Liebe ist wie Bungeejumping *5*
Als Alany vor dem Krankenhaus stand, fiel ihr auf, dass sie Tianas Zimmernummer nicht kannte. Da sie auf keinen Fall ein zweites Mal auf die hysterische Empfangsdame treffen wollte, schickte sie nach kurzem Überlegen eine SMS an Tianas Bruder Luke. Alany kam gut mit ihm aus, weshalb sie nicht überrascht war, als er unverzüglich antwortete.
Alany schlich durch die Eingangshalle, um nicht von Karen gesehen zu werden, denn die unfreundliche Rezeptionistin würde sie mit Sicherheit verpfeifen. Dank Milan kannte Alany den Weg zur Intensivstation und ihre Gebete, auf keine Ärzte oder Krankenschwestern zu treffen, die sie aufhalten könnten, wurden erhört.
Es stellte sich heraus, dass Tianas Zimmer am anderen Ende des Ganges lag. Um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, klopfte Alany laut und deutlich an. Zu ihrer Überraschung hörte sie kurz darauf ein schwaches, jedoch freundliches „Herein".
Alany zögerte, das Zimmer zu betreten, denn sie hatte Angst vor dem, was sie erwartete. Als sie Mariah besucht hatte, hatte Milan ihr beigestanden, doch dieses Mal war sie auf sich allein gestellt. Nachdem Alany einmal tief durchgeatmet hatte, öffnete sie die Tür und trat ein.
Tiana saß auf ihrem Bett wie ein Häufchen Elend und sah nur kurz auf, bevor sie den Blick erneut senkte. „Warum sagst du mir nicht ins Gesicht, was du denkst", flüsterte sie so leise, dass Alany es kaum verstand. „Du musst kreativ sein, um ein Schimpfwort zu finden, dass mir meine Mutter noch nicht an den Kopf geworfen hat."
Alany schwieg und setzte sich zu ihrer besten Freundin aufs Bett. Vorsichtig nahm sie Tianas Hand und drückte sie. „Ich bin nicht hier, um dich zu verurteilen", sagte sie mit sanfter Stimme und lächelte. Um ehrlich zu sein, hatte Alany tatsächlich vorgehabt, Tiana die Meinung zu sagen, doch sie brachte es nicht übers Herz.
„Ich vermisse dich." Alany schluckte.
„Ich dich auch", flüsterte Tiana, die Augen auf ihr Kissen gerichtet. „Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe." Sie schwieg und eine einzelne Träne lief ihre Wange herunter.
„Es ist hart mit einer alleinerziehenden Mutter und vier älteren Brüdern aufzuwachsen", murmelte Tiana und begann am ganzen Körper zu zittern. Alany wickelte die Bettdecke um ihre Freundin und schüttete ihr eine heiße Tasse Tee aus der Termoskanne, die auf der Kommode stand, ein. Alany öffnete den Mund, um etwas Tröstendes zu sagen, doch Tiana war schneller.
„Mutter hat mich in Grund und Boden geschrien und überall herumerzählt, was für eine Schande ich bin. Danny hat mir schriftlich zu meiner ersten Alkoholvergiftung gratuliert und Dad hat nicht mal angerufen." Plötzlich stieß Tiana Alany von sich weg und vergrub ihr Gesicht unter der Decke. „Dabei hatte ich nicht vor, mich zu betrinken. Ursprünglich habe ich nur einen kleinen Abstecher in die Bar gemacht, um Leo, den süßen Typen, den ich neulich in der Stadt getroffen habe, zu sehen. Er arbeitet dort als Kellner, aber an dem Nachmittag hatte er frei. Stattdessen habe ich Mariah dort getroffen und sie... Sie hat mir ins Gesicht gesagt, was für ein Weichei ich im Gegensatz zu meinen Brüdern bin und dass ich nie so beliebt sein werde wie sie. Dann hat sie einen Martini bestellt, ihn mir unter die Nase gehalten und ‚Zeig mir, dass du mehr aushältst, als man dir zutraut. Oder willst du für den Rest deiner Zeit an der Schule ein Warmduscher bleiben?", zugeflüstert."
Tiana schniefte. „Ich weiß, dass es falsch war, aber nach dem ersten Drink hat mich der Ehrgeiz gepackt. Ich wollte Mariah zeigen, dass sie der Loser ist, und nicht ich. Also hab ich sie zu einem Wetttrinken provoziert. Der Barkeeper findet es anscheinend lustig, wenn Jugendliche sich besaufen, denn er hat weder nach unseren Ausweisen gefragt, noch hat er uns aufgehalten. Du musst mir glauben, Alany, ich wollte das alles nicht. Es ist bloß- ich möchte nicht mein Leben lang das brave Mädchen von nebenan bleiben. Ich werd schon zu Hause gezwungen, die perfekte Tochter zu spielen und das ist ätzend." All das war aus Tiana herausgesprudelt wie aus einem Wasserfall und sie holte erst Luft, nachdem sie geendet hatte.
Alany war froh, dass ihre Freundin sich ihr von selbst anvertraute, weil ihr so das Nachhaken erspart blieb. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie Verantwortung für Tiana trug. Wenn sie jetzt etwas Dummes sagte, tat sie Tiana weh. „Deine Mutter sollte dir erlauben, Fehler zu machen", flüsterte Alany und nahm ihre Freundin in den Arm. „Niemand ist perfekt. So gut wie alle Teenager betrinken sich mal, du bist kein Sonderfall."
