6.7 - Die Last von Magie

präsentiert von: Loderflamme

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Der Regen, der auf Yues Schultern tropfte, war warm und fein, aber so dicht, dass das schmächtige Mädchen innert Sekunden durchnässt war, als sie sich aus dem modrigen Verschlag hervorschob, in dem sie lebte – oder eher hauste. Vorsichtig umherspähend drückte sie sich an die Holzwand und ignorierte die morschen Splitter, die sich in ihren Rücken bohrten und brachen, als sie sich eine etwas mehr als daumengroße, haarige Spinne vom Arm schnippte. Das feuerrote Tier blieb kurz verwirrt in der Nässe sitzen, dann huschte es zurück in den winzigen Schuppen.
Seufzend zog Yue sich die zerfranste Kapuze ihres Flickenmantels tiefer ins Gesicht, zum einen, um den Regen wenigstens ein wenig abzuhalten, zum anderen, um das Glimmen ihrer Augen zu verbergen. Obwohl bei solch miesem Wetter kaum Leute auf der Straße unterwegs und unter diesen wenigen einige sehr schräge und sehr betrunkene Gestalten dabei waren, war Yue lieber vorsichtig. Magie – und anders konnte man das Leuchten ihrer Augen vermutlich nicht erklären – war hier nicht gerne gesehen. Oft genug war sie aufgrund ihrer seltsamen Augen schon überfallen und verletzt worden.
Missmutig setzte sich das junge Mädchen in Bewegung, den Kopf gesenkt und die Schultern hochgezogen, kickte einige lose Steinchen zur Seite und stapfte durch die Pfützen aus lauwarmen Wasser.
Noch war es warm, aber Yue lebte jetzt schon lange genug an der Küste, um zu wissen, dass sich das mit dem Eintreten der Winterstürme schlagartig ändern würde. Sorgenvoll blickte sie auf ihre nackten Füße. Bis dahin würde sie sich dringend Schuhe zulegen müssen, wenn sie nicht auf ihre Zehen verzichten wollte. Fußaskese hatte das ein guter Freund von ihr einmal genannt, nachdem er beide Füße in der Kälte und einige Wochen später sein Leben verloren hatte. Immerhin hatte er bis zum Schluss seinen Humor erhalten – darauf würde Yue nicht hoffen können. Ihren hatte sie schon bei dem Verstoß ihrer Mutter abgegeben.
Lautlos tappte sie durch das leere Straßenlabyrinth Landys und ignorierte geflissentlich das leichte Frösteln, das ihren Körper erfasste und von ihren Fußspitzen ausging, ebenso wie sie sich zwang, nicht in Erinnerung an 'die gute alte Zeit' zu versinken.
Wenn sie nicht so dringend Schuhe bräuchte, überlegte sie weiter, hätte sie den Auftrag bleiben gelassen. Aber ihr Zuhälter – nicht im Sinne von Prostitution, sondern einfach nur ein Mann, der die Straßenkinder die Drecksarbeit machen ließ und sie dafür viel zu schlecht bezahlte, weil er wusste, dass die verhungernden Kinder alles für ein wenig Essen oder Geld machen würden – hatte ihr eine Bezahlung dafür geboten, von der sie mehrere Monate problemlos leben und sich sogar noch gute Schuhe leisten könnte.
Yue mochte den Zuhälter nicht, seine gierigen Blicke, der fette Bauch, die schleimigen Haare und die teure Bekleidung stießen sie ab, doch ab und zu war sie auf ihn angewiesen, wenn sie überleben wollte. Und die Belohnung für den heutigen Auftrag war einfach viel zu verlockend, als dass sie sich weiter Gedanken darüber machte, für was er wohl so viel Geld zahlte.

