6.5 - Das Buch der Namen

präsentiert von: Blairslyer

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Nervös stand Marietta vor der Tür des Zimmers im Gasthof. Sie wartete schon seit Monaten auf diesen Tag und plante schon mindestens genauso lange, dass sie als Erste vor dieser Tür stehen wollte. Die Frau, die das Zimmer für die nächste Zeit bewohnen wird, ist eine alte Gelehrte, dessen Familie schon seit Generationen reist und Wissen über berühmte Familien oder Personen sammelt und bewahrt. Marietta hatte in der Stadt nahe ihres Dorfes über ihre Anreise erfahren. Sie hoffte, so etwas über ihre Familie zu lernen. Sie fand ihren Familiennamen nie in einem der Bücher, die sie in der Bibliothek las, aber sie wusste, dass wenigstens etwas zu ihrem Großvater zu finden sein musste. Sie hatte von ihren Nachbarn oft gehört, dass er früher ziemlich bekannt gewesen war. Er selbst sprach nicht darüber, und die anderen wussten anscheinend nicht mehr darüber.

Sie war unheimlich neugierig auf das, was sie erfahren würde, aber sie fragte sich, ob es unhöflich war, jemanden zu stören, der gerade erst angekommen war. 

"Jetzt oder nie!", hörte sie Marie sagen, atmete tief ein und klopfte an. Sie wartete auf eine Antwort, stattdessen ging die Tür auf und sie stand vor einer Frau, die sie auf ein paar Jahre älter als ihren Großvater schätzte. Sie sah freundlich aus, trotzdem war Marietta noch mulmig zumute. Sie hatte sich auf das Gespräch vorbereitet und war es mehrmals im Geiste durchgegangen, hatte sich die Fragen überlegt, die sie stellen wollte. Sie wollte so viel wie möglich über die Vergangenheit ihrer Familie herausfinden.

"Guten Morgen", grüßte sie zaghaft. Die Frau grüßte zurück und fragte dann: "Du bist das Werren- Mädchen, oder?" Marietta nickte überrascht. Sie hatte sich oft in der Stadt über sie erkundigt, aber sie
hätte nie gedacht, es auch zu ihr durchdringen würde.

"Ja. Ich bin Marietta Werren"


"Mein Name ist Kera Freyas. Du kannst gerne hereinkommen. Meine Aufzeichnungen sind schließlich im Zimmer." Sie trat beseite, ließ Marietta eintreten und deutete dann auf einen Tisch in einer Ecke des Zimmers. Sie ging darauf zu, während Kera aus ihren Reisetaschen ein Buch herausholte, das alt aussah und von dem manche Seiten lose zu sein schienen. Als sie sich genauer umsah, bemerkte sie, dass es nur wenig Gepäck gab. Sie hatte sich weit mehr Bücher und anderes vorgestellt, zum Beispiel solche, die Geschichten von Familien erzählten, an dessen Namen sich kaum noch jemand erinnern kann. Sie begutachtete das Buch, das Kera in der Hand hielt. Mehr sollte über ihre Familie nicht zu
finden sein?

"Es ist mehr, als es aussieht, glaub mir" Kera setzte sich ihr gegenüber auf den Stuhl. Als sie das Buch aufschlug, sah Marietta ganze Seiten von ihr unbekannter Namen, zu jedem nur wenige Notizen. Dann schlug Kera das Buch auf einer Seite am Ende des Buches auf. Dort stand der Name 'Werren', und darunter wenige Stichwörter. 

"Ist das wirklich alles?" 

"Ja. Die Familie Werren gibt es erst seit wenigen Generationen. Kaum jemand von ihnen hat je wirklich Geschichte geschrieben, außer Emilio Werren. Das müsste dein Großvater sein. Durch ihn konnte man viele Mörder festnehmen, die sonst vielleicht nie gefunden worden wären. Er konnte Seelen von Ermordeten in ihre Tagebücher oder in leere Notizbücher bannen. Sie konnten so Kontakt zu ihrer Umwelt aufnehmen und oft auch den Namen ihres Mörders nennen. Außerdem konnten sich die Verwandten und Freunde so von der Person verabschieden. Verbrannte man das Buch, war die Seele wieder frei. Das einzige Problem ist, dass viele Familien dies nich taten, und ich bin mir sicher, das viele immernoch diese Bücher haben und sich nicht davon lösen können. Aber das sind andere Geschichten."

