. Sämtliche Spieler des Paddington-Teames wurden festgemacht und immer wieder mussten sie ihren Angriff neu einleiten. Die Nummer 24 lief auf die andere Angriffsseite und versuchte bei Victoria eine Sperre zu setzen. Diese schubste sie jedoch von sich weg, um nicht an ihrem Tun gehindert zu werden.

Zu hart.

Die 24 fiel hart auf den Boden und Victoria durfte zwei Minuten auf der Bank Platz nehmen.

Annika schluckte schwer und tauschte mit Nora einen vielsagenden Blick. Der Schiedsrichter pfiff jetzt schneller als noch in der ersten Halbzeit. Wenn sie nicht aufpassten, würde die Paddington-Schule das ausnutzen.

Ohne Victoria, die in der Abwehr gute Arbeit leistete, war es für die gegnerische Mannschaft ein Kinderspiel an den Kreis durchzudringen. Siebzehn zu siebzehn.

Hart biss Annika die Zähne zusammen, als sie beim Anwurf kurz Blickkontakt mit Nick bekam. Ein Kribbeln machte sich in ihrer Bauchgegend breit, doch sie ignorierte es. Dafür war jetzt wirklich nicht die Zeit.

Den Paddington-Spieler war klar, dass sie momentan die Oberhand hatten. In der Abwehr gelang ihnen alles und die Carmelot's taten sich schwer, irgendwie an ihnen vorbei zu kommen. Annika versuchte durch eine Einzelaktion an der Nummer 24 vorbeizukommen, wurde jedoch zur Seite gedrängt, sodass sie plötzlich auf der Außenposition platziert war, wo Megan spielte. Da Annika aber nicht so leicht aufgab, täuschte sie einen Pass an und sprang dann an der Abwehrspielerin vorbei in den Kreis. Sie musste von so einem spitzen Winkel werfen, dass ihr keine andere Wahl blieb, als einen ganz bestimmten Wurf auszuführen. Den Dreher.

Sie drehte beim Wurf ihr Handgelenk, sah wie der Ball seitlich hinter dem Torwart aufkam und ins Tor schwebte, bevor der Torwart sich überhaupt richtig umdrehen konnte.

Achtzehn zu siebzehn.

Einen Treffer durch so ein Traumtor zu erzielen, schickte ein ganz wichtiges Signal an die gegnerische Mannschaft: die Carmelot's gaben nicht auf, ließen sich nicht so leicht unterkriegen und hatten noch reichlich Energie, um auch ästhetischen Handball zu spielen.

Nora gab ihr im Rücklauf ein Zeichen, das sie sofort verstand. Wenn der Schiedsrichter jetzt schneller und konsequenter pfiff, war es an der Zeit den Paddington-Spielern das Leben wirklich schwer zu machen. Sie mussten unbedingt dafür sorgen, dass sie kein Tor schossen, jetzt, wo sie noch in Unterzahl waren. Und sie wussten alle, wie.

Die Paddington-Schule kam mit vollem Karacho angebraust. Die Nummer 24 bekam den Ball und rannt auf Annika zu, die sich nach einer versuchten Abwehraktion von ihr nach hinten schleudern ließ.

Der Schiedsrichter pfiff ein Stürmerfoul.

Wutentbrannt entfuhr der 24 einen Schrei, als sie zornig zu Annika blickte, die sich gerade vom Boden aufrappelte. Sie hätte locker stehen bleiben können - hätte sie gewollt. Und das wusste die Gegenspielerin auch.

Nora ballte die Hand zu einer Faust, als ihr Blick kurz darauf Annikas traf. Der Plan war aufgegangen. Jetzt galt es, in ihrem Angriff ein Tor zu erzielen, um die Führung auf zwei Ziffern auszubauen.

Sie zogen die Zeit in die Länge, damit Victorias Zeitstrafe endete und sie noch mit im Angriff spielen konnte. Die zwei Minuten Pause hatte ihr anscheinend gut getan, denn sie kam voller Elan, fing den Ball, sprang ab und schmetterte den Ball über die Abwehr ins Tor.

