Eine Schlägerei und ein Vater-Tochter-Projekt *7*

Alany vermisste Milan. Jeder Tag, an dem sich keine Gelegenheit ergeben hatte, am Gartenhaus weiterzubauen und somit vernünftig mit Jamie reden zu können, war ihr wie eine Ewigkeit erschienen. Sie fühlte sich schuldig, weil der Kuss bereits zwei Wochen zurücklag und Milan mittlerweile denken musste, sie stünde nicht zu ihrer Beziehung.

Beziehung... Das Wort klang ungewohnt in Alanys Ohren. Milan und sie hatten sich zwar geküsst, aber nicht darüber gesprochen, wie ihr Leben als fester Freund und Freundin aussehen würde. Ein Grund mehr, die Wahrheit nicht länger vor Jamie zu verheimlichen. Schließlich quälte sie mit der Warterei nicht nur sich selbst, sondern auch Milan. Alanys Herz machte beim Gedanken an Milan einen Hüpfer. Wie war es möglich, dass ein Junge seines Alters so erfrischend natürlich und verantwortungsbewusst war? Und dass er trotz seines guten Aussehens mit ihr, dem Mädchen mit den zotteligen Haaren, zusammen sein wollte und nicht mit jemandem wie Mariah?

Umso enttäuschter war Alany, als Jamie anrief, um ihr mitzuteilen, dass sein Chef kurzfristig ein Abendessen mit dem Nike-Repräsentanten arrangiert hatte. „Ich hasse es, unsere Tradition, am ersten Ferienabend in Ginos Pizzeria essen zu gehen, sausen lassen zu müssen, Lenny. Leider ist das Gespräch ist sehr wichtig für unsere Firma, deshalb muss ich Paul unterstützen. Bitte sei nicht böse!"

Alanys gute Laune war im Nu verschwunden. "Dein Job geht vor", antwortete sie kurz angebunden, ohne sich Mühe zu geben, ihre Enttäuschung zu verbergen.

„Greg und ein paar seiner Arbeitskollegen kommen in gut einer Stunde vorbei, um die Bretter fürs Gartenhaus zu liefern", fügte Jamie nach einer kurzen Pause hinzu.

„Information angekommen." Ohne sich zu verabschieden, hängte Alany ein. Das Abendessen in Ginos Pizzeria war ihr im Moment nicht wichtig, doch dass das Vater- Tochter- Projekt erneut nach hinten verschoben wurde, regte sie auf.

Den ganzen Abend lang wusste Alany nichts mit sich anzufangen. In Ginos Pizzeria hatten Jamie und sie am ersten Ferienabend stets Spaß gehabt, besonders wenn der rundliche Italiener sie zum Karaokesingen überredet hatte. Zu Hause dagegen herrschte tote Hose. Schlecht gelaunt schaltete Alany den Fernseher ein und zappte durch einige Kanäle, fand jedoch an keinem Programm Gefallen. Letztendlich entschloss sie sich dazu, zu überlegen, wie sie am nächsten Tag den Kuss ansprechen sollte.

„Paps, Milan ist ein sehr netter Junge, findest du nicht? Neulich..." Quatsch, das klang lächerlich!„Wie dir aufgefallen sein dürfte, werde ich langsam erwachsen. Und zum Teenagersein gehört es dazu..." Auch nicht besser! Alany ging in die Küche, um sich eine Schachtel Käsecracker zu holen. Hoffentlich half Nervennahrung ihrem Hirnkasten auf die Sprünge.

„Warum fällt es mir so schwer, Paps von dem Kuss zu erzählen?", fragte sie sich, als sie, gegen den Küchentisch gelehnt, an ihren Crackern knabberte. „Wahrscheinlich, weil ich mich noch nie mit ihm über Jungs unterhalten habe", fiel ihr postwendend die Antwort ein. „Wahrscheinlich sollte ich mich nicht so anstellen, denn es war nur ein Kuss. Ich habe weder eine Schultoilette in die Luft gejagt noch mit dem ganzen Schwimmteam rumgeknutscht."

Alany beobachtete für eine Weile die Zeiger der Küchenuhr. „Vielleicht fällt es mir schwer, Jamie vom Kuss zu erzählen, weil niemand erwarten würden, dass ich einen Freund habe." Die meisten Freunde und Familienmitglieder sahen sie tatsächlich noch als Jamies süße, kleine Tochter. Warum verstanden sie nicht, dass auch sie erwachsen wurde?

„Genug nachgedacht", sagte Alany schließlich laut zu sich selbst und stellte die Schachtel mit den Crackern zurück ins Regal. „Ich werde warten, bis Jamie Milan erwähnt- was sicher passieren wird, da er mich so gerne neckt- und dann erzähle ich ihm von dem Kuss." Sie würde nicht lange um den heißen Brei herumreden, sondern einfach mit der Sprache herausrücken.

                                                                 *

„Hi, Lenny, ich habe dich gestern gar nicht mehr gesehen!", begrüßte ihr Vater sie am nächsten Morgen, als sie in die Küche kam. Jamie strahlte mit der Morgensonne um die Wette und war gerade dabei, Pfannkuchen zu backen.

Alany hatte ursprünglich vorgehabt, ihn ihren Missmut vom Vortag spüren zu lassen, doch der unwiderstehliche Duft der frischen Pfannkuchen versöhnte sie. „Wie war dein Treffen mit dem Nike-Mann?", fragte sie, während sie ein Glas Milch von ihrem Vater entgegennahm.

„Vielversprechend", antwortete Jamie und servierte mit einem Grinsen den ersten Pfannkuchen. „Ihm gefallen alle unsere Entwürfe und er hat uns versichert, in Zukunft wieder mit uns zusammenarbeiten zu wollen."

