Kapitel 4: Mariahs Absturz *1*
Nachdem sie von Blair zu Hause abgesetzt worden war, ließ Alany die Schultern hängen. Greg hatte sich verletzt und Milan ihre Gefühle durcheinander gewirbelt, doch Jamie war nicht da, um ihr zuzuhören. Seufzend setzte sie sich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein, um sich abzulenken.
„Erneut Überschwemmungen in Kent", ertönte die Stimme des Nachrichtensprechers und Bilder von vollgelaufenen Kellern und besorgt dreinblickenden Menschen flackerten über die Bildschirme. „Wie üblich", murmelte Alany und schaltete den Fernseher wieder aus. Überschwemmungen in Kent waren nichts Neues.
Eine Weile lag Alany auf der Couch, dann schweiften ihre Gedanken zu Milan ab. Wenn sie nur an seine gutmütigen Augen dachte. Und wie er sie angelächelt hatte...
„Hey!" Plötzlich vernahm Alany von weit her eine Stimme, die sie jedoch ignorierte, da sie auf keinen Fall aus ihren Tagträumereien gerissen werden wollte. Leider sah die Stimme das anders.
„Lenny, was ist mit dir los?" Jamie klang genervt, als er Alany zurück in die Realität holte, indem er sie an den Schultern fasste und schüttelte.
„Ich...", begann Alany sich zu rechtfertigen, doch dann verstummte sie. Darüber konnte sie mit Jamie unmöglich reden.
„Und?"
Alany sah ihren Vater verständnislos an, weil sie beim besten Willen nicht wusste, was er mit „und" meinte.
Jamies Gesicht verfinsterte sich. „Ich bin von dir enttäuscht", murmelte er nach einigen schweigsamen Momenten. „Dass du Greg vergisst, weil so ein Schönling dir den Kopf verdreht, hätte ich dir nicht zugetraut. Du hättest zumindest fragen können, wie es unserem alten Freund geht."
„Tut mir leid", erwiderte Alany niedergeschlagen. Sie schämte sich für ihr Verhalten, denn seit Greg Jamie vor Jahren aus einer prekären Lage befreit hatte, war er nicht nur Jamies bester Freund, sondern auch wie ein zweiter Onkel für sie. Damals, als sie vier Jahre alt gewesen war, hatte ihr Vater mir ihr einen Ausflug in „Alice's Kinderwunderland" unternommen. Das „Alice's Kinderwunderland" war ein riesiges Spielwarengeschäft, in dessen Regalen und Auslagen sich unzählige Bücher und Kuscheltiere türmten. Zudem verfügte das Geschäft über eine Rutsche und ein Bällchenbad, das sich prima zum Versteckspielen eignete, weshalb es Alanys Lieblingsgeschäft gewesen war.
Während Jamie sich am besagten Tag nach einem Geschenk für Mariahs sechsten Geburtstag umgesehen hatte, war es der kleinen Alany nicht in den Sinn gekommen, brav zu warten. Obwohl Jamie sie gebeten hatte, sich nicht von der Stelle zu rühren, war Alany verschwunden, als er sich schließlich nach ihr umgedreht hatte. Verzweifelt hatte Jamie den ganzen Laden nach ihr abgesucht und die Verkäuferin mit Fragen gelöchert. Allerdings ohne Erfolg, denn Alany war wie vom Erdboden verschluckt geblieben. Gerade als Jamie kurz vor einem Nervenzusammenbruch gestanden hatte, war Greg auf der Bildfläche erschienen.
Greg, der Mitleid mit dem jungen Vater empfunden hatte, hatte diesen getröstet und Informationen über Alany eingeholt, um sich besser ausmalen zu können, wo sie sich versteckt haben könnte. Nach einer kurzen Denkpause, hatte Greg verkündet, er wisse, wo Alany sich verstecke: „Ihre Lieblingssendung ist Bonanza und sie beschimpft gerne die Daltons? Dann bin ich mir sicher, wo Ihre kleine Tochter steckt." Auf Gregs Vorschlag hin hatten Jamie und er sich anschließend auf die Suche nach Lucky Luck und Jolly Jumper gemacht, denn laut Greg konnte keine Frau, die die Daltons verabscheute und die Westernserie Bonanza liebte, nein zu Lucky Luke sagen.
In der Cowboy- und Indianerabteilung des Spielwarengeschäftes waren sie tatsächlich fündig geworden. Als sie Alany entdeckt hatten, hatte sie fest geschlafen, den Arm um Lucky Luke geschlungen und den Kopf auf Jolly Jumpers weiche Seite gebettet. Jamie war so unendlich erleichtert gewesen, dass er Greg zum Essen eingeladen hatte. Nach jenem Essen und einem gemeinsamen Nachmittag, in dessen Verlauf sie ein Champions League Spiel angesehen hatten, hatten die beiden ihre Freundschaft besiegelt. Viele weitere Treffen später war die Idee für das Fußballteam der Nottingham Lions geboren worden.