Annika jubelte ihr zu und kurz trafen sich ihre Blicke. Freundschaftlich. Vereint. Mit dem gleichen Ziel vor Auge. Auf dem Spielfeld waren sie gerade Teamkollegen.

Wenn man den Schachzug der Carmelot's von eben dreckig nannte, war die nächste Aktion der Nummer 24 der Paddington-Schule unter aller Sau.

Sie dribbelte auf Nora zu und wollte den Ball weiterpassen, als Nora auf sie raus ging. Ohne, dass Nora sie überhaupt wo anders, als an der Schulter angefasst hatte, ließ sie sich zu Boden fallen und fasste sich schreiend ins Gesicht, als hätte Nora sie dort geschlagen.

Der Schiedsrichter, der während des Angriffs ungefähr auf der Mitte positioniert gewesen war, hatte keine Chance gehabt, zu sehen, was passiert war, pfiff aber trotzdem sofort ab und verteilte eine erneute Zwei-Minuten-Zeitstrafe – diesmal an Nora.

"Was?", beschwerten sich sofort sämtliche Spieler des Carmelot-Teams und auch Nick, Gab und Laurena riefen aufgebracht von der Bank.

"Sie hat sie überhaupt nicht berührt!", fuhr Annika den Schiedsrichter an, der sofort rot anlief. Aus Scham, weil er eingesehen hatte, dass er womöglich eine Fehlentscheidung getroffen hatte, oder aus Wut, weil sie ihm widersprach, konnte sie nicht deuten.

"Das ist das reinste Schauspiel!", regte Annika sich auf. Aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, dass die 24 wieder fit wie ein Turnschuh auf den Beinen stand und sogar die Frechheit besaß, dreist zu lächeln.

Der Schiedsrichter, versuchte Annika mit einer Handbewegung abzufertigen.

"Das kann nicht ihr Ernst sein! Sie haben es von ihrer Position aus nicht einmal sehen können!", giftete Annika weiter. Es war manchmal für den späteren Verlauf eines Spieles von Vorteil, wenn man eine ziemlich wichtige Entscheidung des Schiedsrichters in Frage stellte. Vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, würde er bei einer späteren Aktion zum Vorteil der Carmelot-Schule pfeifen.

Doch nicht dieser Schiedsrichter.

"Das reicht jetzt!", sagte er streng.

Und erteilte Annika eine Zwei-Minuten-Zeitstrafe wegen Meckerns.

"Was?", brüllten wieder alle Mitglieder des Carmelot-Teams fassungslos, während die Paddington-Tussen sich freuten und die Zuschauer buhten. Zwei auf einmal auf die Bank zu schicken war eine Katastrophe.

Aufgebracht schüttelte Annika den Kopf, als sie das Spielfeld verließ. Sie ging am Zeitnehmertisch vorbei und zeigte auf den Schiedsrichter. "Sowas erlauben Sie?"

Sie wusste, dass die Spielaufsicht keine Urteile des Schiedsrichters ändern konnte, aber vielleicht würde er sich extra unter Druck gesetzt fühlen, wenn die Spieler sich über ihn beschwerten.

"Cullum." Nick war an ihrer Seite, nahm sie behutsam am Ellbogen und zog sie sanft Richtung Bank. "Ganz ruhig jetzt. Der Schiedsrichter ist ein Arsch und das wird sich im Laufe dieses Spiels wahrscheinlich nicht mehr ändern."

"Verdammt, Nick, wie sollen wir das überleben?" Frustriert sah sie in seine hellblauen Augen, die so viel Ruhe und Geborgenheit ausstrahlten, dass sie kurz einen Haufen unangebrachte Gedanken bekam.

Verflucht, sie war mitten in einem Handballspiel! Konnte ihre unpassende Verliebtheit sich nicht nur für die letzte viertel Stunde verflüchtigen? Bitte?

Ihr Trainer antwortete nicht, sondern sah besorgt auf das Spielfeld, wo die Paddington-Schule in dem Moment den Anschlusstreffer erzielte. Neunzehn zu achtzehn.

"Ich kann nicht hinsehen", murmelte Annika und wandte sich ab. Mit müden Schritten ging sie zur Bank und setzte sich neben Nora.