„Herzlichen Glückwunsch", nuschelte Alany, den Mund mit Pfannkuchen gefüllt. „Ich möchte mich nochmal entschuldigen, dass der Termin so kurzfristig war. Wir holen unser Abendessen bei Gino auf jeden Fall nach!", versprach Jamie und setzte sich zu ihr an den Tisch. „Manchmal mache ich mir Sorgen, dass meine Karriere unser Familienleben beeinträchtigt. Wenn ich vor unserem Auszug zu einer Besprechung musste, haben Richard oder Caroline dir Gesellschaft geleistet, doch nun bist du allein. Ich möchte keiner dieser karrieresüchtigen Väter sein, die ihre Familie dem Job opfern."

„Ach, Dad. Ich bin keine fünf mehr und brauche keinen Babysitter. Ich freue mich, wenn es bei dir auf der Arbeit gut läuft", versicherte Alany ihrem Vater, auch wenn sie ihm am liebsten gesagt hätte, dass sie sich aufgrund seines stressigen Arbeitsalltags Sorgen machte. „Aus diesem Grund hast du das Gartenhausprojekt doch ins Leben gerufen, stimmt's? Damit unsere Vater-Tochter-Beziehung intakt bleibt, auch wenn wir uns unter der Woche wegen der Schule oder der Arbeit nicht viel sehen."

Jamie nickte sichtlich dankbar. 

„Schau aus dem Fenster! Das Wetter ist perfekt zum Gartenhäuschenbau. Lass uns keine Zeit mehr verlieren!", verkündete Alany strahlend und sprang auf, um ihre Schuhe anzuziehen.

                                                                  *

Greg und seine Arbeitskollegen hatten die Bretter wie versprochen am Vorabend geliefert, weshalb Jamie und Alany sofort loslegen konnten. Zunächst mussten die Holzbohlen auf die richtige Länge gebracht werden. Zunächst mussten die Holzbohlen auf die richtige Länge gebracht werden. Danach wurden sie an den Stellen, an denen sie die Kreuzverbindung erhalten sollten, ausgeklinkt. Jeden anderen Vater hätte der Anblick seiner Tochter mit einer elektrischen Säge vermutlich in Panik versetzt, doch Jamie blieb ruhig. Alany hatte von klein auf mit Holz gearbeitet und wusste, worauf sie achten musste.

Da die Arbeit geräuschintensiv war und höchste Konzentration erforderte, war es unmöglich, sich zu unterhalten. „Wie's aussieht wird Dad noch eine Weile auf die Neuigkeit warten müssen", dachte Alany, während ihr Schweiß die Stirn herunterlief.

Sie arbeiteten verbissen bis Mittag, dann legte Jamie seine Säge beiseite. „Puuh! Ich brauche dringend eine Pause und einen Happen zu essen! Was ist mit dir, Lenny?" 

Alany nickte und setzte sich auf einen Stuhl, um zu verschnaufen. „Jetzt böte sich eine Gelegenheit, Jamie von Milan zu erzählen", meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf, doch Alany ignorierte sie. Im Moment war sie zu müde und verschwitzt, um ein ernstes Gespräch zu führen. 

Nach einer Pause schafften sie es schließlich durch harte Arbeit, die Alanys Meinung nach fast an Besessenheit grenzte, alle benötigten Bretter zu bearbeiten.

                                                            *

Als es bereits dämmerte, standen Jamie und Alany schließlich in ihren dreckigen Arbeitsklamotten zufrieden lächelnd vor einem riesigen Stapel Holzbohlen.

„Gute Arbeit, Lenny", lobte Jamie sie. „Du riechst zwar wie eine Farmerstochter, aber zupacken kannst du!" Alany versetzte ihm einen kumpelhaften Stoß mit dem Ellenbogen und atmete gierig die frische Abendluft ein. Es war kühler geworden und sie merkte, wie sie anfing zu zittern. „Du solltest ins Haus gehen und dir eine warme Dusche gönnen!", schlug Jamie vor und zog Alany Richtung Haus. „Hol dir bloß keine Lungenentzündung!"

Alany war zu müde, um Widerstand zu leisten. Kurz überlegte sie, ob sie das Thema Milan ansprechen sollte, doch der Zeitpunkt erschien ihr ungünstig. „Ok", murmelte sie und war bereits am Fuß der Treppe angelangt, als sie innehielt. „Wir sollten das Gartenhaus noch in diesen Ferien fertig stellen!", sagte sie mit ernster Stimme. „Wenn der erste Schnee fällt, können wir unmöglich weiter arbeiten!"

Jamie nickte. „Mach dir keine Sorgen, wenn es hart auf hart kommt, hilft Greg uns bestimmt!"

Unter der Dusche fiel Alany auf, dass es bereits Anfang November war. Sie konnte kaum glauben, wie viel in den knapp zwei Monaten des Schuljahres schon alles passiert war: Mariahs Auftritt als Oberzicke, die Alkoholvergiftungen, Alex Prügelei, Gregs Verletzung beim Fußballspiel, Milan, Jamies Präsentation für den neuen Nike-Laufschuh...

„Wenn die Zeit ab jetzt mein restliches Leben lang so schnell vergeht, suche ich mir am besten schon mal einen Krückstock aus!", dachte sie sich, als sie ihren Schlafanzug anzog. „Morgen erzähle ich Dad auf jeden Fall von meinem ersten Kuss, egal wie müde ich bin!" Langsam fürchtete Alany, sie würde platzen, wenn sie dieses ‚Geheimnis' noch länger mit sich herumtrug.

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