Glück und Geschichte

Langsam wachte Annika auf. Sie spürte, wie es im Zimmer kalt war, trotzdem wurde sie von hinten von einer Wärme bestrahlt, die sie dazu brachte, sich dagegen zu kuscheln. Irgendetwas bewegte sich und als Nick seinen Arm fester um sie schlang, fiel Annika wieder der gestrige Abend und die Nacht ein.

Sie waren im Wohnzimmer. Auf der Couch. In den Armen des anderen.

So mit Nick dazuliegen und seine Nähe zu fühlen... Das war das schönste Gefühl, das sie je gespürt hatte.

"Schlaf weiter", murmelte er in ihren Nacken und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Doch an Schlaf war für Annika nicht mehr zu denken. Zu aufgeregt und verliebt war sie.

"Was, wenn die anderen gleich aufstehen?", fragte sie und stellte sich vor, wie die anderen wohl reagieren würden.

"Weißt du, wie wenig mich das interessiert?", flüsterte Nick und Annika bekam beim Klang seiner rauen Morgenstimme eine Gänsehaut. "Ich will am liebsten den ganzen Tag hier mit dir liegen." Um seine Worte zu bestärken, zog er sie noch enger zu sich. Erst versuchte sie, so ein wenig weiter zu dösen. Doch dann drehte sie sich in seinem Griff um, damit sie ihn ansehen konnte.

Wie oft hatte sie sich insgeheim vorgestellt, so mit ihm zu liegen? Sie hatte es niemandem gestanden, nicht einmal ihr selber.

Doch jetzt tat sie es.

Sie legte ihre Hand an seine Wange und streichelte über seine Bartstoppeln. "Sag mal, rasierst du dich eigentlich nie ganz?", fragte sie leise und beobachtete jeden Millimeter seines Gesichts. Seine makellose Haut. Seine vollen Wimpern seiner geschlossenen Augen. Langsam schüttelte er den Kopf.

"Nein, ich sehe sonst aus, wie ein Kind."

Leise lachte sie bei der Vorstellung und Nick öffnete langsam seine Augen. Liebevoll sah er sie. Dann nahm er ihre Hand von seiner Wange, nur um sie zu küssen. Jeden Finger, jedes Gelenk küsste er sanft, ohne dabei seinen Blick von ihr zu nehmen.

"Hast du eigentlich über die Folgen von dem hier nachgedacht?", fragte sie und verschränkte ihre Finger mit seinen. Darauf erwiderte er erst nichts, sondern sah sie einfach an.

"In Bezug auf?", fragte er, doch wusste er im Grunde schon, worauf sie hinaus wollte.

"Na zum Beispiel das Handballteam. Meinst du, du kannst weiter unser Trainer sein?"

Nick legte wieder den Arm um sie und zog sie näher zu sich. "Keine Ahnung, ich sehe nicht wirklich ein Problem dabei. Sollte es eins geben, dann muss ich einfach aufhören."

"Aber du liebst es, zu trainieren." Es stach ihr ins Herz, dass Nick vielleicht als Trainer aufhören würde.

"Mag sein, aber weißt du? Seit Neuem gibt es etwas, das ich viel mehr liebe, als das Trainieren." Er beugte sich ein wenig vor und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Obwohl Annika sich über seine Worte freute, fühlte sie den Hauch eines schlechten Gewissens.

"Wir würden nie einen besseren Trainer bekommen", murmelte sie.

"Hast du gerade meine Arbeit als Trainer gelobt?", kam es ziemlich überrascht von Nick, der sie schief anlächelte. Mit roten Wangen zuckte sie die Schultern.

"Ich denke schon..."

"Sag das nochmal", forderte er sie grinsend auf.

"Was?"

"Dass ihr nie einen besseren Trainer bekommen würdet."

Leise lachte Annika, als sie Nick durch die Haare fuhr. "Vergiss es. Dein Ego hält sowas nur einmal aus."

"Findest du mich wirklich so arrogant?" Neugierig musterte er sie, während er immer noch dafür sorgte, dass sie ihm so nah wie möglich war.

"Arrogant ist dein zweiter Name", murmelte Annika kichernd, aber mit so viel Liebe in ihrer Stimme, dass Nick nur leicht den Kopf schüttelte.