Flink kletterte Yue eine Mauer hoch, die eigentlich dazu gedacht war, die Armut der Hafenviertel aus der Innenstadt heraus zu halten, lief einige Meter darauf entlang und erklomm dann ein kleines, schäbiges Steinhaus. Eine kümmerliche Rauchfahne kringelte sich aus dem schmalen Schornstein hervor und das Dach unter den Füßen des Mädchen war zwar glitschig vom Sprühregen, aber warm.
Zu gerne hätte Yue sich die Annehmlichkeit gegönnt, eine Pause zu machen, doch sie eilte weiter, sprang über eine schmutzige, gut 6 Meter breite Straße auf das gegenüberliegende Dach und ließ sich dann in eine dunkle, aber saubere Sackgasse hinab, um dort blitzschnell im Schatten zu verschwinden und auf ihren Arbeitgeber zu warten.
Kaum eine viertel Stunde später tauchte dieser tatsächlich auf, womit er Yue kürzer warten ließ als sonst.
Der Auftrag musste wohl sehr dringend sein.
Seinen kugelrunden Wanst vor sich her schiebend stampfte er um die Ecke und Yue fürchtete einige Herzschläge lang, der rotnasige Mann würde in dem schmalen Weg stecken bleiben, doch er schaffte es unversehrt.
Yue trat aus dem schützenden Dunkel hervor und deute eine spöttische Verbeugung an. „Mein Auftrag?", fragte sie unumwunden und erwiderte den Blick ihres Gegenübers aus ihren leuchtenden Augen. Für einen kurzen Moment sah sie seine Abneigung und Abscheu in seiner Miene aufblitzen, doch er hatte seine Gesichtszüge sofort wieder unter Kontrolle.
Ohne den Blickkontakt zu brechen, zog der Mann einen Siegelring aus einer Tasche seiner goldverzierten Weste und hielt ihn hoch. „Du sollst bloß ein einfaches Pergament stehlen, dessen Siegel auf diesen wunderbaren Ring passt. Eine Kleinigkeit für dich, nicht wahr?" Ein fast teuflisches Grinsen verzerrte sein fleischiges Gesicht, als Yue zaghaft nickte.

„Wo? Und bis wann?"
Das Grinsen wurde breiter. „Bis morgen Abend. Aus der Botschaft der Spiegelakademie."
Fassungslos starrte Yue den Koloss an. „Ihr... ihr müsst verrrückt sein", würgte sie hervor und wich einen kleinen Schritt zurück.
Die Magier Falindes zu beklauen war reinster Selbstmord. Trotz des Friedens, den die Magier dem Reich gebracht hatten und der ihnen Ruhm und Ansehen selbst im hintersten Teil des Landes beschert hatte, so waren die Zustände in Landy anders. Die Stadt war ein verrottendes Drecksloch, täglich starben Menschen an Hunger, Kälte, Gewalt und Krankheiten, während die Abgesandten in einem kleinen Palast residierten, den sie nur selten verließen – und wenn, dann verbreiteten sie Angst und Missmut. Die Magier wussten das und sicherten deswegen ihre Macht häufig mit Gewalt, die wiederum zu unnötigen Verletzten und oft sogar zu Toten führte.
„Ich brauche dieses Pergament. Und zwar bis morgen Abend", knurrte Yues Zuhälter eisig. Für einen kurzen Moment meinte sie, er wäre nervös. War er etwa auch mittlerweile zum mehr oder weniger offenen Widerstand gegen die Magier konvertiert, der hier in Landy immer heftiger wurde? Wahrscheinlich war es, bei dem Hass den er auf die Spiegelakademie hegte.
Der Mann zauberte einen Stoffbeutel aus einer weiteren Tasche hervor und hielt ihn hoch. Es klingelte verführerisch darin.
Yue presste die Lippen aufeinander. „Das ist reinster Selbstmord", stellte sie noch einmal das Offensichtliche fest, machte noch einen Schritt rückwärts. Es war eine Dummheit gewesen, hier her zu kommen, fluchte sie innerlich, aus Geschäften mit ihrem Zuhälter entstand ja doch nie Gutes. „Ich verzichte!"
Schmerzhaft zog sich ihr Herz zusammen bei dem Gedanken an das Essen, das ihr entging und die Schuhe, die sie so dringend bräuchte und jetzt nicht bekam.
Er klimperte mit mit dem Beutel. Yue schnappte nach Luft. Das war schon fast körperliche Folter, dieser Klumpen im Bauch. „Ich meine es ernst!", erklärte sie dennoch fest, „suchen Sie sich jemand anderen. Nur über meine Leiche breche ich in die Spiegelbotschaft ein!"
Ihr Arbeitgeber steckte das Geld weg und streckte bittend seine Hände nach dem Mädchen aus.
Es hatte aufgehört zu regnen, doch Yue wurde immer kälter, je länger die Verhandlung mit dem Koloss dauerte – sowohl innerlich als auch äußerlich. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
„Hör mal Mädchen", hob er in beinahe versöhnlichem Tonfall an, „mir ist dieses Schreiben wirklich wichtig und ich würde über Leichen gehen, um es zu bekommen. Also entweder, du besorgst mir das Pergament, oder ich liefere dich den Behörden aus. Eine ganz einfache Entscheidung, nicht?"
Yue spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.
Die Behörden... Wie wichtig musste ihrem Zuhälter dieses Schreiben sein?!
Die Behörden – die Leute, die eigentlich die Macht in Landy hatten und gegen die selbst die Magier der Spiegelakademie nichts tun konnten – waren der Alptraum eines jeden Straßenkindes, da sue gnadenlos Jagd machten auf die jungen Bettler, die sich hervorragend als Sündenböcke und Volksbelustigung eigneten. Wenn sie einen einmal in die Finger bekamen, stand das Todesurteil fest.
Yue war sich sicher, dass diese mehr oder weniger indirekte Morddrohung ihres Gegenübers ernst gemeint war.
Über ihr auf dem Dach raschelte es leise. Ablehnen, weglaufen und untertauchen war also nicht angesagt. Ihr Arbeitgeber hatte an alles gedacht, auch daran, ihren Fluchtweg abzuschneiden. Deswegen also diese schmale Sackgasse als Treffpunkt.
Wahrscheinlich würde sie auch bis zur Erfüllung des Jobs ständig überwacht werden.
Sie seufzte leise. Welche Wahl hatte sie denn da schon? Von einem dieser verdammten Spiegelmagier verbrutzelt zu werden, wenn – falls – er sie ertappte oder nach langer Folter vor einer schaulustigen Menge aufgeknüpft werden? Da doch lieber den schnellen, schmerzloseren Tod durch Magie.
Die Botschaft der Spiegelakademie machte ihr schon seit jeher so schreckliche Angst, dass sie immer einen großen Bogen darum schlug, wie die meisten Straßenkinder. Die Magier hegten gewisse Abneigungen gegen das schmutzige Gesindel Landys, ebenso wie die Bewohner dieser Stadt Magie und deren Träger verabscheuten. Yue hatte dazu sogar noch einen triftigen Grund. Beinahe beschämt wandte Yue den Blick zu Boden. „Übermorgen Abend, damit ich ein wenig Zeit habe, mir das ganze anzuschauen und mir einen Plan zu überlegen", versuchte sie, noch eine kleine Überlebenschance für sich rauszureden.
„Morgen Abend oder die Behörden."
Sie hätte die Fußaskese nehmen sollen, als sie noch die Wahl gehabt hatte.
Yue schluckte schwer, biss sich auf die Lippe, atmete tief durch, doch schließlich stieß sie bitter hervor: „Na gut, in Ordnung. Ich besorge Ihnen Ihre verdammte Schriftrolle."

