Mariahs Absturz *2*

Als Alany nachts bäuchlings auf ihrem Bett lag und versuchte, über ihre Begegnung mit Milan nachzudenken, blockierte ihr Kopf zunächst. Sollte sie überhaupt über ihre Gefühle nachdenken? War es nicht besser, ihren Gefühlen freien Lauf lassen? Etwas in Alany sträubte sich dagegen, die Kontrolle über ihre Gefühle aufzugeben. Plötzlich fühlte sie sich, als würde sie ohne Fallschirm aus einem Hubschrauber springen. 

In diesem Moment wurde Alany klar, dass sie Jamies helfende Hand, die sie all die vergangenen Jahre hinweg begleitet hatte, loslassen musste. Von nun an würde sie alleine entscheiden müssen. Seufzend knüllte sie ihr Kissen zusammen und schloss die Augen. Erwachsenwerden war die größte Katastrophe, die es auf Erden gab. Auf einmal spürte Alany doch das Verlangen, mit ihrem Vater zu reden. Nicht über Milan, denn das wäre peinlich, sondern über Jamies Gefühle als Jugendlicher, über seine Träume und Erwartungen, über seine erste große Liebe....

Moment mal, hatte Jamie überhaupt eine erste große Liebe gehabt oder war er nur mit Mädchen ausgegangen, um Spaß zu haben? Was hatte er für ihre Mutter... Oh, oh. Alany merkte deutlich, dass sie an einem kritischen Punkt angelangt war. Normalerweise verdrängte sie das Thema, aber nun hatte ihr Gedankengang sie unabsichtlich dorthin geleitet. Viel hatte Jamie ihr nicht über ihre Mutter erzählt und ehrlich gesagt hatte sie nie das Bedürfnis verspürt, mehr über sie zu erfahren. Immer wenn sie an ihre Mutter dachte, wurde sie wütend und traurig, denn diese mysteriöse "Joanna Angel" hatte sie nach ihrer Geburt im Stich gelassen.

EIn Stück weit verstand Alany die Entscheidung ihrer Mutter, denn welche Siebzehnjährige schlug sich gerne mit einem Baby herum, während ihren Altersgenossinnen die Welt offenstand? Allerdings hatte sogar Jamie es geschafft, sich um sie zu kümmern, obwohl er erstens männlich, zweitens eine totale Niete im Haushalt und drittens der Jamie war, der sich vom Schulhof-Casanova in einen Vater verwandeln musste.

Von Richard und Carolines Unterstützung einmal abgesehen, hatte Jamie sich bemüht, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dabei hatte er zwar nicht immer eine gute Figur gemacht (Tante Caroline erinnerte sich nur zu gerne an den Tag, an dem Jamie aus Versehen Backpulver statt Waschpulver in die Waschmaschine gegeben hatte), doch zumindest hatte er es versucht. Joanna dagegen war nach ihrer Geburt sang und klanglos verschwunden und hatte sich seitdem nicht mehr gemeldet. Wahrscheinlich war es besser so, denn eine Frau, die nichts mit ihr zu tun haben wollte, konnte Alany gestohlen bleiben. "Joanna Angel"- schon allein der Name klang farb- und bedeutungslos. So irreal wie ihre Mutter. Am besten, sie dachte nicht weiter über Joanna nach, sondern verbannte sie aus ihren Gedanken, wie sie es für gewöhnlich tat. Jamie war immer für sie da und das war das einzige, was zählte. 

 Plötzlich nistete sich Milan wieder in Alanys Gedanken ein und sie sah sein Gesicht vor ihrem inneren Auge. Sofort machte ihr Herz einen kleinen Hüpfer. „Verliebt zu sein ist so lächerlich, wie es in den Teeniefilmen aussieht", dachte sie sich, doch sie versuchte nicht, Milans Bild aus ihrem Kopf zu verdrängen. Immerhin schien er kein Vollidiot zu sein, der ein Mädchen nach dem anderen abschleppte. Nichtsdestotrotz fürchtete Alany sich. Fürchtete sich, dass Milan nichts für sie empfand, Angst, dass sie verletzt werden könnte, Angst dass sie es vermasselte... Angst, Angst, Angst... 

„Warum gilt Verliebtsein als das schönste Gefühl der Welt, wenn es einen so unsicher macht?", überlegte Alany und umklammerte ihr Kissen. Wie nett wäre es, wenn sie wieder das wilde Kind sein könnte, das Jungs nur als Nervensägen gesehen hatte, die man am besten mit einer Videospielkonsole ruhigstellte.