"Wenn ich den Schiedsrichter mal außerhalb einer Sporthalle treffe, reiße ich ihm die Eier ab", zischte sie und brachte Annika dadurch zum Grinsen. So böse kannte sie Nora gar nicht.

"Gib Bescheid, wenn du ihn findest. Ich helfe dir", sagte sie und sah wieder aufs Spielfeld. Ohne Nora und Annika war das Team halbwegs aufgeschmissen. Vier gegen sechs, das war eine ziemlich unmögliche Angelegenheit.

Sie schielte zu ihrem Trainer, der die Time-Out-Karte wieder in der Hand hielt. Sollte er sie jetzt verwenden oder bis zum Schluss aufbewahren, wenn es womöglich überlebenswichtig wäre, noch einen Angriff durchzusprechen?

Die Antwort ergab sich von selber, als Victoria im nächsten Versuch den Ball zwischen die Beine des Torwarts setzte. Zwanzig zu achtzehn.

Nicht einmal eine halbe Minute später, hatte die Mannschaft der Paddington-Schule wieder aufgeholt. Zwanzig zu neunzehn.

Ungeduldig sah Annika auf die Uhr. Wie lang konnten zwei Minuten denn bitte sein?

Sie wurde aus ihrer Verärgerung gerissen, als die Zuschauer hinter ihr zu jubeln anfingen. Die Paddington-Spieler hatten sich den Ball geschnappt und liefen jetzt einen Tempogegenstoß.

Zwanzig zu zwanzig.

Und noch vierzig Sekunden auf dieser beschissenen Bank, dachte Annika verzweifelt.

"Will der uns verarschen?", fragte sie dann kurz darauf ungläubig und starrte mit offenem Mund zum Schiedsrichter, der schon nach fünfzehn Sekunden den Arm gehoben und somit ein Zeitspiel angezeigt hatte.

Passives Spiel wurde angezeigt, wenn ein Team keine Andeutungen machte, aufs Tor zu gehen. Das war oft der Fall, wenn sie in Unterzahl waren. Doch normal hatte eine Mannschaft eine halbe Minute zur Verfügung.

Natürlich schafften die restlichen Spieler des Carmelot-Teams es nicht, eine gute Wurfposition zu erreichen, bevor der Schiedsrichter abpfiff und die Paddingtin-Schule somit im Ballbesitz war.

Die Gegner wussten, dass sie sich jetzt beeilen mussten, wenn sie es noch ausnutzen wollten, dass ihre Gäste nicht vollzählig waren.

Und wie sie es ausnutzten. Zwanzig zu einundzwanzig.

Nora und Annika standen auf und machten sich bereit, in zehn Sekunden das Spielfeld wieder betreten zu dürfen.

"Bewahrt die Ruhe", raunte Nick ihnen zu und nickte dann aufmunternd.

'Drei, zwei, eins'. Annika und Nora betraten gleichzeitig das Parkett und liefen zu ihrer Mannschaft im Angriff. Mit Mühe und Not schafften sie den Ausgleich, kämpften erbittert, damit die Paddington's nicht davonzogen. Im Grunde war es unglaublich, dass sie nicht mit mehr Toren führten.

Die Gastgeber blieben mit einem Treffer vorne. Schafften die Carmelot's den Ausgleich, antworteten ihre Gegner im nächsten Angriff mit einem Tor. Die Spannung war kaum mehr auszuhalten.

Eineinhalb Minuten der Spielzeit waren jetzt übrig. Es stand vierundzwanzig zu dreiundzwanzig für das Heimteam. Die Carmelot-Schule hatte den Ball. Und jetzt nahm Nick sein Time Out.

Hektisch versammelten seine Mädels sich vor ihm und warteten gespannt auf seine Ansage.

"Das Spiel drehen wir jetzt noch", meinte er optimistisch. "Wir führen den Prager Spielzug durch." Jedes Team hatte für ihre Spielzüge Namen, damit man sie auseinander halten konnte und das gegnerische Team auf den ersten Hieb keine Ahnung hatte, was gemeint war.