Marietta sah sie enttäuscht an. Dann fiel ihr etwas ein. Ihr Großvater wollte mit ihr nie über seine Vergangenheit reden. Was sie aber jetzt gehört hatte, fand sie nicht so schockierend, um es unbedingt geheimhalten zu wollen. Warum also? Sie hatte von den anderen Dorfbewohnern auch gehört, dass er seit vierzig Jahren kaum Magie mehr benutzt hatte. Das war sogar noch vor der Geburt ihres Vaters.

"Und warum hatte er vor Jahrzehnten damit aufgehört?"

"Es gab damals ein Gerücht, das seinen Ruf vollkommen zerstört hat. Hat dein Großvater dir mal erklärt, was bei eurer Büchermagie ein absolutes Tabu ist?" Marietta müsste nicht lange überlegen. Sie kannte es, seit sie klein war.

"'Du kannst jede Person aus den Geschichten herauslesen, die du magst, aber niemals Menschen, die leben oder gelebt haben.'" Kera nickte. "Für die meisten ist es sehr leicht einzuhalten, sie haben nicht genug Kraft, es überhaupt zu versuchen. Aber dein Großvater hatte sehr starke Magie. Seine Schwester war seit ihrer Kindheit schwach und kränklich. Dass sie ihr achtzehntes Lebensjahr erreichte, war ein Wunder. Es ist wie gasagt nur ein Gerücht, aber viele hatten behauptet, dass er kurz nach ihrem Tod eine Geschichte geschrieben und sie so wiederbelebte hatte. Es muss damals allerdings ein Fehler passiert sein, und sie starb kurz darauf noch einmal. Falls man denn den Leuten trauen darf und es sich überhaupt so ereignet hat."

Jetzt war sie geschockt. Das hätte sie nie erwartet, aber das konnte der Grund sein, warum er mit niemanden darüber redete.

"Wurde er damals bestraft?"

"Nein, denn es wurden nie Beweise gefunden. Aber sein Ruf war zu geschädigt, und er bekam nie wieder Kunden. Er zog sich zurück, und man hörte nicht mehr von ihm." Kera schlug das Buch wieder zu, und Marietta stand auf, um zu gehen, denn das schien alles zu sein. Aber die Gelehrte hielt sie zurück.

"Warte. Es gibt noch andere Dinge, die du sicher wissen willst." Marietta sah sie erstaunt an. "Ich dachte, es gibt nicht mehr Informationen über meine Familie?" 

"Nicht über die Familie Werren, aber diese Familie stammt von einem Clan ab, der besonders unter den Älteren bekannt ist. Heute gibt es kaum noch etwas über sie zu finden, nur Leute wie ich, die dieses Wissen seit Jahrhunderten in ihrer Familie haben, besitzen noch Aufzeichnungen dazu." Sie holte ein anderes Buch, welches älter als des Erste aussah, und schlug es auf. 

"Die Familie hieß Libreia. Sie hatte viele berühmte Büchermagier hervorgebracht. Eine Besonderheit war, dass die ältere Generation sofort ihre Fähigkeiten verlor, hatte jemand in der nächsten sie vererbt. Es war so etwas schwer, das Wissen weiterzugeben, aber wenn man ihren Erfolg betrachtet, muss es kein zu großes Problem gewesen sein. Außerdem konnte niemand je sagen, nach welchem Muster die Gabe vererbt wird. Sie konnte manchmal drei Generationen überspringen, nur um dann fünf Generationen hintereinander aufzutreten. Es gab auch in nur Buchmagier, auch wenn sich das Blut mit Feen- oder Engelsblut vermischte, es gab nicht einen, der eine andere Magie beherrschte. Manche hatten ähnliche Fähigkeiten wie dein Großvater und bannten Seelen und Bücher. Eine von ihnen, sie hieß Amilia, konnte für jemanden eine Geschichte schreiben und ihn so äußerlich verändern, zum Beispiel dessen Augenfarbe. Andere waren sogar stark genug, in Geschichten zu reisen, von dort seltene, wertvolle Dinge mitbringen und diese teuer verkaufen. Nur eine Sache hatten alle beherrscht: sie konnten Figuren aus den Büchern herauslesen. Und wo wir dabei sind: Marietta, was ist deine Magie?" Die Angesprochene schreckte etwas zusammen. Sie war völlig in der Vergangenheit vertieft gewesen und die Frage kam unerwartet.

"Ich kann Personen aus Büchern holen, auch aus meinen eigenen, und darüber hinaus auch deren Gestalt annehmen, aber nur ihr Gesicht und Haarfarbe. Ich kann außerdem mit anderen in ihren Gedanken sprechen, das ist aber nicht wirklich angeboren..."

