Die spiegelnde Klarheit
Ich weckte ihn wie jeden Morgen auf. Einer meiner vielen Aufgaben. Früher war das nicht so. Da hatten wir lediglich unsere eine Aufgabe. Jetzt stecken sie uns in alles hinein. Und unsere eine Aufgabe wurde zu vielen Aufgaben. So war es.
Ich klingelte irgendein Lied, dass er in mich eingespeichert hatte, welches war ihm ziemlich egal. Er war so ein Schlafpelz und kam morgens so gar nicht aus dem Bett.
„Ich sag dir jeden Tag, iss nicht so viel zuckerhaltig Süßes. Ich sag dir jeden Tag, du kommst morgens deswegen nie aus dem Bett." bemerkte ich. Wäre ich einer von ihnen, würde ich vielleicht einen vorwürfigen Ton in diese Worte hineinlegen, aber diesen Wesen Vorwürfe zu machen, war nicht meine Aufgabe.
„Und jeden Tag scheiß ich auf deinen Rat..." brummte er verschlafen in sein Kissen, aber er bewegte sich ein wenig. Die beste Methode ihn wach zu kriegen, war immer noch mit ihm zu reden. Das hab ich bemerkt, seid wir miteinander reden. Das diese Wesen dazu in der Lage sind, mit uns zu reden, wusste ich nicht, bevor ich mit einem anfing zu reden. Wahrscheinlich wusste er es auch nicht, bevor er anfing, mit einem von uns zu reden.
Er war so ein Schlafpelz und kam morgens so gar nicht aus dem Bett. Schlau, ja, aber langsam. Er aß einfach zu viel Zucker und kam morgens so gar nicht aus dem Bett.
Ich weiß nicht, wie dieses Zucker schmeckt, aber das zu wissen, ist zum Glück auch keins meiner Aufgaben.
Er hob seinen zerzausten Schopf und blickte sich in seinem Zimmer um.
„Wie spät haben wir...?" fragte er.
„Es ist 7:04 spät. In 19 Sekunden ist es 07:05 spät." antwortete ich, worauf er sich wieder in sein Kissen fallen ließ.
„Ich hab doch noch ne halbe Stunde!" brummte er.
„In einer halben Stunde fährt dein Bus ab, denn es ist 07:05 spät."
Er hob wieder seinen Kopf und gab mir einen nervigen Blick. Ich verstand, weil wir uns langsam immer besser verstanden.
„Tut mir Leid. Es ist zu einer angewöhnten Gewohnheit geworden. Diese ganzen Wiederholungen, kommen von ganz alleine. Hatte ich mich schon entschuldigt? Es tut mir Leid." sagte ich.
„Du hast echt Zwangsneurosen..." erwiderte er augenrollend. „Das ist bloß meine..."
„Aufgabe! Ich weiß! Meine Güte, ich werds noch bereuen, mich mit dir Unterhalten zu können!" ging er meiner Begründung dazwischen.
Ich verstand nie, warum er sich aufregte. Das war meine Aufgabe. Ich gab sie alle wieder, ich reflektierte sie alle, denn das war meine Aufgabe.
Ja, manchmal war das ein wenig anstrengend, vor allem das ganze Wiedergeben ging einem manchmal an die spiegelnden Gläser, (immerhin zerkratzen sie schnell und immerhin ist es nicht einfach mit einem zerkratzten Glas seine Aufgabe zu erledigen), aber das war nun mal meine Aufgabe. Nichts anderes mochte ich mehr und nichts anderes mochte ich weniger.
Langsam hob er mich auf und blickte in mich. Seid er so eine dünne Folie auf meine Scheibe geklebt hatte, konnte ich ihn viel besser widerspiegeln. Seid er so eine dünne Folie auf meinen Bildschirm geklebt hatte, war er viel leichter widerzuspiegeln. Er lächelte lächelnd in mich hinein. Ich lächelte lächelnd für ihn zurück. Das war meine Aufgabe.
Er erhob sich endlich aus dem Bett und machte sich dran, sich umzuziehen. Sich umzuziehen fiel ihm ganz einfach und er brauchte nicht lange. Nicht lange brauchte er auch nicht im Bad. Im Bad war er ganz schnell wieder draußen. Draußen war er dann auch schon in den nächsten Minuten mit mir in seiner Tasche. In seiner Tasche war ich nie allzu lang. Allzu lang konnte er nicht ohne mich sein. Sein ein und alles, war wohl ich.
Ich begutachtete die Umgebung, als ich wieder an der kühlen Luft war, während er viele meiner Funktionen benutzte. Nützlich war ich ja wirklich.
Wir wurden plötzlich von einer älteren seiner Art angerempelt. Er wurde sofort unsicher, und wurde sofort distanziert. Er gab dem alten Wesen einen kalten Blick und gab dem alten Wesen eine murmelnde Entschuldigung.
„Die hat voll gemein geguckt... Hast du das gesehen? Sicherlich hält die mich für einen unverschämten Jungen..."
Er traute sich nie auf Menschen zu zugehen, obwohl er so schlau war. Aber die schlausten Menschen haben die größten Macken. Wenn du nicht handeln kannst, wie jeder Mensch es tut, dann handle, wie kein Mensch es kann. Das gehörte wohl zu deren Aufgabe.
