Eine Schlägerei und ein Vater-Tochter-Projekt *3*

Alex sah mit tränenüberströmtem Gesicht zu Alany auf. Dabei sah er so verletzlich aus, dass sie es nicht übers Herz brachte, das Versprechen, das sie ihm eben gegeben hatte, zu brechen. Sie musste Alex von ihrem Kuss mit Milan erzählen.

„Ja, hab ich. Sag es Jamie aber bitte nicht. Ich muss mir erst überlegen, wie ich es ihm schonend beibringe." 

Alex nickte. Alany war froh, dass ihr Cousin im Gegensatz zu den meisten Jungs seines Alters, die den coolen Macker spielen wollten, sensibel war und zuhören konnte. Trotzdem nett, dass er sie nicht weiter über Milan ausfragte.

„Ich wünschte, ich würde nicht heulen", murmelte Alex nach einer Weile und befreite sich aus Alanys Umarmung. „Heute morgen habe ich mich wie ein richtiger Mann verhalten und Nino und Tim gezeigt, dass ich kein Schwächling bin. Und was mache ich zwei Stunden später? Ich weine wie ein Baby." Sichtlich wütend wischte Alex sich mit einer ungelenken Handbewegung die Tränen aus dem Gesicht.

„Vergiss diese Scheinregel, dass Jungs nicht weinen dürfen", wand Alany schnell ein. „Bei allem, was du mit Mariah in letzter Zeit durchstehen musstest, würde es jeden umhauen. Es war mutig von dir, Nino und Tim herauszufordern. Selbst stärkere Jungs haben sich das nicht getraut. Wenn sich jemand das Recht erworben hat, zu weinen, dann du."

Alex wirkte nicht überzeugt, hörte aber auf, sich Vorwürfe zu machen. „Mein Leben ist das reinste Chaos", seufzte er und griff herzhaft in die Keksdose auf dem Tisch.

„Willkommen im Club", murmelte Alany und tat es ihm nach. Für einen Augenblick trafen sich ihre Augen und die beiden lächelten sich an. In diesem Moment wurde Alany klar, dass sie sich trotz ihres neuen Lebens mehr um ihren Cousin kümmern musste. Alex brauchte sie und sie brauchte ihn. Sie würde nicht zulassen, dass ein simpler Wohnortswechsel das geschwisterliche Verständnis, das über Jahre gewachsen war, zerstörte.

                                                                    *

In der Woche, die Alex in ihrem Haus verbrachte, rief Milan nur einmal an. Alany war dankbar dafür, dass sie und nicht Jamie den Hörer abgehoben hatte. Flüsternd hatte sie Milan darum gebeten, nicht mehr anzurufen, bis sie Jamie von ihrem Kuss erzählt hatte. Milan hatte geantwortet, dass er das verstand und sie sich so viel Zeit nehmen sollte, wie sie benötigte. Alany war dankbar dafür, wie geduldig und höflich Milan war. Wäre sie nicht bereits von Kopf bis Fuß in ihn verschossen, würde sie sich auf der Stelle nochmal in ihn verlieben.

Ehe Alany sich versah war es Sonntag und Alex wurde von Onkel Richard abgeholt. Alex' Auge war komplett abgeschwollen und auch an seiner Hand konnte man keine Spuren der Prügelei mehr erkennen. Zum Abschied umarmte Alany ihren Cousin herzlich. In der vergangenen Woche war vieles wie früher gewesen, denn Alex und sie hatten Schokolade futternd auf ihrem Bett gesessen und sich hervorragend unterhalten. Um mit ihm zu reden, hatte sie nicht einmal zum Telefonhörer greifen müssen. Trotzdem weigerte Alany sich, der Vergangenheit nachzutrauern. Sie würde dafür kämpfen, dass ihre Familie nicht am Umzug zerbrechen würde.

Als Onkel Richard abfuhr, sah Jamie dem Auto seines Bruders mit besorgtem Blick nach. Fürchtete er, Richard könnte der Situation nicht gewachsen sein? Immerhin hatte Alex diese Woche viel Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, da er Jamie und Alany von all seinen Sorgen erzählt hatte. Würde Onkel Richard es schaffen, ihm trotz der Sorge um Mariah die nötige Zuwendung und Geduld zukommen zu lassen?

„Es muss hart für Caroline und Richard sein, dass nicht nur Mariah sich verändert hat", dachte Jamie Alanys Gedanken laut weiter. „Ich hatte keine Ahnung, dass dein Cousin ein Grübler ist. Klar, er ist schüchtern und ein Kopfmensch, aber das unter der Oberfläche so viel brodelt, hätte ich nicht erwartet. Und ich wünschte, Richard hätte mich früher über Mariahs seltsames Verhalten informiert."

In diesem Moment realisierte Alany, dass der Auszug nicht nur ihren Vater mit neuen Herausforderungen konfrontiert hatte. Früher hatte auch Richard Jamie um Hilfe bitten können, doch nun musste er daheim ohne seinen Bruder klarkommen.