Alany konnte sich zwar nicht an jenen Tag erinnern, doch Jamie hatte ihr die Geschichte inzwischen so häufig erzählt, dass sie jedes kleinste Detail der ersten Begegnung ihres Vaters mit Greg kannte. Nun, elf Jahre später, waren Jamie und Greg ein Herz und ein Seele und der sympathische Baumarktangestellte gehörte zu Alanys Leben wie der Lipgloss zu Mariahs Kulturbeutel. Aus diesem Grund war es eine Katastrophe, das Milan Greg aus Alanys Kopf verdrängt hatte.
„Wie geht es ihm?", fragte sie schließlich kleinlaut und kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Glücklicherweise machte Jamie ihr keine weiteren Vorwürfe, sondern rückte mit der Sprache heraus.
„Milan hatte Recht. Es sind ein paar Rippen gebrochen, aber ansonsten geht es Greg gut. Schätze mal, er hat Glück gehabt, denn weil er schon so alt ist, hätte noch mehr kaputt gehen können."
„Jamie Michael O'Callaghan, du bist fieser als ich dachte!", antwortete Alany und lachte. Sie war froh, dass Greg nichts Schlimmeres passiert war.
„Der Stürmer der Ladybirds wurde übrigens für die nächsten beiden Spiele gesperrt", ergänzte Jamie, wobei er ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken konnte. „Aber lass uns nun über das bahnbrechendste Erlebnis des heutigen Tages reden!", fuhr er fort und hakte sich bei Alany unter, um sie ins Wohnzimmer zu führen.
„Welches Thema ist denn bahnbrechender als Gregs Gesundheit?", fragte Alany perplex, obwohl sie eine leise Ahnung hatte, worauf ihr Vater hinauswollte.
„Dein hübscher Sanitäter", entgegnete Jamie grinsend und wies Alany an, sich auf dem Sofa niederzulassen. „Wenn du Greg deswegen vergisst, muss der junge Castle-Jones bei dir ja mächtig Eindruck hinterlassen haben."
„Ach, Paps, muss das wirklich sein?" Alany spürte, dass sie rot wurde. Jamie war unmöglich. Erst schimpfte er sie wegen ihres Interesses an Milan aus und jetzt wollte er die beste Freundin spielen und hören, wie Milan Schmetterlinge in ihrem Bauch flattern ließ. Nein, sie wollte nicht mit ihrem Vater über Milan reden. Sie ärgerte sich schon genug darüber, dass sie sich so verdächtig verhalten hatte, dass Jamie und wahrscheinlich jede andere Person im Umkreis von zehn Meilen ihre Schwärmerei mitbekommen hatte. Hoffentlich würde Jamie Richard nichts davon erzählen. Oder noch schlimmer Mariah, denn die würde sofort versuchen, sie mit Milan zu verkuppeln.
MIt hochgezogenen Augenbrauen wartete Alany darauf, dass ihr Vater ihr eine Moralpredigt über Teenagerschwangerschaften halten würde, da sie Milan auf dem Fußballplatz fünf Sekunden zu lange angestarrt hatte. Allerdings wirkte Jamie eher wie ein sensationshungriger Klatschreporter als jemand, der wütend war.
„Was gefällt dir an Milan?", bohrte Jamie nach und grinste dabei von einem Ohr zum anderen. Als Alany nicht sofort antwortete, fing er an zu zappeln wie ein kleiner Junge, der endlich seine Geburtstagsgeschenke auspacken wollte.
„Du bist keine Freundin, Paps. Mit dir über Milan zu reden ist komisch", maulte Alany. Sie sprach nie gerne über ihre Gefühle und über Jungs wollte sie erst recht nicht reden. Außerdem überforderte Jamies Frage sie. Warum fragte er sowas, obwohl sie sich erst vor ein paar Stunden in Milan verliebt hatte? Genau genommen kannte sie ihn überhaupt nicht, denn sie wusste weder, ob er Geschwister hatte noch welche Hobbies er neben seiner Tätigkeit als Sanitäter ausübte.
„Ein Sahneschnittchen ist er, das muss ich zugeben", versuchte Jamie sie aus der Reserve zu locken und versetzte ihr mit dem Ellenbogen einen freundschaftlichen Stoß. „Komm schon, Lenny, du bist verknallt und ich will wissen, wie sich das anfühlt. Ich konnte mit meinen Eltern nie über meine Gefühle reden und ich will auf keinen Fall, dass es dir genauso geht. Ich weiß, ich bin nicht Tiana, aber ein fünfzigjähriger Knacker, der jung war, als es noch Dinosaurier gab, bin ich auch nicht."
Alany registrierte den flehenden Blick ihres Vaters, doch etwas in ihr sperrte sich dagegen, mit ihm über Milan zu reden. Sie war noch nicht bereit, ihre Gefühle zu teilen. Zunächst wollte sie diese für sich selbst erkunden. Schließlich hatte sie sich noch nie auf den ersten Blick in jemanden verliebt. Das passierte doch nur in kitschigen Liebesfilmen und nicht in der Realität?
„Du weißt, dass ich dir sonst alles erzähle, aber du bist einfach nicht Tiana", erklärte Alany Jamie und umarmte ihn. „Ich liebe dich, Paps, und kein Mann auf dieser Welt wird dich je aus meinem Herzen verdrängen können, versprochen."
„Und wenn doch, dann hoffe ich, dass es einer mit Milans Knackarsch ist!", murmelte Jamie, worauf Alany ihn spielerisch gegen die Schulter boxte.
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