"Nach dem Treffer sprintet ihr zurück in die Abwehr, ist das klar?" Nick sah alle Spieler ernst an. Annika konnte an seinem Blick erkennen, was er gerade dachte. Sie hatten mit vier Toren geführt und jetzt war das erreichbare Ziel wahrscheinlich nur ein Unentschieden. Der Verlauf des Spieles war zwar durch die vielen Zeitstrafen geprägt, aber trotzdem nicht zufriedenstellend.

"Gebt noch einmal alles was ihr habt, okay?" Nicks Spielerinnen nickten, schlugen ein und gingen wieder aufs Spielfeld. Annika atmete tief durch. Im Prager Angriff war es ihre Aufgabe, das Tor zu erzielen.

Sie merkte, wie die Verantwortung schwer auf ihren Schultern lag. Dass Nick ihr diese Verantwortung aber anvertraut hatte, bestärkte sie in ihrem Können. Sie schaffte das schon!

Die spielfreie Minute war vorbei, die Paddington-Spieler standen in der Abwehr bereit und das Schiedsrichterschwein pfiff das Spiel an. Jetzt war Konzentration gefragt.

Der Spielzug war einer der schweren, weil er eigentlich einen anderen Spielzug andeutete, mitten im Angriff aber die Seite gewechselt wurde.

Annika hielt die Luft an, als sie dran war. Sie bekam den Ball, wiederholte, was sie zig Mal geübt hatten, kämpfte sich durch eine Lücke und warf.

Vierundzwanzig zu vierundzwanzig.

Aufgeregt und erleichtert stürmten sie in die Abwehr zurück, um einen Siegestreffer der Paddington-Schule zu verhindern. Eine Minute Spielzeit übrig. Nie im Leben würde ihre Gegner die gesamte Minute zur Verfügung haben. Sollten sie ein Tor erzielen, bliebe ihnen hoffentlich noch die Zeit, einen Angriff auszuführen und ein Unentschieden zu erreichen.

In der ganzen Halle herrschte eine angespannte Stimmung. Die Zuschauer hielten die Luft an, trauten sich nicht zu jubeln oder anzufeuern. Es war kaum auszuhalten.

Gerade als die Paddington's zum Abschluss ansetzten, nahmen ihre Trainer ihr übrig gebliebenes Time Out. Eine Minute konnten die Spieler aufatmen.

"Hört zu", sagte Nick, als seine Mannschaft sich um ihn versammelt hatte. "Es ist mir völlig egal, ob jemand von euch jetzt eine rote Karte zieht – lasst die Spieler nicht an euch vorbei. Unter keinen Umständen!"

Zittrig und angespannt stellten sich die Spieler kurz darauf wieder bereit. Die letzte Minute fing an.

Die Paddington-Spieler passten den Ball durch die Angriffskette. Und wieder zurück. Und noch einmal wiederholten sie die Prozedur. Annika schielte zur Uhr. Fünfundvierzig Sekunden übrig.

Plötzlich kam Bewegung in ins Spiel. Die Angriffsspieler kreuzten und versuchten Sperren zu setzen, doch die Carmelot's ließen sich weder ablenken, noch täuschen.

Dreißig Sekunden noch.

Obwohl die Gastgeber kein einziges Mal aufs Tor geworfen hatten, schien der Schiedsrichter nicht einmal ansatzweise darüber nachzudenken, für Zeitspiel zu pfeifen.

Nach einem vierzigsekündigen Angriff, in dem die Paddington-Spieler im Großen und Ganzen nur hin und her gepasst hatten, begannen Nick und Laurena sich von der Bank aus zu beschweren.

"Zeit!", rief Laurena und fuchtelte wild mit den Armen.

Der Schiedsrichter ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern beobachtete das Spiel arrogant und abweisend.

Dann, zehn Sekunden vor Schluss hob er den Arm. Die alles entscheidende Phase hatte begonnen.

Während die Carmelot-Spieler sich voll und ganz auf den Ball fokussierten, leiteten die Bären endlich ihren Spielzug ein. Drei Pässe, ein Sprung, zwei Stürmerfouls, die nicht gepfiffen wurden und dann: Tor.

