6.6 - Die Prüfung
präsentiert von: moplop2
(Eindrucksvoll beweit moplop hier ihre Kreativität und haut uns mit diesem Kapitel völlig vom Hocker. Wir lieben es [und ihr dürft raten warum.] einfach nur! ♥)
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PS: Jegliche Ähnlichkeiten mit existierenden Personen sind rein zufällig
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Im Spiegel liegt die Wahrheit.
Aber um diese zu sehen,
müssen wir uns
vor den Spiegel trauen.
Ehrfürchtig blickte das schwarzhaarige Mädchen auf die Landschaft zu ihren Füßen. Dort, inmitten den Weiten Falindes und eingebettet in den vielen hohen, alten Eichen des großen Waldes, lag ihr Ziel. Das Ziel, für das sie einen wochenlangen Fußmarsch und riskante Begegnungen mit gefährlichen Geschöpfen der magischen Welt in Kauf genommen hatte und in das sie all ihre Hoffnungen setzte. Die Spiegelakademie. Vor den goldenen Toren des gigantischen Gebäudes hatte sich ein riesiger Haufen aus Wesen allen Teilen Falindes gebildet, alle mit demselben Ziel wie sie: Einen Platz an der berühmten Akademie für Magie zu bekommen.
Ein wenig zitternd griff sie in ihren Umhang und beförderte ein braunes, vom letzten Regenschauer leicht durchnässtes Stück Pergament zu Tage und faltete es auseinander. Ihre listigen, dunklen Augen verzogen sich zu Schlitzen, als sie den Aufruf überflogen. Die Spiegelakademie öffnete einmal im Jahr ihre Tore, um jungen Magiern die Chance zu geben, ihre Kraft, ihre Entschlossenheit und ihre Güte unter Beweis zu stellen und an die Spiegelakademie aufgenommen zu werden. Doch längst nicht alle wurden aufgenommen, nur ein Bruchteil der jungen Magier bewies sich als würdig genug, um auch ein Schüler der Akademie zu werden.
Entschlossen steckte das junge Engel-Mädchen das Schriftstück in ihren Umhang zurück und versuchte die restlichen Zweifel in ihrem Herzen zur Seite zu schieben. Ein ohrenbetäubendes Trompetensignal ertönte und die Tore öffneten sich langsam. Jetzt oder nie!, dachte sie und atmete einmal tief durch. Dann ging sie los.
Luana wusste nicht genau, wie sie sich fühlen sollte, als sie nachmittags zwischen den mächtigen Torflügeln hindurch schritt. In dem großflächigen Vorhof hatten sich alle versammelt. Luana entdeckte einige bekannte Gesichter, aber die meisten Wesen waren ihr wildfremd. Da sie nicht genau wusste, was sie tun sollte, beschloss die schwarzhaarige, es sich vorerst auf einer Bank gemütlich zu machen und ihre geschwollenen Füße von der langen Wanderung zu erholen, dabei ließ sie ihren wachen Blick durch die Menge schweifen. Alle standen in kleinen Grüppchen, unterhielten sich, kicherten, lachten über andere Gruppen oder ignorierten die Umstehenden. Ein muskulöser Elf in schimmernder, grüner Kleidung hatte sich zu einer Gruppierung aus lauter Elfen in feshen, kurzen Röcken gesellt, die ihn stürmisch und kreischend begrüßten. Augenverdrehend löste sie ihren Blick von dem gutaussehenden Jungen und bemerkte im Augenwinkel eine stämmige, rothaarige junge Frau, die sehr viele Schriftrollen in den Armen hielt, die ihr die Sicht versperrten, sodass sie im Zickzack über den Hof taumelte. Luana schätze die Schriftrollenträgerin auf etwa zwanzig Jahre und sah ihr amüsiert zu, wie sie die giftigen Blicke der umstehenden Fabelwesen gekonnt ignorierte, wenn sie wieder ausversehen gegen eine Gruppe stieß. Als sie den schicken Elf erreichte, der sich selbst lobend vor seinen Elfenfans aufgebaut hatte, stellte sich dieser ihr mit fiesem Grinsen in den Weg, sie knallte gegen ihn und fiel mitsamt ihren Schriftrollen rückwärts auf den Boden.