"Vielleicht sollten wir erst niemandem davon erzählen, falls dir das lieber ist", schlug Nick vor. Annika überlegte. Sie schämte sich nicht für ihre Liebe zu Nick, nur hatte sie Angst, dass es einen zu großen Aufstand geben würde.

"Nora muss ich es erzählen", überlegte sie laut.

"Warum?" Ein amüsierter Ausdruck trat auf Nicks Gesicht.

"Naja, sie ist Kapitän, sie muss sowas wissen. Außerdem verdient sie es, weil..." Sie hielt inne und versuchte zu verhindern, dass ihre Wangen rot anliefen.

"Weil?" Jetzt wurde Nicks Grinsen breiter. "Hast du etwa über mich geredet?", fragte er frech und traf damit den Nagel so ziemlich auf den Kopf.

"Naja... Ein bisschen. Sie weiß nicht wirklich was, aber sie hatte so ihre Vermutung", gab sie zu und schloss kurz verlegen die Augen.

"Ich glaube, das hatten alle, nur wir nicht", murmelte Nick leise und begann mit ihren Haaren zu spielen. "Wollen wir Frühstück machen?", fragte er dann und Annika nickte, schälte sich aus der Decke und Nicks Umarmung und stand vom Sofa auf.

"Ich mache mich nur schnell frisch", sagte sie und tapste so leise wie möglich die Treppe nach oben ins Bad. Sie wusch sich das Gesicht und als sie sich im Spiegel ansah, konnte sie ein breites, glückliches Grinsen nicht unterdrücken. Ihre Augen strahlten, ihre Wangen glühten.

Nick und sie hatten sich endlich richtig ausgesprochen. Endlich.

Als sie sich fertig gemacht hatte, schlich sie sich ins Schlafzimmer und zog sich um. Caro schlief wie ein Stein. Ohne sie zu wecken, verließ sie wieder das Zimmer und beeilte sich nach unten in die Küche.

Nick stand am Herd und war dabei, Würstchen für ein richtiges, englisches Frühstück zu braten. Im Ofen brutzelte wohlduftender Bacon vor sich hin und auch der Kaffee war schon am Durchlaufen. Annika ging zu ihm und umarmte ihn von hinten, lehnte ihren Kopf an seinen Rücken und atmete seinen Duft ein.

"Hey", sagte er leise und sah sich über die Schulter. Er legte den Kochlöffel weg und drehte sich in ihrem Griff um und legte seine Arme um sie. Auch seine Augen glitzerten, doch sah er müde aus.

"Du siehst ziemlich fertig aus", grinste Annika und drückte sich enger an ihn.

"Eine Dusche würde wahrscheinlich nicht schaden."

"Dann geh, bevor die anderen aufstehen." Sie wollte ihn zwar am liebsten nie wieder loslassen, aber sie wusste auch von der wundersamen, erfrischenden Wirkung einer heißen Dusche. Langsam nickte er, dann beugte er sich ein wenig runter und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

"Wehe, du bist nicht da, wenn ich wieder komme", grinste er.

"Natürlich bin ich noch da. Hier gibt's schließlich Essen", ärgerte sie ihn und sah ihm nach, als er schief lächelnd die Küche verließ. Sie nahm Teller und Besteck und deckte den Tisch im Wohnzimmer, da die anderen wahrscheinlich beim Duft von Frühstück jeden Moment auch aufstehen würden.

Sie holte noch eine Pfanne hervor und während sie laufend Brot in den Toaster schob, bereitete sie die Rühreier zu.

Es dauerte nicht lange, da kam Nick wieder zu ihr, die Haare noch nass vom Duschen. Er sah aber wesentlich frischer aus. Wie sie es zuvor bei ihm getan hatte, stellte er sich hinter sie und legte seine Arme um ihren Bauch. Und wie er vorher, drehte sie sich zu ihm, um ihn genau anzusehen.

Worte waren gerade eben nicht notwendig. Einfach der Blickkontakt, die Nähe zu einander. Zu schön war das Gefühl, endlich zusammen zu sein.