Er widmete sich wieder mir zu. Ich widmete mich dem Wesen, dass uns anrempelte zu. Es griff in die Tasche und zückte einen Kollegen von mir heraus. Ich nickte ihm zu. Er nickte mir zu.
Das ältere Es ließ sich reflektieren von meinem Kollegen und begutachtete die Frisur in meinem Kollegen. Rechts von mir war eine Sie und ließ sich von einem Werbespiegel spiegeln. Spiegeln ließ sich auch ein anderer Er links von mir.
Diese Wesen waren verrückt nach uns. Sie bekamen einfach nicht genug von uns. Als gäbe es nichts anderes außer uns. Es war schmeichelnd. Schmeichelnd war es wirklich! Wie sehr man uns mochte, mochte uns nur schmeicheln. Doch glaubte ich nicht wie alle anderen meiner Art, dass wir es waren, die sie so mochten. Denn glaubte ich nicht wie alle anderen meiner Art, dass wir es sind, die sie so vergötterten.
Wir gaben sie wieder. Wir gaben immer wieder, was wir vor uns hatten. Wir gaben also sie wieder. Wir waren es also nicht, die sie so liebten, sondern unsere Aufgabe. Von unserer Aufgabe bekamen sie nicht genug. Von sich selbst bekamen sie nicht genug.
Spiegel spiegelten nun mal verspiegelt, das was sie sahen spiegelnd wieder.
Das war nun mal unsere Aufgabe. Aufgaben gibt man auf und man gibt sich für sie auf, bis man die Aufgabe jemandem anderen aufgibt, die Aufgabe aufgibt oder die Aufgabe beendet. So war es, und so sollte es ein, denn so war es.
Sie liebten nicht uns, denn sie liebten sich selbst und sie liebten nicht uns. Sie liebten unsere Spiegelungen, denn das war unsere Aufgabe. Sie standen vor uns, aber standen vor sich selbst.
Sein Nuscheln ließ mich aufhorchen.
„Mann... Dieser scheiß Typ guckt voll arrogant! Nervt der mich! Findet sich wohl cool in seinen Markenkleidern und mit seinem Iphone!" Mich nannte man „Samsung". Ich schien nicht so begehrt zu sein, wie dieses Ei. Aber mir darüber Gedanken zu machen, war nicht meine Aufgabe.
Ich blickte herüber zu ihm. Sein Blick war ganz normal. Er schaute Meinen nicht mal an. So was passierte sehr sehr sehr oft. Meiner war sehr sehr sehr kalt zu den Wesen, die er nicht kannte. Manchmal dachte ich, dass jeder Mensch sehr sehr sehr arrogant in den Augen von ihm ist und er sich deswegen so fern von ihnen hielt, so schüchtern war, so wenige Freunde hatte. Aber so etwas zu analysieren, war nicht meine Aufgabe.
Nach kurzer Zeit kam der Bus. Wir stiegen ein und saßen uns auf einen Einzelsitz. Von hinten sah er ein Wesen des Gegensatzes. Eine Sie. „Mann... Sieht die gut aus..." flüsterte er mir zu.
„Dann geh und geh und sprich sie doch an." meinte ich.
„Spinnst du...? Die steht sicherlich nicht auf Typen wie mich... Guckt doch, wie eingebildet die guckt... Die will doch nur was mit reichen Typen zu tun haben..."
„Oh weh, oh weh! Mein Glas tut weh!" antwortete ich darauf.
„Bist du jetzt auch noch Dichter geworden? Du wirst ja immer verrückter..." rollte er wieder die Augen.
„... Sieht sie mir nicht ganz freundlich aus? Ja. Sieht sie mir nicht ganz sympathisch aus? Ja. Sieht sie mir nicht ganz bescheiden aus? Ja." sagte ich zu ihm.
„Was weiß ein Handyspiegel schon! Du hast doch keine Ahnung! Die sieht gut aus, aber innerlich ist sie sicherlich eingebildet bis zum geht nicht mehr!" erwiderte er.
Ich sah herüber zu ihr. Sie saß sehr sympathisch sitzend so da. Voller lieblicher Liebreiz und klar erkennbar mit weichem und warmem Herzen.
Ich sollte mir nicht meine Gläser an diesem rätselhaften Wesen, dem ich gehörte, zerbrechen. Es war nicht meine Aufgabe.
Nicht lange und er stieg wieder aus, ihr auf dem Weg keinen Blick schenkend. Wir gingen heute aus dem Haus und jetzt kamen wir wieder in ein Haus. Seine Schule, wie er es nannte. Seine Schule, die spiegelfreie Zone, wie ich es nannte. Seine Schule, die Entzugsanstalt, wie er sie nannte. Seine Schule, die Taschenzeit, wie ich sie nannte.
Die restliche Zeit würde ich in seiner Tasche hocken und hocken und hocken. Da musste ich fast jeden Tag durch. Hier konnte man noch nicht mal seine Aufgabe erledigen.
Und ich hockte. Und ich hockte. Und ich hockte. Ohne Aufgabe.
Ich kniete in der dunklen Finsternis, in der finsteren Dunkelheit. Ich spiegelte nur die düsteren Schatten wider, die schattige Düsternis.
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