Kapitel 5: Die Sache mit dem Alkohol *1*
In der Schule flogen Alanys Gedanken wie Feuerwerkskörper durcheinander. Einmal wurde sie sogar verwarnt, weil sie konzentrische Kreise in ihr Heft kritzelte, anstatt dem Unterricht zu folgen. Die Tatsache, dass Montag war, hatte allerdings auch ihre guten Seiten, weil Jamie unter der Woche bis achtzehn Uhr arbeitete. Folglich hatte sie genug Zeit, Tiana und Mariah einen Besuch im Krankenhaus abzustatten und wieder nach Hause zu fahren, bevor ihr Vater ihr Fehlen bemerkte. Gesagt- getan.
Alany verspürte ein Kribbeln, als sie nach einer Busfahrt quer durch die Stadt vor dem Eingang des Holy Cross Krankenhauses stand. Zuletzt war sie bei ihrer Geburt hier gewesen und sie hatte gehofft, nie wieder ein Krankenhaus betreten zu müssen. Alany hegte eine Abneigung gegen Krankenhäuser, seit sie sich mit Mariah Emergency Room und Grey's Anatomy angesehen hatte. Wenn es in Krankenhäusern auch in Realität derart chaotische Ärzte gab, hielt sie lieber Abstand. „Heimelig sieht es nicht aus!", stellte sie fest und musterte die Krankenhausfassade kritisch. Keine Farbe, keine kreativen Graffitys, kein Leben. „Nach ein paar Tagen da drinnen wird man sicherlich verrückt!", überlegte Alany, während sie das Krankenhaus betrat.
Kaum gelangte Alany in die Eingangshalle, musste sie ihre vorschnellen Äußerungen jedoch zurücknehmen. „Wow!" Die Eingangshalle war das krasse Gegenteil der fabrikähnlichen Außenfassade. Zum einen sprangen Alany die warmen Orangetöne, in denen die Eingangshalle gestrichen war, ins Auge, zum anderen die Möbel. Hätte sie das Geld gehabt, hätte Alany um eine Million Pfund gewettet, dass es kein anderes Krankenhaus gab, in dessen Eingangshalle sich derart futuristische Möbel befanden. Die Stühle und Tische erinnerten tatsächlich an den Futurismus, denn die Mischung aus knalligen Farben und originellen Formen wirkte chaotisch. Chaotisch, aber stilvoll. Alles in allem ein gelungener Kontrast zur öden Fassade. Erheitert von der freundlichen Atmosphäre begab sich Alany zum Infoschalter und stellte sich hinter einem winzigen Mann mit einem viel zu groß geratenen Regenschirm an. Als der Herr die Dame am Informationsschalter ansprach, fiel Alany die Nana-Figur auf, die sich an der linken Seite des Infoschalters befand. Auch die Figur war beinahe so groß wie der Mann. Alany schmunzelte.
„Ja bitte?" Ehe Alany sich versehen hatte, war der kleine Herr verschwunden und die Empfangsdame musterte sie mit hochgezogenen Augebrauen.
„Ich möchte meine Cousine besuchen. Mariah O'Callaghan."
Die Dame tippte etwas in ihren Computer ein. „Ich habe hier eine Mariah O'Callaghan. Allerdings sind nur ihre Eltern und ihr Onkel besuchsberechtigt", entgegnete sie und warf Alany einen hochnäsigen Blick zu.
„Diese Ziege trägt den gleichen rubinroten Lippenstift wie die Krankenschwester in Grace Anatomy, die innerhalb einer Stunde mit drei verschiedenen Ärzten geknutscht hat!", schoss es Alany durch den Kopf. Zumindest ihr Vorurteil von den Tussis am Empfangsschalter schien zu stimmen.
„Für den Fall, dass ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe: Wenn in dem Feld Besuchserlaubnis ausschließlich Erwachsene eingetragen sind, dürfen ausschließlich Erwachsene die Patientin besuchen", fügte die von Alany zur Schreckschraube eingestufte Empfangsdame hinzu und tippte etwas in den Computer ein. „Oh, eine Alkoholvergiftung! Deine Cousine hat gehörig auf den Putz gehauen, was?" Nun lehnte sich die Schreckschraube nach vorne und grinste hämisch. „Jaja, das Partyvolk heutzutage. Die eine Hälfte säuft sich ins Koma und die andere wird mit fünfzehn schwanger. Wenn du mich fragst, sollten sie die kleinen Biester alle abtreiben, anstatt sich das Leben zu versauen..."
Das war zu viel für Alany. Sie war so wütend, dass sie sich in Sekundenschnelle vom ruhigen Mädchen in einen wilden Tiger verwandelte. Mit einem Kampfschrei stürmte sie um den Empfangsschalter herum und stürzte sich auf die Angestellte. In ihrer Rage war es ihr egal, ob Jamie ihr später eine Standpauke halten würde, sie für ein paar Stunden in eine Polizeizelle gesperrt wurde oder sämtliche in der Halle wartende Senioren schockierte. Diese Möchtegern- Moderatorin einer Billigtalkshow hielt wohl alle Kinder von Teenagern für lästige Parasiten, die man ausmerzen musste. Nun gut, dann würde einer von jenen Parasiten ihr diese Einstellung gründlich austreiben.