Noch nie hatte Annika sich so sicher, so geborgen gefühlt. Sie wusste, dass Nick sie vor allem Unglück der Welt beschützen könnte und es auch tun würde. Solange sie mit ihm zusammen war, würde ihr keiner etwas anhaben können. Und dieses Gefühl der Sicherheit ließ sie innerlich zur Ruhe kommen. Als hätte sie nach jahrelanger Wanderung endlich ihr Ziel erreicht. Sie konnte sich jetzt fallen lassen, denn Nick war da, um sie aufzufangen.

Er musterte sie, dann zeichnete sich ein kleines Lächeln auf seinen Lippen ab, bevor kaum merklich den Kopf schüttelte und seine Lippen auf ihre senkte.

Eine Atombombe aus Glückgefühlen explodierte in ihrem Bauch und sie legte ihre Hände in Nicks Nacken, um ihn näher zu ziehen. Wieso hatten sie es sich selber so schwer gemacht, wenn das hier sich so unglaublich richtig anfühlte?

"Euch auch einen wunderschönen guten Morgen", hörten sie plötzlich Simons amüsierte Stimme und ein wenig verlegen lösten sie sich langsam voneinander, bevor sie sich umdrehten und in der Tür nicht nur Simon, sondern auch Caro und Gab entdeckten. Alle drei grinsten sie wie blöd.

"Morgen", murmelte Annika und merkte, wie ihre Wangen anfingen zu glühen. Nick schien nicht sonderlich verlegen, sondern eher stolz. Er hielt sie um die Taille fest umschlungen und grinste doppelt so breit, wie die drei anderen zusammen.

"Ähm, Frühstück ist fertig", sagte sie dann, um dieser peinlichen Situation zu entkommen.

"Alles klar", grinste Simon nur und fuhr sich durch seine strubbeligen Haare, bevor er ins Wohnzimmer schlenderte. Caro warf Annika noch einen vielsagenden Blick zu, dann zog sie Gab mit sich und Nick und Annika waren wieder alleine in der Küche. Die Zweisamkeit gefiel ihr jetzt gerade eigentlich am besten.

"Gehst du nachher mit mir spazieren?", fragte Nick sie dann leise, während sie das fertige Essen auf Teller luden. Fragend sah sie zu ihm, doch als sein Blick auf den ihren traf, verstand sie sofort. Jetzt, wo sie sich endlich gefunden hatten, sehnte auch er sich nach Zeit alleine mit ihr.

Lächelnd nickte sie. Und sie wusste auch genau, wo sie hingehen könnten.

___

"Wir sind gleich da", sagte Annika über ihre Schulter und ging schwer atmend weiter. Nick folgte ihr mit geringem Abstand und im Gegensatz zu ihr schien er mit der körperlichen Anstrengung absolut keine Probleme zu haben.

Es war kalt, der Himmel wolkenverhangen. Ein eisiger Wind wehte unbarmherzig über die Felder und Dünen hinweg. Gemütlich war anders, aber Annika genoss die stechende Kälte. Sie fühlte sich so lebendig.

Die Steigung im Terrain ebbte ein wenig aus und das Rauschen des Meeres wurde mit jedem Schritt lauter. Seit sie die kommende Aussicht vor drei Tagen selber gesehen hatte, wollte Annika auch Nick daran Freude finden lassen.

Sie atmete tief durch, füllte ihre Lungen mit der kalten Luft, als Nick an ihre Seite trat und neben ihr weiter ging. Er warf ihr einen amüsierten Blick zu.

"Du scheinst ganz schön aus der Form. Soll ich nach den Ferien im Training extra Konditionsübungen einbauen?", ärgerte er sie und sie schubste ihn leicht in die Seite.

"Ich bin noch so vollgefressen vom Frühstück. Das ist alles", versuchte sie sich rauszureden. Er sollte auf keinen Fall etwas an ihrer Kondition aussetzen!

Statt zu antworten, schnappte er sich jedoch einfach ihre Hand und so legten sie das letzte Stück bis zum Felsvorsprung zurück, vor dem das Meer sich erstreckte.

Wie beim ersten Mal fiel Annika das Atmen schwer, als sie über die Natur blickte. Es war einzigartig. Das Meer, die Wellen, der gigantische, weite Himmel strahlten so viel Macht aus, dass sie sich klein und bedeutungslos vorkam. Unwichtig. Banal.

Nach einigen Minuten der Stille lugte sie zu Nick, der ehrfurchtsvoll über das Meer sah. Als er ihren Blick bemerkte, drehte er seinen Kopf ganz zu ihr und lächelte sie an.