Seufzend drehte Yue sich in ihrem Bett auf die andere Seite und starrte mit weit geöffneten Augen an die Wand. Obwohl sie jetzt schon seit fast einem dreiviertel Jahr auf der Spiegelakademie war – zu Beginn unfreiwillig, mittlerweile mit sehr viel Spaß – erinnerte sie sich an die zwei verhängnisvollen Tage, die sie hierher gebracht hatten, als wäre es gerade ein paar Tage her. Sogar der genaue Wortwechsel hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Aber das hatte auch das Bild des in Flammen stehenden Stadtteils geschafft. Das Bild des brennenden Magiers, der keiner Menschenseele jemals etwas zu Leide getan hatte, sondern einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Und obwohl sich Yues Leben nach dem fehlgeschlagenen Diebstahl rasant verbessert hatte, war das einzige Gefühl, von dem sie wusste, Angst.
Der Diebstahl war von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen, das hatte Yue gewusst, und so war sie schon mit einem dicken Klumpen im Bauch an ihre Arbeit gegangen. Das Fenster, durch das sie in die Botschaft einstieg, war nur durch ein einfaches, nicht magisches Schloss gesichert gewesen, dass sie innerhalb eines Atemzugs geknackt hatte und führte direkt in das Schreibzimmer, in dem Yue die Schriftrolle finden sollte, hatte ihr Zuhälter ihr erklärt.

Mit angehaltenem Atem schlich Yue über den kühlen Steinboden zu dem wuchtigen Holztisch in der Mitte und tatsächlich: Da lag ein Pergament. Die Diebin verglich schnell den Siegelring an ihrem linken Ringfinger mit dem Abdruck in dem königsblauen Wachs, dann griff sie nach dem Schriftstück und steckte es sich unter den Mantel.
Im selben Moment heulte ein magischer Alarm los.