Das Abendessen verlief schweigsam. Anscheinend wollte Jamie es vermeiden, in ein Fettnäpfchen zu treten, um nicht als klatschsüchtiger Vater da zu stehen. Alany störte sich nicht an der Stille, da sie mit den Gedanken woanders war. Wo genau wusste sie selbst nicht, doch es war weit genug weg um zu übersehen, dass Jamie Pfeffer statt Basilikum auf ihre Spaghetti geträufelt hatte.                                                                                                                                          

Da weder Alany noch Jamie nach dem Abendessen Lust verspürten, Smalltalk zu führen oder sich weiter anzuschweigen, verzog Alany sich auf ihr Zimmer und zog ihren Schlafanzug an. Währenddessen öffnete Jamie dem ploppenden Geräusch nach zu schließen eine Weinflasche, als das Telefon klingelte.

„Dieses vermaledeite Teil klingelt immer, wenn man es am wenigsten gebrauchen kann!", hörte Alany ihren Vater fluchen und konnte sich bildlich vorstellen, wie er vor Wut einen roten Kopf bekam. Eigentlich hatte sie nicht vor zu lauschen, doch sie war neugierig. Als Alany sich am oberen Treppenabsatz zusammenkauerte, hatte Jamie bereits den Hörer abgenommen. „Du bist es!", seufzte Jamie und wickelte sich das Telefonkabel um den linken Mittelfinger. „Ja, ok." Alany unterdrückte ein Gähnen. Vermutlich war Tante Caroline am anderen Ende der Leitung und erteilte Jamie Anweisungen zur Haushaltsführung.

Alany wollte sich gerade in ihr Zimmer zurückschleichen, als Jamie laut schnaubte. „Sie hat was? Ist dieses Mädchen noch bei Sinnen?"

Alany zuckte zusammen, fing sich jedoch rasch und wagte sich an den Treppenabsatz zurück.

„Tut mir Leid, Richard, das ist kein Ausrutscher. Und nein, ‚Ich bin ein Teenager' rechtfertigt so ein Verhalten nicht." Jamie hörte seinem Bruder eine Weile lang zu, wobei er nervös mit dem Telefonkabel spielte. „Ja, ich verstehe", erwiderte er schließlich.

Alany wurde beinahe fuchsteufelswild, weil sie nur den halben Teil der Unterhaltung mitbekam. Warum gab Jamie Wortfetzen von sich, die für sie keinen Sinn ergaben?

„Ich gebe zu, ich war als Teenager der schlimmste Regelbrecher überhaupt und ja, du warst auch kein Unschuldsengel. Aber ich sehe nicht ein, weshalb unsere Fehler als Entschuldigung... Wirklich? Das ist furchtbar. Bitte richte ihr von mir aus, dass sie sich nicht aufregen soll."

Endlich schien Jamie zu einem Ende zu kommen. „Ist gut, ich komme morgen zur Krisensitzung vorbei. Was denn noch?" Nun wirkte er wieder halbwegs entspannt, denn er ließ das Telefonkabel in Ruhe. „Wie bitte? Ich bin sicher, es handelt sich um einen Irrtum! Ausgeschlossen? Aber..." Anscheinend wurde Jamie von Richard unterbrochen, denn er beendete den Satz nicht mehr, sondern schloss lediglich mit einem „Bis dann."

Als Jamie sich zur Seite drehte und für einige Sekunden fast bewegungslos in Richtung Wohnzimmertür starrte, wurde Alany klar, dass Richards Worte ihn aus der Bahn geworfen hatten. „Du brauchst dich nicht mehr am Treppenabsatz zu verstecken, Alany!", rief ihr Vater unerwartet und drehte sich zur Treppe hin. „Ich war als Kind der größte Hobbyspion der Welt, also kenne ich sämtliche Tricks. Allerdings hatte ich gehofft, dass du das Lauschen nicht nötig hast!", setzte er mit leichter Enttäuschung in der Stimme hinzu. „Du weißt, dass ich keine Geheimnisse vor dir habe."

„Ich werde dich nie mehr belauschen!", versprach Alany und richtete sich auf. Filmreif wirkte die Szenerie allemal. Sie oben am Treppenabsatz und Jamie mit verwirrtem Gesichtsausdruck am Fuß der Treppe.

„Ich sag es dir besser gleich, da es keinen Sinn hat, es dir zu verheimlichen." Jamie sah besorgt drein. Alany befürchtete, sie würde vor Neugier platzen, wenn er nicht sofort mit der Sprache herausrückte. 

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