"Das hier ist atemberaubend", sagte er leise, aber so laut, dass sie es trotz des Windes und der brechenden Wellen hören konnte.

Sie nickte. "Ich wollte dir diesen Ort unbedingt zeigen", gestand sie und schlang ihren Arm um seine Taille. Sie brauchte seine Nähe, das Gefühl seines Körpers eng an ihrem. Sie brauchte ihn.

Nick legte seinen Arm um Annika, drückte sie fest an sich, hielt den Blick aber über das Meer gerichtet. "Wieso?", fragte er dann nach einiger Zeit.

"Weil ich alles mit dir teilen möchte." Annika sagte es ein wenig zurückhaltend. Schüchtern. Langsam hob Nick mit seinem Finger ihr Kinn an, sodass sie sich ansahen. Vorsichtig fuhr er eine Linie über ihren Kiefer bis zum Haar, wo er ihr eine Strähne hinter das Ohr strich.

"Ich liebe dich so sehr", hauchte er. "So sehr."

Ja, vielleicht war Annika im Vergleich zum tobenden Meer und dem machtvollen Himmel klein und unscheinbar. Doch in Nicks Armen, unter seinem Blick, fühlte sie sich wichtiger, geliebter und bedeutungsvoller als je in ihrem Leben sonst.

Er gab ihr Geborgenheit, Sicherheit und Liebe in einem. Diese Kombination, die sie so selten in ihrem Leben gespürt hatte. In seinen Armen fühlte sie sich zu Hause und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wieso ihr das nicht schon viel, viel früher aufgefallen war.

"Ich liebe dich auch", wisperte sie, bevor sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihre Lippen auf seinen Mund presste. Der Kuss schien so gefühlvoll und zart im Vergleich zu der rohen Natur, die sie umgab. Trotzdem zitterte Annika dabei am ganzen Körper, Strom schoss durch jeden einzelnen Nerv.

Ihr wurde in dem Moment klar, dass sie süchtig war. Süchtig nach Nicks Lippen, seinem Geruch, seiner Nähe. Ihr Herz war dabei zu bersten, so viele Gefühle hatte sie für ihn darin verstaut.

Langsam lösten sie sich voneinander und verloren sich in den Augen des jeweils anderen. Dann, genauso langsam, drehten sie sich ein wenig, um über das Meer zu blicken.

"Erzähl mir von deinen Großeltern", bat Nick sie plötzlich. Sein heißer Atem kitzelte ihre Wange, da er sich hinter sie gestellt hatte und seine Arme um ihre Taille geschlungen hatte. Als würde er die Nähe zu ihr genau so brauchen, wie umgekehrt. Als würden sie so ganz sein. Eins.

Annika überlegte kurz, als sie sich nach hinten eine seine Brust lehnte. Ihre grünen Augen scannten die Umgebung, als könne sie darin die Antworten auf ihre ungestellten Fragen finden. Die Mysterien des Lebens.

Dann zuckte sie mit den Schultern. "Wie viel weißt du über sie?" Sie ahnte schon, dass Caro Nick so einiges über ihre Familie erzählt hatte. Sonst hätte er diese Frage nicht gestellt.

"Du bist bei deinen Großeltern aufgewachsen", sagte Nick schlicht. "Und deine Eltern sind Schuld, dass deine Oma mir letztens die Tür vor der Nase zugeknallt hat", fügte er noch hinzu und sie konnte das Grinsen aus seiner Stimme hören.

"Naja genau genommen, sind deine Eltern Schuld", korrigierte sie ihn leise lachend. "Also, wo fange ich am besten an... Meine Eltern waren nicht verheiratet, als sie mich bekommen haben. Was in der Londoner High Society damals natürlich eine Schande war. Ich war eine Schande."

Bei ihren letzten Worten verstärkte Nick seinen Griff um sie. Er unterbrach sie nicht, gab ihr durch die intensivere Berührung aber zu verstehen, dass er sie nicht als Schande sah. Sie nie als Schande sehen würde. Das gab ihr den Anstoß, sich ihm ganz zu öffnen und weiter zu erzählen.