Ein einfach Zauber, den Yue in ihren ersten Monaten an der Akademie lernte, für das junge Mädchen damals allerdings das Todesurteil: Noch bevor sie das Fenster erreicht hatte, flog hinter ihr die Tür auf und ein in ein langes, graubraunes Gewandt gekleideter Magier kam hereingestürzt. Er war jung, höchstens 26 Jahre alt und unbedacht wie er war hetzte er seine Magie auf das flüchtende Mädchen, womit er eine Katastrophe in Gang setzte, die Landy so seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte.

Yue fühlte einen eisigen Wind in ihrem Rücken, knallend schlug das Fenster zu. Etwas nebelartiges wickelte sich um ihr Bein und brachte sie zu Fall. Sie schrie angsterfüllt, als sie sich auf den Rücken drehte, auf die Beine zu kommen versuchte und den Magier sah, der auf sie zu hetzte. Sie konnte ihm nicht mehr ausweichen – noch immer hielt etwas ihr Bein fest – als der Mann ihr Handgelenk packte.
Hitze schoss durch ihren Körper, irgendetwas in Yue löste sich, unglaublicher Schmerz überschwemmte sie. Der Magier neben ihr riss den Mund zu einem stummen Schrei auf, seine Augen quollen ihm aus den Höhlen. Feurige Schatten wirbelten um Yue und den jungen Magier herum, immer und immer schneller.
„Hilfe!", wimmerte das Mädchen. Ein Knall zerriss die Luft, Yue wurde hart zurückgeworfen und prallte heftig gegen die Wand. Der Magier, der sie festgehalten hatte, brannte lichterloh. In Sekundenschnelle waren von ihm nur noch Staub und einige Knochen übrig. Doch das Feuer erlosch nicht, es sprang durch den Raum, als wäre es lebendig, steckte alles in Brand. Ein weiteres Mal öffnete sich die Tür, drei Magier und zwei Frauen in roten und dunkelblauen Kleidern stürmten herein.
Yue drehte sich um, riss das Fenster auf und floh. Das Feuer rauschte ihr hinterher, ihnen auf den Fersen die fünf Akademiker.

Hier verschwammen Yues Erinnerungen dann doch, sie setzten erst wieder ein, als sie in einer ruckelnden Kutsche ihr Bewusstsein wiedererlangte, ein alter, grauhaariger Mann über sie gebeugt.
Dieser Mann war es gewesen, der ihr erzählt hatte, was geschehen war: Dass ihre magische Kraft ausgelöst worden war und dass sie nun auf dem Weg zur Spiegelakademie seien, um sie dort unter Kontrolle halten zu können. Dass sie einen nicht ganz kleinen Teil Landys abgefackelt hatte, inklusive der Spiegelbotschaft und dass die übrig gebliebenen Botschafter – anscheinend hatte Yue mehr als nur einen auf dem Gewissen, doch diese Tatsache wurde seither totgeschwiegen und so versuchte auch sie, das zu verdrängen – es gerade rechtzeitig geschafft hatten, ihren bewusstlosen Körper aus den Flammen zu bergen, die die Flammengeister, die sie wohl gerufen hatte, ausgelöst hatten, bevor die Behörde sie fand und umbringen ließ. Die Magier waren es auch gewesen, die sie aus der Stadt geschmuggelt und in Sicherheit gebracht hatten. Der Mann – Yues späterer Lieblingslehrer – war einer dieser Retter gewesen.
Viel war seit ihrer Ankunft geschehen, doch vor allem hatte Yue feststellen müssen, dass Magier keineswegs blutrünstige Monstren waren und es eine unglaubliche Vielfalt an magischen Wesen gab. So zum Beispiel Dämonen und Engel, wie ihr Vater und ihre Mutter, an die sie keine Erinnerungen hatte. Aber obwohl es hier gut ging, fühlte sie sich hier nicht wirklich wohl. Beinahe 12 Jahre als Straßenkind in Landy waren dann doch nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Doch ihre Meister an der Akademie gaben ihr Bestes, die Diebin, die zwei Magier getötet, keine Aufnahmeprüfung und keine Kontrolle über ihre Kräfte hatte, so normal wie alle anderen auch zu behandeln. Und dafür war Yue sehr dankbar.
Doch, alles in allem war die Spiegelakademie schon was ziemlich Gutes, auch wenn sie sich einfach nicht mit Magie anfreunden konnte. Aber das würde schon noch klappen.

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