"Hey", rief der Junge wütend, während seine Fangirltruppe kichernd Beifall klatschte. Die rundliche Zwanzigjährige stand würdevoll wieder auf und sammelte wortlos die Schriftrollen, die sich auf dem grauen Boden verstreut hatten, wieder ein. "Hey, kannst du überhaupt sprechen, du fette Kuh", stachelte der Elf sie erneut an, wieder angefeuert von der johlenden Elfentruppe. Die Frau hatte ihre Schriftrollen wieder in ihren Armen platziert und sah dem Elf einen verachtenden Blick zu. "Weißt du, ich spreche grundsätzlich nicht mit Leuten, die Beleidigungen für eine Sprache halten", erklärte sie ruhig, "und was meine Figur angeht: Das, was bestimmten Leuten wie dir zum Beispiel im Kopf fehlt, trage ich nun mal am Bauch. 'Stehste?" Mit diesen Worten ließ sie den hochnäsigen Elf stehen, der ihr dämlich hinterher sah. Luana konnte ein Grinsen nur schwer unterdrücken, sie bewunderte die Schlagfertigkeit, eine Fähigkeit, die ihr häufig fehlte, dieser Frau sehr, aber als das Engel-Mädchen aufstand, um jemanden zu suchen, der ihr weiterhelfen konnte, bemerkte sie ein zusammengerolltes Pergamentstück unter der Bank. Das muss die Frau mit den roten Haaren verloren haben... Hastig sprang sie auf und kämpfte sich durch die Menge. Es dauerte nicht lang und ihre funkelnden Augen hatten die stämmige Rothaarige mit den Schriftrollen im Arm ausgemacht.
"Ähm, entschuldigt bitte", sagte sie unsicher, als sie die junge Frau vor einem sehr hohen Turm erreicht hatte, "Ihr habt diese Schriftrolle vergessen". Der wandelnde Schriftrollenberg drehte sich um, das Gesicht der Frau immer noch verdeckt. "Oh, danke!", kam es hinter den aufgerollten Pergamentmassen hervor, "legt sie einfach obendrauf".
Doch als die Schwarzhaarige das Schriftstück auf den Haufen legte, rutschten die unteren Rollen aus den Armen der stämmigen Frau und innerhalb von Sekunden verteilten sich die Schriften auf dem Boden. "Ich bitte vielmals um Vergebung, Frau ...ähm". Mit einer kleinen Verbeugung wollte Luana sich bei ihr entschuldigen, aber die rothaarige Frau lachte nur.
"Keine Sorge, dass passiert mir andauernd". Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Ich bin Schriftmeisterin Ilaria. Habt Ihr Lust, mir zu helfen? Die Schriftrollen müssen da hoch".
Luana folgte ihrem Finger und musste schlucken, als ihr klar wurde, dass sie die Schriften bis ganz nach oben in den Turm bringen mussten. "Ähm...Gerne. Aber was haltet Ihr von einem kleinen Trick?", fragte sie und fixierte die Schriftrollen mit den Fingerspitzen. Sie krümmte die Finger und sofort sammelten sich die Schriftrollen und stiegen in die Luft.
"Nicht schlecht", staunte Ilaria, "wenn das so einfach ist, könnt Ihr die Schriftrollen auch zum Fenster hereinfliegen lassen, dann muss ich sie nur noch sortieren". Luana musterte das Turmfenster. Es war viel zu hoch, um es mit ihren Kräften zu erreichen. Ihr wurde heiß und kalt zugleich, es blieb ihr nichts Anderes übrig. Sie musste Fliegen.
"Ich...werde es...versuchen...", stammelte sie. Sie atmete tief durch, breitete die Flügel aus und vergewisserte sich, dass sie die Schriftrollen immer noch sicher hatte. Dann stieß sie sich ab. Sofort rauschte eine Adrenalinwelle durch ihren Körper und Panik stieg in ihr auf, doch sie zwang sich, nicht nach unten zu sehen und sich auf die Schriften zu konzentrieren, die ihren Fingerbewegungen folgten. Mit jedem Flügelschlag, der sie näher an das Fenster brachte, spürte sie, wie die Angst in ihr höher kroch, bis sie ihre Arme und Hände erreicht hatte. In diesem Moment entglitten ihr die Schriftrollen, sie verlor die Kontrolle und stürzte unter einem Aufschrei in die Tiefe. Mit einem dumpfen Aufschlag landete sie vor den Füßen der Schriftmeisterin. "Hey, alles in Ordnung?"