Fünfundzwanzig zu vierundzwanzig für die Paddington-Schule.

Die Zeit war aus.

Völlig benommen sah Annika auf den Ball im Tor. Ihr Blick wanderte langsam zu Nora, die auf dem Boden lag und sich krümmte, da eine Gegenspielerin so hart in sie reingelaufen war. Annika sah alles nur noch in Zeitlupe. Auch Victoria lag auf dem Boden. Ihre Lippe blutete. Auch da hätte der Schiedsrichter abpfeifen sollen.

Eine innere Leere erfüllte sie, die Geräusche um sie herum drangen nur gedämpft zu ihr durch. Regungslos blieb sie stehen und versuchte zu verarbeiten, dass sie in letzter Sekunde verloren hatten.

Sie hatten ein Spiel verloren, in dem sie nach der Halbzeit mit vier Toren geführt hatten.

Vier.

"Annika, komm'!" Nora riss sie am Arm und somit auch aus ihrer Trance. Auf einmal schien der euphorische Jubel der Zuschauer sie zu erdrücken. Der Lärm war ohrenbetäubend. Und so unglaublich verspottend und triumphierend.

Die Paddington-Spieler fielen sich gegenseitig in die Arme und lachten, jubelten, feierten ihren unverdienten Sieg. Annika schloss die Augen. Sie konnte das nicht mit ansehen.

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"Mädels, ich bin stolz auf euch. Ihr habt gekämpft und nicht eine Sekunde lang aufgegeben. Nicht einmal als zwei von euch auf der Bank saßen", versuchte Nick einige Zeit darauf, die Mädchen zu ermuntern.

Sie saßen alle in der Umkleidekabine und starrten mehr oder weniger mit leeren Blicken vor sich hin. Nick, Gab und Laurena standen vor der Tür, die zum Gang und der Sporthalle führte.

Annika lehnte sich an die Wand und schüttelte genervt und frustriert den Kopf. Sie hatten das Spiel doch im Griff gehabt! Verdammt, sie hatten doch alles unter Kontrolle gehabt!

"Im Sport gehört es leider auch dazu, Schiedsrichtern zu begegnen, die inkompetent oder zu alt für die Scheiße sind", fügte Laurena hinzu und sprach allen damit aus der Seele. Nicht die Spieler, sondern der Schiedsrichter hatte das Spiel letzten Endes entschieden.

"Passiert ist passiert. Wir müssen jetzt nach vorne sehen", ergriff Nick wieder das Wort. "Auch wenn ihr jetzt müde und fertig seid, dürft ihr diese Niederlage nicht zu sehr zu Herzen nehmen. Morgen wartet schon das nächste Spiel auf uns. Im Pokal. Und darauf müssen wir uns jetzt erst einmal konzentrieren."

"Solange wir einen anderen Schiedsrichter haben...", murmelte Nora, wurde jedoch von allen Mädchen gehört. Annika merkte, wie die Wut in ihr brodelte. Dieser verdammte Mistkerl, der in der zweiten Halbzeit nur zu Gunsten der Paddington-Schule gepfiffen hatte.

"Duscht schön lang, versucht euch, ein wenig zu entspannen und dann treffen wir uns in einer halben Stunde beim Eingang", sagte Nick noch und machte Anstalten, die Mädchen alleine zu lassen.

Annika stand auf und ging zur anderen Türe hinaus auf den Gang, der zum Eingangsbereich führte. Sie war so sauer und enttäuscht, dass sie kurz davor war die Beherrschung zu verlieren. Sie brauchte ein paar Minuten alleine, um zur Ruhe zu kommen.

Es war so ungerecht! Es war einfach so verdammt ungerecht, dass der Schiedsrichter am Ende nicht viel früher abgepfiffen hatte. Sie hätten womöglich noch Zeit gehabt, ein Tor zu schießen.

Aufgebracht suchte sie den leeren Gang nach irgendetwas ab, wogegen sie treten oder was sie anschreien könnte.

Am liebsten hätte sie, dass die Nummer 24 der Bären auf den Flur treten würde, damit sie ihr ekliges, triumphierendes Grinsen aus dem Gesicht schlagen konnte.