"Wahrscheinlich wäre alles irgendwie gegangen, wenn meine Eltern sich wie erwachsene Leute hätten benehmen können. Aber das konnten sie nicht. Und sie tun es auch immer noch nicht." Sie hatte die letzten Monate selten an ihre Eltern gedacht, sie in eine hintere Ecke ihres Gehirns verschoben. Doch jetzt, als sie Nick so ehrlich und offen wie möglich von ihnen berichten wollte, schienen die Gefühle des Verlassenwerdens wieder in ihr zum Leben zu erwachen.

"Meine Eltern sind wirklich unverantwortlich. Ich bin reifer als sie." Bitter lachte sie kurz auf. "Es war einfach schnell klar, dass sie sich nicht richtig um mich kümmern würden. Meine Eltern lieben das freie Leben ohne Verpflichtungen. Ein Leben, wo sie nur zeitweise arbeiten, um dann so schnell wie möglich ihre Träume in der weiten Welt zu verwirklichen. Zu reisen. Irgendwo anders hinzuziehen. Und da ist ein kleines Kind ziemlich unpraktisch."

"Also bist du bei deinen Großeltern aufgewachsen", stellte Nick fest und Annika nickte.

"Ja, es war für alle wahrscheinlich am besten. Meine Eltern lieben mich, daran zweifle ich nicht, aber... Sie wollten ihre Freiheit nicht für mich aufgeben. Also haben meine Großeltern das Sorgerecht bekommen und meine Oma hat das als ihre Möglichkeit gesehen, den Schaden zu begrenzen. Wenn sie mich zu einer wohlerzogenen, jungen Dame erziehen könnte, dann würde das unmögliche Verhalten ihrer eigenen Tochter in den Hintergrund rücken."

"Nur Schade, dass ihr das nicht gelungen ist", ärgerte Nick sie und Annika war ihm dankbar, ein wenig Humor in die Sache zu bringen, als sie sich lachend enger an ihn schmiegte.

"Ich habe wahrscheinlich mehr Gene meiner Eltern abbekommen, als Oma sich gewünscht hätte", lächelte sie schief. "Ich kann meine Eltern irgendwie verstehen. Dass sie aus der noblen Gesellschaft ausbrechen wollten. Meine Mama vor allem. Mein Vater war ja ein einfacher Bürger, Handwerker ohne viel Geld. Er würde meiner Mama überall hin folgen und ich denke, dass es am meisten für sie ein Bedürfnis war, auszubrechen. Er ist einfach mitgegangen."

Sie schloss kurz die Augen, malte sich aus, wie ihr Leben gewesen wäre, wenn sie bei ihren Eltern geblieben war. Doch das war eine unmögliche Sache. Was wäre wenn... Das konnte niemand wissen.

"Meine Oma ist sehr darauf bedacht den Schein zu wahren, wir wären eine perfekte Familie", sprach sie dann leise weiter. "Für sie dreht sich alles um Ansehen, den guten Ruf, ihren Stolz und ihre Würde. Ich war ihre Lebensaufgabe, hatte ihren vollen Fokus. Unser Verhältnis ist ziemlich angespannt, weil ich auf Erziehung und Manieren und auf diesen perfekten, aber falschen, Schein keine Lust hatte. Wenn du meinst, ich wäre stur, dann hast du meine Oma noch nie getroffen. Und da ihre Erziehung anscheinend doch ein wenig gefruchtet hat, habe ich oft alles einfach in mich reingefressen, anstatt mich zu wehren oder ihr zu widersprechen. Das gehört sich einfach nicht... Trotzdem bin ich ihr wirklich dankbar. Sie hat sich um mich gekümmert, als wäre ich ihre eigene Tochter. Das Leben bei meinen Großeltern hat mir die Stabilität gegeben, die ein Kind braucht."

Wenn sie so zurück blickte, hatte sie eigentlich allen Grund mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Es war kein normales Leben gewesen und manchmal überkam sie die Wut auf ihre Eltern, dass sie sie einfach so bei ihren Großeltern zurück gelassen hatten.

Aber im Grunde gefiel es ihr, so wie sich alles entwickelt hatte.

"Und dein Opa?" Nicks sanfte Stimme holte sie aus ihrer Tagträumerei und ein Lächeln huschte über ihre Lippen.