"Ja, geht schon", murmelte Luana und rappelte sich seufzend auf, "solche Abstürze bin ich gewohnt..."
Ilaria begann, die Schriftrollen aufzusammeln. "Seid Ihr deshalb den ganzen Weg hierher gelaufen? Weil Ihr nicht gerne fliegt?"
"Ich fliege schon gerne", erklärte Luana, "aber jedes Mal, wenn meine Füße den Boden verlassen, überkommt mich eine solche Panik, dass ich die Kontrolle verliere". Leise fügte sie hinzu: "Daher war ich mir auch nicht sicher, ob ich diese Aufnahmeprüfung absolvieren soll, ich habe solche Angst es nicht zu schaffen und mich zu blamieren..."
Die Schriftmeisterin hatte inzwischen alle Pergamentrollen mit Luana Hilfe wieder in ihren Armen gestapelt. "Zugegeben, die Prüfung ist nicht einfach. Sie ist auf jeden Teilnehmer individuell zugeschnitten, Ihr werdet sowohl Eure Stärken beweisen als auch Euch Euren Schwächen und Ängsten stellen. Ich weiß selbst, wie schwer es sein kann, zu sich selbst zu stehen, aber es ist nicht peinlich, Schwächen zu haben, sie machen uns aus, genauso wie unsere Stärken. Peinlich ist es nur, wenn wir nicht zu ihnen stehen". Luana blickte noch einmal zu dem Turmfenster hinauf. "Ihr habt recht. Ich wer-" Aber als sie sich wieder der Schriftmeisterin zuwenden wollte, war niemand mehr zu sehen. Die stämmige rothaarige Frau war mitsamt ihren Schriftrollen verschwunden.
Was, wo...?
"Luana Magentria!" Ertönte plötzlich eine sanfte Stimme und ehe sie sich versah, befand sich das Engel-Mädchen in einem prunkvollen, kreisrunden Sitzungssaal. So ist das also, dachte sie verwundert, man wird einfach aufgerufen...
Am Boden glitzerte etwas Wasser. Nur etwa eine Handbreit darüber schwebte eine gläserne Lilie mit einem Durchmesser von mehreren Metern. Auf jedem der sechs Blütenblätter erhob sich ein silberner Thron, von denen drei besetzt waren. Luana, die in der Mitte der gläsernen Blume stand, erkannte Ilaria, die Schriftmeisterin. Vor sich hatte die junge Frau ein kleines Pult, auf dem ein Pergamentstück lag, daneben stand ein kleines Tintenfass, indem ein weißer Federkiel steckte. Neben Ilaria saß eine Fee mit leicht grauen Haaren und neben dieser ein dunkelhaariger Junge in Ilarias Alter, vor dem dieselben Utensilien wie vor Ilaria standen. Seinem Gesichtsausdruck nach urteilte Luana, dass der Junge nicht so arbeitsfreudig wie seine Kollegin war, was die Anfertigung von Protokollen und Schriften anging. Es kam ihr so vor, als würde er mit offenen Augen schlafen, was sie ihm bei der hohen Anzahl an Prüfungen, die er vermutlich protokollieren sollte, auch nicht übel nehmen konnte. Mit gemischten Gefühlen trat sie näher und begrüßte das hohe Trio mit einer tiefen Verbeugung.
Die Fee bedeutete ihr mit einer Handbewegung, dass sie sich aufrichten durfte. "Nun", begann sie in einem Tonfall, der sowohl Strenge, aber auch Respekt versprach, "Ihr seid Luana Magentria, Tochter von Erzengel Orion und Mandala, stimmt das?"
"Ihr sagt es".
"Ich bin Malania. Schriftmeisterin Ilaria kennt Ihr schon", sie wies auf die rothaarige Frau zu ihrer Linken. "Schriftmeister Rubin", erklärte sie so laut, das der Braunhaarige aufschreckte und verwundert feststellte, dass er noch nicht Feierabend hatte, "wird ihr behilflich sein". Sie warf ihm einen strengen Blick zu und der Schriftmeister nahm schnell seine Feder in die Hand und begann grummelnd, seine Pergamentrolle zu beschreiben. "Mir ist zu Ohren gekommen, Ihr beherrscht die Fähigkeit der Raumkrümmung und der Teleportation", sagte sie, nun wieder an Luana gewandt. "Gebt uns eine Kostprobe Eurer Kräfte".