Tiana zog schniefend die Nase hoch, bevor sie sich aus Alanys Umarmung löste. „Du bist perfekt, Lenny, weil du keine Lust hast, auf die Pauke zu hauen und dir ein Bier zu schnappen. Du bist intelligent und wunderhübsch und Jamies Nummer eins. Ich dagegen hab gar nichts." Mit herabhängenden Mundwinkeln umklammerte Tiana ihr Kissen.
„Quatsch", schaltete Alany sich sofort ein. „Deine Mutter liebt dich mehr als alles andere auf der Welt."
„Und warum zeigt sie es nie?", konterte Tiana, wobei sie das Kissen immer fester an sich drückte.
Alany seufzte. „Ich schätze, Pauline ist der Meinung, dass nur hartgesottene Frauen in dieser Welt überleben", startete sie einen zaghaften Erklärungsversuch. „Zuerst hat sich der Vater von Julian und Luke davongemacht und sie hat wahrscheinlich alle Hoffnungen in die Beziehung zum Vater von Danny, Max und dir gesteckt."
„Und die ging ebenfalls in die Brüche. Ich verstehe, worauf du hinauswillst." Tiana klang wütend.„Arme Mutter. Ihr Traum vom perfekten Leben mit Karriere, Musterehemann und Vorzeigekindern ist geplatzt. Aber anstatt es mit Würde zu nehmen, lässt sie ihre schlechte Laune an uns aus! Vielleicht wären meine Brüder keine Idioten, wenn sie sich mehr um sie gekümmert hätte."
„Sieh es mal so: In Paulines Privatleben ging vieles schief, während im Beruf alles wie am Schnürchen geklappt hat. Ich finde ihr Verhalten nicht gut, aber es ist natürlich, sich an seine Erfolge zu klammern", verteidigte Alany Tianas Mutter, obwohl sie nicht wusste, warum.
„Fällt denn niemandem auf, dass ihr Karrierewahn ihr Privatleben ruiniert?", konterte Tiana und bohrte ihre Fingernägel ins Kissen, als wolle sie es aufschlitzen. „Ich gebe zu, dass mein Vater ein Fehlgriff war, aber Julians und Lukes Vater ist nett. Mutter hat ihn bestimmt mit dem dauernden Gerede über Beförderungen und berufliche Herausforderungen verscheucht."
Darauf wusste Alany keine Antwort. „Meiner Meinung nach lässt deine Mutter keine Gefühle zu, weil sie gelernt hat, sich nach außen abzuschotten. Wenn du so oft verletzt wirst wie sie, auch wenn du zum Teil selbst daran schuld bist, ist das ein Selbstschutzmechanismus. Und sie möchte dich schützen, indem sie versucht, dich auf die einzige Sparte zu trimmen, in der sie noch nie eine Niederlage erlitten hat: beruflicher Erfolg."
Zu Alanys Erleichterung widersprach Tiana diesmal nicht, sondern ließ sich diese Begründung ihrem angestrengten Gesichtsausdruck nach zu urteilen gründlich durch den Kopf gehen. Schließlich nickte sie. „Mutter hat es nicht leicht, mit uns fünfen", erwiderte Tiana nachdenklich und ließ ihren Oberkörper aufs Bett zurücksinken. „Wenn ich wieder zu Hause bin, sollten wir uns alle an einen Tisch setzen und versuchen, unsere verkorkste Familie zu reparieren."
„Deine Familie ist bei weitem nicht die einzige verkorkste", tröstete Alany ihre Freundin und rutschte an den Bettrand, damit Tiana es sich gemütlicher machen konnte. „Du hast zu tief ins Glas geschaut, aber es war Mariah, die dich dazu provoziert hat. Sie war auch diejenige, die den Zirkus in der Schule veranstaltet hat. Im Gegensatz zu ihr bist du ein Engel, obwohl du viel mehr Grund hättest auszuflippen."
Ein schwaches Lächeln machte sich auf Tianas Gesicht breit. „Meine Mutter hat trotzdem kein Recht, mich als Schande zu bezeichnen", murmelte sie, während sie die Augen schloss. Die Unterhaltung hatte sie anscheinend geschlaucht.
„Dann sag ihr das", antwortete Alany, wobei sie sich wie eine Psychotherapeutin vorkam. „Rebellier nicht, ohne deiner Mutter klarzumachen, warum."
„Meinetwegen. Ach, Lenny, ich kann nicht verstehen, wie ich so doof sein konnte", nuschelte Tiana und drückte Alany an sich wie einen Teddybären, bevor sie sich wieder hinlegte.
Gerne hätte Alany Tiana von ihrer aufkeimenden Romanze mit Milan erzählt, doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Tiana hatte genug Sorgen und verdiente es, volle Aufmerksamkeit zu genießen anstatt einer Freundin Tipps in Sachen Jungs zu geben. So blieb Alany auf der Bettkante sitzen, bis Tiana eingeschlafen war.
Alany verließ das Zimmer und schloss vorsichtig die Tür hinter sich. Unglücklicherweise stieß sie auf dem Gang fast mit einer Krankenschwester zusammen, doch die machte sich nicht die Mühe, sie zur Schnecke zu machen, weil sie sich unerlaubt auf die Intensivstation geschlichen hatte.
Gut, dass Tiana im Gegensatz zu Mariah ihr Verhalten bereute. Was hätte sie tun sollen, wenn neben ihrer Cousine auch noch ihre beste Freundin abgerutscht wäre? Hoffentlich fing Tiana sich wieder und versuchte, ihre Probleme auf andere Art und Weise zu lösen. Bei Mariah sah es leider anders aus. Im Gegensatz zu Tianas Mutter hatte Tante Caroline Mariah nicht vernachlässigt und Alany zerbrach sich den Kopf darüber, warum Mariah stattdessen abgestürzt war.
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