"Mein Opa ist mein bester Freund und mein Retter", sagte sie, als sie mit Liebe an ihn dachte. "Er ist ruhig und besonnen, bodenständig und liebevoll. Er hat nie viel Wert darauf gelegt, was andere über uns gedacht haben. Wenn Oma mal wieder ihre Allüren hatte, bin ich immer zu ihm gegangen, um mich zu beruhigen. Er hat mir immer das Gefühl gegeben, dass ich gut genug bin. Egal was. Egal welche Noten ich hatte, egal welche Kleider ich trug, egal was Oma an mir auszusetzen hatte. Die beiden haben im Grunde einen guten Ausgleich geschafft", fasste Annika zusammen.

"Und ich möchte ihn dir unbedingt vorstellen." Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass Nick und William sich verstehen würden. Keine Sekunde.

"Und deine Oma?", fragte er mit einem Grinsen in der Stimme.

"Die muss dich einfach akzeptieren. Und wenn sie erst einmal ihren Stolz geschluckt und den Gedanken bei Seite geschoben hat, dass deine Eltern ihr nach dem großen Skandal die kalte Schulter gezeigt haben, dann wird sie dich lieben" antwortete Annika im Brustton der Überzeugung. Dann drehte sie sich in Nicks Armen, um ihn anzusehen.

"Besuchst du mich in London?", fragte sie vorsichtig und spürte, wie ihr Herz sich beim Gedanken, von Nick getrennt zu sein, schmerzhaft zusammenzog. Er legte seine Hand an ihre Wange, streichelte mit seinem Daumen ihren Kiefer entlang. Ein Kribbeln lief dabei durch ihren ganzen Körper.

"Natürlich. Jetzt weiß ich schließlich, wo du wohnst", lächelte er schief.

"Du wirst das nächste Mal auch reingelassen, das verspreche ich dir." Glücklich blickte sie zu ihm auf und fand in seinen Augen so viel Liebe und Verständnis, dass ihre Knie ganz weich wurden. Es war eine Erleichterung und Freude gewesen, Nick ihren Hintergrund, ihre Geschichte, zu erzählen. Er konnte jetzt besser sehen und spüren, wer sie wirklich war.

"Was ist mit deinen Eltern?", fragte sie dann. Die große Lust, sie kennenzulernen, hatte sie nicht. Sie hatte Angst davor, abgewiesen zu werden. Nicht gut genug für ihren Sohn zu sein. Und ein Gefühl beschlich sie, dass es genau so werden würde.

"Das kann warten." Nicks Augen lächelten sie an.

"Werden sie gegen uns sein?" Angst und Unsicherheit überfluteten sie und unwillkürlich hielt sie die Luft an.

"Ich weiß es nicht. Aber es ist mir auch egal. Ihre Meinung zählt hier nicht, ist ohne Bedeutung. Ich will mit dir zusammen sein, weil ich dich liebe, nicht weil meine Eltern dich gutgeheißen haben." Er legte seine Stirn an ihre. "Meine Schwester durfte selber entscheiden, wen sie heiratet. Und das werde ich auch. Mach dir keinen Kopf."

Beim Wort 'heiraten' setzte ihr Herzschlag aus, obwohl sie natürlich wusste, wie Nick das meinte. Er würde sich nichts sagen lassen. Genauso wenig wie sie sich von ihrer Großmutter oder sonst wem etwas sagen lassen würde.

Nick und sie waren zusammen. Und keiner konnte sie jetzt mehr auseinander bringen. Keiner.

Er gab ihr einen viel zu kurzen Kuss, dann legte er seinen Arm um sie. "Wollen wir weiter gehen?", fragte er dann. Durch das Stillstehen wurde die Kälte nicht gerade angenehmer.

Sie nickte und Arm in Arm gingen sie weiter, als ihr in dem Moment etwas bewusst wurde.

Sie würde überall mit Nick hingehen. Ihm überall hin folgen. Denn ohne ihn war sie nicht ganz.

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Es tut mir so furchtbar leid, dass ich für dieses Schnulzen-Kapitel so lange gebraucht habe!!! Aber ich hatte extrem viel um die Ohren und dazu noch mehrere Schreibblockaden - keine besonders gute Kombination^^

Jetzt gehts hoffentlich etwas zügiger weiter, denn viel fehlt nicht mehr... :)

Hoffe, es hat euch gefallen - bis demnächst!

Eure Tyskerfie <3

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