Die nächsten zehn Minuten verbrachte das Engel-Mädchen damit, der hohen Fee und ihren beiden Schriftmeistern ihre Fähigkeiten zu demonstrieren. Sie ließ verschiedenste Dinge durch den Sitzungssaal schweben, löste sie in ihre Atome auf um sie dann an anderer Stelle wieder zusammen zu setzten und teleportierte sich selbst vom einen Ende der gläsernen Lilie zum anderen. Viel weiter schaffte sie es noch nicht, sich selbst zu teleportieren und war daher sehr froh, dass weder das noch irgendeine Art der Flugkunst verlangt wurden. "Vielen Dank für diese Vorführung". Majestätisch klatschend erhob sich Malania und auch Ilaria und Rubin nickten zustimmend. Luana wurde aus ihren Blicken nicht schlau, sie war sich nicht sicher, ob sie ihre Arbeit wirklich gut fanden oder sich innerlich schlapp lachten, daher schloss sie ihre Vorführung wortlos mit einer kleinen Verbeugung ab. "Habt Ihr noch etwas hinzuzufügen?", fragte die Fee an ihre Schriftmeister gewandt, die beide den Kopf schüttelten. "Gut. Dann fahren wir fort mit dem zweiten und letzten Teil der Prüfung".
So schnell, wie sie sich vorher im Sitzungssaal befunden hatte, so schnell fand sich Luana in einem komplett mit Spiegeln ausgelegten Raum wieder. Im Raum herrschte eine gemischte Atmosphäre, eine Mischung aus Anspannung, Überraschung und Gelassenheit lag in der Luft, dazu kam die Dunkelheit, in die der Raum gehüllt war und seine wahre Größe in schwarzem Nichts versteckte. Und trotzdem konnte sie etwas sehen, aber eine Lichtquelle oder ähnliches war nicht zu finden. Unsicher taumelte die Schwarzhaarige durch den Raum. Was ist das bitteschön für ein Prüfungsteil?! Sie erreichte eine Spiegelwand, deren obere Ecken sich wie die Decke in undurchdringlicher Dunkelheit verloren. Sie betrachtete nachdenklich ihr Spiegelbild und fragte sich, ob dieser von der Wanderung schmutzig, zerzaust und geschundener Engel, der zwar Flügel besaß aber sie weder benutzen konnte noch wollte, wirklich sie selbst war. "Ihr werdet sowohl Eure Stärken beweisen als Euch Euren Schwächen und Ängste stellen müssen", wisperte Ilarias Stimme in ihrem Hinterkopf. Ihre Stärken hatte sie soeben bewiesen, also konnten sie nun eigentlich nur verlangen, dass sie sich ihren Schwächen stellt. Eine erneute Panikattacke überkam sie. Was, wenn sie hier, in der Dunkelheit, irritiert von ihren eigenen Spiegelbildern fliegen müsste?
"Hhhaaggggrrrrrr!" In diesem Moment ließ ein markerschütterndes Knurren den Spiegelraum erzittern.Erschrocken fuhr Luana herum. Was beim Barte Merlins war das?! Ihr wacher Blick schleifte durch den Raum, aber niemand, außer ihren tausend Spiegelbildern, war zu sehen. "Hhhaaggggrrrrrr!"Diesmal ertönte das unheimliche Knurren hinter ihr, viel näher, so nah, dass sie glaubte, es würde ihr das Trommelfell zerreißen. Luana fuhr erneut herum, aber sie konnte im spärlichen Licht wieder niemanden erkennen. Gerade als sie halbwegs aufatmen wollte, stürzte urplötzlich mit wildem Fauchen etwas auf sie hinab. Unsanft wurde das Mädchen zur Seite geschleudert und rutschte auf dem spiegelnden Boden entlang. Erschrocken und verwirrt rappelte sie sich auf. Bei dem Anblick des Etwas, das sie zu Boden gerissen hatte, taumelte sie wenige Schritte zurück. Ein riesiges Wesen mit roten, blutunterlaufenen Augen und langen Koteletten, das einem mutierten Gürteltier erstaunlich ähnlich sah, knurrte sie wütend an und entblößte dabei sein von gelben, rasiermesserscharfen Zähnen gespicktes Gebiss. Gefährlich langsam kam es auf sie zu. Luana blieb stehen, einerseits weil die Panik verhinderte, dass ihr ihre Füße gehorchten, andererseits aus Neugier, und musterte das gigantische Tier. Das ist also der letzte Teil der Prüfung... Der Kampf mit einem Monster...