Alany hatte sich noch nie richtig geprügelt, ein paar kleinere Raufereien mit Mariah und Alex, bei denen niemand ernsthaft zu Schaden gekommen war, mal ausgenommen. Halb so schlimm- dann bekämpfte sie diese Ziege mit ihren eigenen Mitteln. Im Detail hieß das: an den Haaren ziehen, kratzen und fauchen. Statt zu fauchen brüllte Alany allerdings, denn wenn sie ihre Krallen ausfuhr, dann richtig.
„Hilfe! Warum hilft mir niemand?", piepste die Empfangsdame und versuchte, Alany mit dem Absatz eines ihrer High Heels zu treten. Dies misslang allerdings gründlich, da sie noch halb auf ihrem Schreibtischstuhl saß, während Alany von vorne angriff.
„Nimm das zurück, Miststück!", knurrte sie und bekam den Kragen des Jacketts, das ihre Gegenspielerin trug, zu fassen.
„Niemals, du kleines Biest!"
Alany und die Empfangsdame funkelten sich böse an, doch bevor die Zimtzicke ihr noch mehr Beleidigungen an den Kopf werfen konnte, ertönte eine wohlklingende Stimme.
„Alany?"
Verwundert ließ Alany von ihrer neuen ‚Bekannten' ab. Als sie sich umdrehte sah sie, dass Milan sie verwundert anstarrte. Oh nein! Sie hätte sich ausmalen können, dass er als Sanitäter ab und zu im Krankenhaus vorbeischaute. Bestimmt hielt er sie jetzt für ein stures Kind oder für vollkommen durchgeknallt. Moment mal, er lächelte doch nicht etwa? Milans Blick setzte Alany erneut unter Strom und die feinen Härchen an ihren Armen stellten sich auf. Ihr Herz wummerte kräftig gegen ihren Brustkorb. Warum fühlte sie sich auf einmal so machtlos, obwohl sie bis vor einer Minute unbezwingbar gewesen war?
„Diese kleine Furie..." Die Empfangsdame tauchte mit zerzaustem Haar neben Alany auf und schäumte förmlich vor Wut. „Seit wann ist unser Krankenhaus ein Ort, an dem Minderjährige ungestört randalieren können? Ich werde die kleine Missgeburt wegen Körperverletzung anzeigen, ja wohl, das werde ich, ich..." Um ihrem Frust über das verlorene Kräftemessen Ausdruck zu verleihen, fuchtelte die Empfangsdame mit den Händen herum und hyperventilierte.
„Du hast Karen ganz schön drangsaliert, wie mir scheint!", stellte Milan fest und Alany sah, dass er Mühe hatte, sich das Lachen zu verkneifen.
„Chefarztsöhnchen, denk bloß nicht, dass du dir alles erlauben kannst", keifte Karen und stampfte mit dem Fuß auf. Da Milan sie ignorierte, sah sie sich Unterstützung suchend in der Halle um. Allerdings steckten sowohl das medizinische Personal als auch die Patienten ihre Nasen betont geschäftig in ihre Smartphones und Visitenbögen.
„Was ist überhaupt passiert?", fragte Milan schließlich. Seine Augen funkelten belustigt.
„Dieses Fräulein"- anscheinend versuchte Karen nun, sich besonders gestelzt auszudrücken, um zu zeigen, wie professionell und erwachsen sie war- „wollte ihre alkoholabhängige Cousine besuchen. Ich habe dies pflichtgemäß unterbunden, da nur den Erziehungsberechtigten und dem Onkel der Besuch erlaubt ist. Und nein, das Bie..., äh Mädchen, kommt auch nicht an mir vorbei, wenn du mich höflich bittest, Chefarztsöhnchen!"
Milan verdrehte die Augen.
„Entferne diese Wilde jetzt aus meinen Augen!" Mit diesen Worten stöckelte Karen zurück an ihren Arbeitsplatz.
Für ein paar Sekunden starrte Alany den Boden an, um Milans Blicken auszuweichen. Dann riss sie sich zusammen und hob den Kopf.
„Deine Cousine ist Alkoholikerin?" fragte Milan leise und trat einen Schritt näher.
„Naja", antwortete Alany zögernd und ließ den Blick über die wartenden Patienten schweifen, von denen einige sie nun neugierig musterten. Sollte sie Milan von Mariahs Ausrutschern erzählen? Oder gehörte es sich nicht, mit jemandem, den man kaum kannte, über Familienangelegenheiten zu reden?
Glücklicherweise schien Milan zu bemerken, dass Alany ihm nicht in aller Öffentlichkeit vom Absturz ihrer Cousine berichten wollte, denn er griff sanft nach ihrem Arm und führte sie aus der Eingangshalle fort.
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