Kapitel 1: Aller Anfang ist schwer *1*

„Drrrrrr!" Oh nein! Alany presste mürrisch ihr Kopfkissen gegen die Ohren. Warum klingelte ihr Wecker so früh? Kaum hatte sie es geschafft, den Umzug aus ihren Gedanken zu verbannen, drängte er sich zurück in ihr Leben! Frechheit! Wieso und weshalb und warum konnte nicht alles beim Alten bleiben? Gerne hätte Alany weitergeschlafen, denn Lust aufzustehen und in Jamies euphorisches Gesicht zu sehen hatte sie nicht.

Im Erdgeschoss klapperte jemand mit dem Frühstücksgeschirr. War ja klar. An so einem aufregenden Tag hielt es ihre Familie nicht länger im Bett aus. Aufregend! Alany schnaubte verächtlich. Genau jenes nervtötende Wort hatte ihr Papa tags zuvor benutzt.

„Alex, du Trottel! Jetzt muss ich die ganzen Scherben aufkehren", ertönte plötzlich Marias schrille Stimme. Anscheinend hatte Alex einen Teller fallen lassen und wurde dafür von seiner Schwester zur Schnecke gemacht. Traurigkeit verdrängte die Wut in Alanys Bauch. Sie würde Alex und Maria vermissen, denn sie waren für sie wie Geschwister. Es hatte nie „wir und du" gegeben, sondern immer nur ein „wir". Musste Jamie sie mit dem Umzug daran erinnern, dass sie genau genommen nicht Marias kleine und Alex große Schwester war? 

Alany stiegen die Tränen in die Augen und sie schämte sich dafür. Normalerweise war sie nicht so nahe am Wasser gebaut. Vielleicht sollte sie den heutigen Tag als Ausnahme gelten lassen. Immerhin würde er ihr Leben auf den Kopf stellen. Bitten und Betteln hatte nicht geholfen, Jamie hatte sich nicht vom geplanten Auszug abbringen lassen. Warum war sie von der Entscheidung ihres Papas überhaupt so überrascht gewesen? Jamie arbeitete in einem großen Unternehmen und verdiente ziemlich viel Geld. Außerdem trainierte er ein Fußballteam. Jemand, der so erfolgreich war, wollte nicht für immer bei seinem Bruder wohnen.

„Lenny? Bist du wach?" Jamie betrat ihr Zimmer.

„Mmh..." Alany war nicht in der Stimmung sich zu unterhalten, weshalb sie ihrem Vater grummelnd den Rücken zudrehte. Leider ließ der sich nicht abwimmeln. „Warte ab, wie es dir in deinem neuen Zuhause gefällt, bevor du alles verteufelst!", versuchte Jamie ihr gut zuzureden.

„Ich weiß, dass der Umzug für dich nicht einfach ist." Jamie wandte für einen kurzen Moment den Blick ab, als ob er plötzlich von Schuldgefühlen geplagt wurde. „Ich sollte von Richard lernen, wie man seine Tochter nicht so enttäuscht."

„Du wirst nie wie Onkel Richard sein!", knurrte Alany und sprang aus dem Bett. Beinahe hätte sie hinzugefügt, dass sie darüber froh war. Jamie war ihr Vater und sie liebte ihn mit all seinen Fehlern und Schwächen, auch wenn er sie manchmal in den Wahnsinn trieb.

Jamie seufzte theatralisch und Alany las in seinem Gesicht, dass er hoffte, dies würde kein „Ich schütte dir mein Herz aus"-Gespräch werden. Für derartige Gespräche besaß ihr Papa kein Talent.

„Na, komm schon. Lass die anderen nicht so lange mit dem Frühstück warten!" Damit gab Jamie Alany einen leichten Klaps auf die Schulter und verschwand durch die Tür. Obwohl sie Lust hatte, weiterhin Trübsal zu blasen, beschloss Alany gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Vielleicht würde die gespielte Fröhlichkeit während des Frühstücks in echte Freude umschlagen.

Tante Caroline und Onkel Richard saßen mit Maria, Alex und Jamie bereits am Frühstückstisch, als Alany das Wohnzimmer betrat. Alle musterten sie, während sie sich zu ihnen setzte. Fast so wie einen Affen im Zoo. Warum musste ihre Familie solch ein Theater um den Auszug machen? Alany konnte sich nur schwer vorstellen, dass die Schwangerschaft ihrer Mutter damals mehr Aufregung verursacht hatte. 

„Genießen wir unser Frühstück in dieser großen Runde!", rief Onkel Richard, um die peinliche Stille zu unterbrechen, und nahm sich ein Brötchen. Vermutlich hatte er es absichtlich vermieden, „unser letztes Frühstück in dieser großen Runde" zu sagen. Dafür war sie ihm dankbar, denn sie hätte angefangen zu weinen, wenn er es getan hätte.

Das Frühstück verlief in gedrückter Atmosphäre. Maria und Alex schwiegen, während Tante Caroline und Onkel Richard einige klägliche Versuche starteten, ein Gespräch in Gang zu bringen. Sogar Jamie machte den Eindruck, als ob er die Uhr lieber zurückgedreht hätte.

Nachdem alle gegessen hatten, wurden Alany und Maria zum Geschirrspülen eingeteilt, während Jamie die Umzugshelfer begrüßte. Vom Küchenfenster aus konnte Alany sehen, wie die muskulösen Männer ihre Möbel in den Kleintransporter vor dem Haus einluden. In Alanys Hals bildete sich ein Kloß, als die Umzugshelfer schließlich begannen, Umzugskisten mit Büchern, Aktenordnern und Kleidung aus dem Haus zu tragen.

Ihre ganze bisherige Identität wurde in einen grauen Transporter verfrachtet. Onkel Richard, der gerade in die Küche kam, unterzog Alany einem prüfenden Blick. 

„Wir sind schon eine komische Familie", stellte er lachend fest. „Jamie und du ziehen ans andere Ende der Stadt und wir verhalten uns, als würden wir euch jahrelang nicht wiedersehen. Mit euch Kindern wird man so weich wie ein Schwamm." 

Alany musste grinsen, als sie unwillkürlich an die alten Jugendfotos von Onkel Richard dachte, die ihn als Angeber enttarnt hatten. In eine Lederjacke gekleidet und mit einer riesigen Sonnenbrille auf der Nase an sein Motorrad gelehnt, hatte er einen coolen Typen abgegeben. Später hatte er Tante Caroline geheiratet und war zu einem Schwamm geworden, wie er gerade eben zugegeben hatte. Okay, okay, so schlimm war s nun auch nicht.

„Trotzdem bin ich über euren Auszug nicht glücklich!", fuhr Onkel Richard fort. „Du bist auch unsere Tochter, Lenny, vergiss das nicht." Dafür drückte Alany ihm einen fetten Schmatzer auf die Wange. 

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