Entschlossen spreizte sie die Fingerspitzen. Na dann, bringen wir es hinter uns, Freundchen! Elegant drehte sie sich einmal um sich selbst, um sich eine Waffe zu besorgen, aber nichts in der Art landete in ihrer Hand. Was?! Luana versuchte es nochmals, aber vergebens: In dem Raum befand sich nichts, das sie zu sich teleportieren konnte.
Das mutierte Gürteltier erkannte ihre Lage und hob eine seiner geschuppten Pranken, um das Engel-Mädchen darunter zu begraben. Die Schwarzhaarige konnte zwar gerade noch rechtzeitig ausweichen, aber nun begann die Hetzjagd erst recht: Kreuz und quer durch den Spiegelsaal, der scheinbar kein Ende besaß, scheuchte das geschuppte Ungetüm seine Beute. Seine tödlichen Hiebe und Bisse nach Luana wurden von ohrenbetäubendem Knurren begleitet, dass die Spiegel an den Wänden zu zittern begannen.
Und trotzdem wurde Luana das ungute Gefühl nicht los, dieses Tier schon einmal gesehen zu haben...Während sie durch den spiegelnden Flur hetzte, immer im Zickzack, um nicht zerquetscht oder zerrissen zu werden, wurde Luana bewusst, dass sie dieses Vieh nicht besiegen konnte, indem sie mit ihm solange Fangen spielte, bis es zusammen brach, nein, sie musste einen anderen Weg finden, auch wenn sie keinerlei Möglichkeiten hatte, ihre Teleportierkräfte einzusetzen. Ihr Blick wanderte zu der sich in der Dunkelheit verlierenden Decke. Wenn ich wenigstens fliegen könnte...
Boin!
Sie hatte die Spiegelwand übersehen und war prompt dagegen gelaufen. Sich die schmerzende Stirn reibend, stand Luana auf -und erstarrte. Das, was sie im Spiegel sah, war nicht sie. Vor ihr, im Spiegel, sah sie in den Wohnraum es Hauses. Eines total zerstörten, zertrümmerten Hauses. Ihres Hauses. In diesem Augenblick war es ihr, als kämen die ganzen Erinnerungen in einer gigantischen Welle wieder, mit einer Wucht, die sie in die Knie zwang. Nein, nicht! Ich will das nicht mehr sehen!
Das Bild im Spiegel veränderte sich. Es war immer noch dasselbe Haus, aber nun erschien in einer Ecke eine junge, hübsche Frau mit einem kleinen Jungen im Arm. In ihrem verzerrten Gesicht stand deutlich, dass sie mit ihren Kräften am Ende war. Vor ihr stand eine in schwarze Tücher gemummte Person und bedrohte die ängstliche Mutter. Mit einem riesigen, mutierten Gürteltiermonster. Nein. Nein! NEIN, VERSCHWINDE! Aber den Gefallen tat ihr das Geschehen im Spiegel nicht.
"Mama...?" Fragte eine dünne, schüchterne Stimme. Ich. Ein kleines, zitterndes Mädchen in einem schwarzen Kleid erschien und versteckte sich in den Armen seiner Mutter. Aus dem Mund der vermummten Person drang nur ein höhnisches Lachen. "Ach, wie niedlich. Die Meisterin der Teleportation und ihre Kinder". Sofort wurde ihre Stimme ernst und voll eiskalter Entschlossenheit. Sie schnalzte mit der Zunge und augenblicklich bäumte sich das geschuppte Ungetüm auf. "Erledige sie!" NEIN! Lass sie in Ruhe!
Kurz bevor die gigantische Mutation eines Gürteltieres seine Zähne in die Familie schlagen konnte, raffte die junge Mutter all ihre verbliebenen Kräfte auf und schleuderte einen Strahl auf ihre Tochter, um sie außerhalb des Dorfes zu teleportieren.