"Erzähl ihr von mir", forderte sie Marie auf. Marietta entschloss sich, sie einfach zu ignorieren.

"Du hast eine Art von Magie, die nichts mit Büchern zu tun hat?" Kera sieht überrascht von den Aufzeichnungen auf, mit denen sie gerade ihre Notizen ergänzt hat.

"Ja, aber ich kann es nicht schon seit meiner Geburt, ich habe es später... sozusagen erlernt."

"Wie?"

"Jetzt wo sie schon danach fragt, kannst du es auch sagen." 

"Ähm... mein Großvater hat für mich, als ich klein war, eine Geschichte geschrieben, und die Heldin sollte ich so herauslesen, dass sie mich verändert, so ähnlich wie es diese Amilia geschafft hat. Das hat mehr oder weniger funktioniert, und so bekam ich, wie das Mädchen aus der Geschichte, diese Fähigkeit." Kera hatte ihren Kopf bereits wieder gesenkt und schrieb die letzten Informationen und das Buch. Als Marietta nicht mehr das Gefühl hatte, dass sie sie unterbrechen könnte, stellte sie eine Frage:

"Warum gibt es diese Familie Libreia nicht mehr?"

"Die letzte Generation bestand nur aus Frauen, und der Name ging verloren. Eine von ihnen, Sarah, die auch die Familie Werren gründete und die Begabteste dieser Generation war, wollte nicht, das neuen Familien im Schatten der Libreias standen und versuchte, so viele Aufzeichnungen wie möglich übersie zu vernichten. Nur Familien wie meine haben noch ausführliches Wissen über sie, und das werden wir auch nie weggeben." Im Zimmer herrschten nun ein paar Minuten Stille, beide waren in den alten Geschichten versunken. Dann stand Marietta auf.

"Ich danke Ihnen. Das alles hätte ich in keiner Bibliothek der Welt gefunden." Kera erhob sich jetzt ebenfalls. "Auf keinem anderen Grund reise ich schließlich durch das ganze Land. Bevor ich es vergesse, du besuchst doch die Spiegelakademie, oder?" Marietta nickte. "Mein Großvater sagte, ich solle so versuchen, meine Magie zu verbessern, und wir sollten die alten Traditionen brechen und unser altes Wissen nicht nur in der Familie weitergeben, sondern es mit anderen teilen und von den anderen neues lernen."

"Da hat er Recht. Seit Sarahs Generation hatte die Familie kaum noch Glück, es wurden kaum noch Büchermagier mit besonders starken Fähigkeiten geboren." Kera brachte sie zur Tür und sie verabschiedeten sich. Vor dem Gasthof dachte sie noch mal darüber nach, was sie erfahren hatte. Vielleicht sollte sie es sich aufschreiben, sobalt sie zu Hause war. Gedankenverloren nahm sie ihr Medaillon in die Hand. Sie hatte es von der ersten Figur erhalten, die sie aus einem Buch geholt hatte. Das war damals das dickste Buch gewesen, das sie je gelesen hatte. ihr Großvater hatte nie gesagt, woherer es hatte, aber er musste es von einem seiner Kunden bekommen haben. Es hatte keinen Titel. Die Hauptperson, Aero, hatte sie sofort gemocht. Er war in ihrem Alter gewesen. Das Medaillon was eine winzige Spieluhr, die er für sie gemacht hatte. Er war geschickt gewesen und hatte die kleinsten Bauteile ohne große Mühe zusammengefügt. Das war vielleicht eines der Dinge, von denen Kera gesprochen hatte, solche die man sonst nirgentwo bekommen kann. Als sie das Buch zu Ende gelesen hatte und er verschwand, war sie monatelang traurig gewesen und hatte nicht einmal gelächelt. Wenig später war sie an die Spiegelakademie gekommen, umd vor ihrer Abreise hatte ihr Großvater ihr erklärt, dass es einen zweiten Band gibt. In dem ist Aero um die zwanzig Jahre alt. Er sagte, dass wenn sie stark genug ist, ihn länger in der richtigen Welt halten kann als nur über das Ende des Buches hinaus. Sie wollte spätestens mit zwanzig stark genug dafür sein, auch wenn ihr Großvater sagte, dass sie sich gedulden solle. 

Sie blieb noch etwas in der Stadt und machte sich dann auf den Heimweg, während sie dem Lied der Spieluhr lauschte. Irgendwann würde sie sicher stark genug sein.  

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