'Tief durchatmen, Annika.'

Dabei wollte sie auch sich selber anschreien. Hätte sie den Schiedsrichter nicht so angekeift, hätte sie keine Zwei-Minuten-Zeitstrafe bekommen und sie hätten womöglich ein Tor mehr, die Paddington's dafür ein Tor weniger gemacht.

Das Resultat hätte ganz anders sein können.

"Cullum, hey." Nick griff sie bei der Hand und zog sie leicht zu sich. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass er ihr gefolgt war.

"Verdammt, Nick!", presste sie nur durch zusammengebissene Zähne hervor. "Ich hab' alles versaut", murmelte sie und fuhr sich übers Gesicht.

"Nein, das hier ist ganz sicher nicht deine Schuld. Das darfst du nicht denken."

Annika schüttelte nur den Kopf, nicht fähig, Nicks Trost anzunehmen.

"Cullum, ich mein's ernst", sagte er sanft und zog sie näher zu sich. Der weiche Ton in seiner Stimme ließ sie zu ihm aufblicken. In seinen Augen sah sie auch Enttäuschung und Wut, überwiegend aber etwas ganz anderes, das sie überraschte. Zärtlichkeit.

Auf einmal war ihre innere Unruhe wie weggeblasen, gerade eben zählte nur das hier. Nick, der ihre Hand in seiner hielt, wenige Zentimeter vor ihr.

Langsam hob er die andere Hand und fuhr ihr vorsichtig mit einem Finger über die Wange. Sie ließ es geschehen und merkte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Ohne zu wissen, was sie tat, schmiegte sie ihre Wange in Nicks Hand, die er jetzt ruhig an ihr Gesicht gelegt hatte.

Kurz schloss sie die Augen, genoss den Moment und zog ihn an seiner Jacke näher zu sich. Langsam öffnete sie die Augen und blickte zu ihm auf. Er legte seine Stirn gegen ihre. Sie merkte, wie sich sein Brustkorb bei jedem Atemzug hob und senkte.

Wie schaffte er es, ihre Wut und Enttäuschung innerhalb von wenigen Sekunden in Verliebtheit und Glück zu verwandeln?

"Annika", flüsterte er und ließ seine Hand von ihrer Wange in ihren Nacken gleiten. "Annika", wiederholte er. Egal, was jetzt kam, sie wusste, dass sie dafür bereit war.

Dachte sie, bis die Tür zur Umkleidekabine aufging und Gab, gefolgt von Laurena, aus der Tür trat und den Moment in tausend Teile zersplitterte.

Ertappt, erschrocken, voll unverrichteter Dinge, schreckten Annika und Nick auseinander.

Gab musterte die beiden kurz, Laurena schien nichts bemerkt zu haben. Oder sie tat nur so. Lächelnd ging sie auf die beiden zu.

"Ich warte am Eingang", meinte sie an Nick gewandt, vermochte es nicht, Annika anzusehen, und ging weiter. Ihre sonst so prickelnde Laune war durch die Niederlage auch gedämpft. Oder durch das eben Gesehene.

"Kommst du?", fragte Gab seinen Kumpel, als auch er an ihnen vorbeiging. Der gutaussehende Trainer nickte, behielt Annika aber dabei im Auge.

"Ja, bin gleich da", sagte er. Gab verstand den Wink mit dem Zaunpfahl nicht und blieb abwartend stehen.

Wieder unglaublich frustriert, diesmal aber nicht wegen der Niederlage, ließ Annika die Schultern hängen und ging ohne ein weiteres Wort zurück zur Umkleidekabine.

Es sollte einfach nicht sein.

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Wow, was für ein langes Kapitel zum Abschluss! :D 

Ich hoffe, euch haben die drei Teile heute Abend gefallen :) Danke, dass ihr mitgelesen habt, danke, dass ihr immer so fleißig kommentiert und danke, dass ihr mich zum Weiterschreiben motiviert <3

Schönes Wochenende, ihr Lieben! :**

Tyskerfie <3

PS: 160K Reads?? Ihr seid der Wahnsinn!! :*

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