"Mama!"
"Keine Sorge, mein Schatz. Du bist stark genug, du kommst alleine durch! Vergiss nicht, ich liebe dich!" Die riesige, blutverschmierte Fratze des Monsters war das letzte, was der Spiegel zeigte. Dann zeigte er wieder Luana. Das Mädchen, das sich jahrelang alleine durchgeschlagen hatte, sich den Umgang ihrer Kräfte selbst beigebracht und den Weg bis zur Spiegelakademie überlebt hatte. Die ganzen Erinnerungen erfolgreich verdrängt hatte. Und nun, da sie sie eingeholt hatten, zusammen brach.
Ilaria hatte recht gehabt. Und ich habe gedacht, sie meint mit Schwächen die Höhenangst. Aber das... Höhenangst war eine Sache. Nicht angenehm, wenn man eigentlich ein flugfähiges Wesen sein sollte, aber man konnte sie umgehen. Solche Erinnerungen dagegen konnte man weder umgehen noch vergessen.
"Hhhaaggggrrrrrr!" Das mutierte Tier schlich sich knurrend an sie heran, Luana spürte die Vibrationen seiner schweren Schritte unter sich, aber sie rührte sich nicht. Sie konnte es nicht. In ihr kochte eine unbändige Wut, die aber von Trauer und Schmerz überhäuft wurde und sie nicht in der Lage war, ihre Tränen zurück zu halten. Jahrelang hatte sie es geschafft, diese Erinnerungen zu verdrängen, sich nichts anmerken lassen, wenn andere Leute fröhlich über ihre Familien sprachen, den Schock und die Angst zu vergessen, die sie gespürt hatte, als sie plötzlich mitten im Wald stand und mit ansehen musste, wie ihr Dorf niedergebrannt wurde.
Wie durch eine Nebelwand sah das am Boden kniende Mädchen im Spiegel, wie das Monster vor ihr anhielt, bereit, den letzten vernichtenden Schlag zu setzen.
"Du bist stark genug!" Eine sanfte, leise Stimme in ihrem Inneren ließ die Tränen versiegen. "Du kommst alleine durch!" Unter lautem Fauchen hob das Tier die Pranke und die tödlichen Krallen blitzten auf. Dann schlug es zu. "Vergiss nicht, ich liebe dich!"
Genau in dem Moment, als die Krallen ihren Hals erreichen wollten, wurde das gesamte Tier meterweit zurückgeschleudert. Es prallte mit solcher Wucht gegen die Spiegelwand, dass diese tiefe Risse bekam. Verwirrt richtete sich das gürteltierähnliche Vieh auf und blickte in die entschlossenen, funkelnden Augen eines Engel-Mädchens mit schwarzen Haaren, das seinen Angreifer in letzter Sekunde aufgegriffen und weggeschleudert hatte. Luana trat siegessicher an das Monster heran. Die innere Stimme ihrer Mutter hatte ihr gezeigt, dass sie nicht so alleine und hilflos war, wie sie dachte. Sondern Luana. Und geliebt. Und sie hatte einen Weg gefunden, wie sie das Untier besiegen konnte: Wozu brauchte sie andere Gegenstände, die sie teleportieren und als Waffe benutzen konnte, wenn sie genauso gut das Tier selbst umher schleudern konnte?
Nach einem kurzen, ungleichen Kampf schleuderte Luana das Monster ein letztes Mal in die Luft, senkrecht nach oben, sodass es sich für wenige Sekunden in der undurchdringlichen Dunkelheit der Decke verlor, um dann abzustürzen und in einem ohrenbetäubenden Schlag auf den spiegelnden Fliesen aufprallte. Das Tier wurde in seine Einzelteile zerrissen, die quer durch den Raum flogen. Als die letzte Schuppe auf einen Spiegel traf, verschwammen die Spiegel und Luana stand wieder in dem weiten Vorhof der Spiegelakademie. In der rechten Hand entdeckte sie ein zusammen gerolltes, versiegeltes Pergament. Darauf stand in wunderschönen, geschlungen Buchstaben ihr Name, direkt neben dem Siegel der Spiegelakademie. Mit klopfendem Herzen öffnete das Mädchen das Schriftstück...
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