„Alex wird sich schon durchboxen, Dad", versuchte Alany ihren Vater aufzumuntern. „Mrs. Clarington hat Tim und Nino von der Schule geschmissen und ihre Freunde haben Alex diese Woche nicht mal schief angesehen. Ich schätze, er hat sich durch die Prügelei Respekt verschafft."

Jamie nickte. „Alex ist kein kleines Kind mehr. Aber genug von Prügeleien. Wie wär's mit Brunch?"

                                                               *

Greg, der mittlerweile vollständig genesen war, und seine Kollegen aus dem Baumarkt hatten im Garten ganze Arbeit geleistet. An den letzten beiden Wochenenden hatten sie Rasen gesät und Bäume eingepflanzt, weshalb die Grünfläche inzwischen recht ansehnlich war. 

Alany ließ sich die warmen Sonnenstrahlen aufs Gesicht scheinen, nachdem Jamie und sie es sich auf der Terrasse in ihren Liegestühlen bequem gemacht hatten. Jeder von ihnen hielt einen Milchshake in der Hand und auf dem hölzernen Gartentisch wartete ein Teller mit ofenfrischen Croissants darauf, geleert zu werden.

„Ich habe mich seit unserem Einzug nicht mehr so entspannt gefühlt", seufzte Jamie und streckte sich, wobei er die Hälfte seines Milchshakes über sein Hemd schüttete. Seiner guten Laune tat dieses klebrige Missgeschick keinen Abbruch. Gekonnt ignorierte Jamie die rosarote Flüssigkeit, die seinen Ärmel herunter lief und lehnte sich zurück. „Irgendwann wird all das Drama ein Ende haben und dann schmeißen wir eine schöne Party!", versprach er Alany und schloss dabei lächelnd die Augen.

Alany lächelte ebenfalls. Sie war sich sicher, dass dieser Augenblick kommen würde und konnte ihn kaum erwarten. 

                                                                     *

Alany musste eingedöst sein, denn als sie durch das Zwitschern eines Rotkehlchens aufgeweckt wurde, war die Hitze der Mittagssonne bereits abgeflaut. Der Herbst war unmissverständlich im Kommen. Überall wechselten die Blätter der Büsche und Bäume ihre Farbe und ein sanfter Herbstwind blies über die angrenzenden Felder. Alany zitterte leicht, doch jemand legte ihr von hinten eine Weste über die Schultern.

„Auf mit dir, Lenny, wir haben heute einiges vor."

Zu Alanys Überraschung stand Jamie in alten Jeans und einem Stapel Holz in den Armen vor ihr.„Warum die Holzfäller Montur?", fragte sie gähnend und rieb sich die Augen. Gerne wäre sie liegen geblieben, um den Herbst mit allen Sinnen zu begrüßen. Alany liebte diese Jahreszeit mit all ihren Farben und Formen und bemitleidete sich dafür, dass ihr Geburtstag in den Juli fiel. Ihr Geburtsmonat war ihrem Geschmack nach zu warm und zu hektisch, weil die meisten Leute ihn von vorne bis hinten mit Picknicken, Schwimmen und Campen verplanten. Im Herbst hingegen hatte sie Zeit, ihre Gedanken auf Reisen zu schicken. Tage wie diesen, an denen sie von Jamies Geschäftstüchtigkeit mitgerissen wurde, einmal ausgenommen.

„Alex und Mariahs Kampf mit dem Erwachsenwerden hat mich aufgerüttelt", antwortete Jamie, während er ihr eine alte Baggyjeans zuwarf. „Aus diesem Grund hab ich mir eine Aktivität ausgedacht, um unsere Vater- Tochter- Bindung zu stärken. Ich möchte, dass du mit mir über alles reden kannst, auch den peinlichen Teenie-Kram."

Alany bekam ein schlechtes Gewissen, als sie an den Kuss mit Milan dachte, den sie vor ihrem Vater verheimlicht hatte. Ja, sie fühlte sich bei der Vorstellung, Jamie davon zu erzählen, unwohl. Vielleicht würde eine Vater- Tochter Aktivität tatsächlich helfen, diese Mauer niederzureißen.

„Schieß los. Was planst du, um auf meiner Beliebtheitsskala nach oben zu klettern?", fragte Alany schelmisch, während sie sich aus ihrem Liegestuhl hievte.

„Gartenhäuschenbau", antwortete Jamie kurz angebunden und deutete auf die Jeans. „Zieh die über, damit du deine Hose nicht dreckig machst."

Alany tat wie geheißen und ihr Vater zeigte ihr den Bauplan, den er von Greg bekommen hatte. Dann ging es los. Zunächst steckte Jamie mit Holzpfählen und Schnüren ein Viereck ab, während Alany ihm interessiert zuschaute. Anschließend half sie ihrem Vater dabei, Holzbretter für die Unterkonstruktion zurechtzusägen.

Wie schön es war, im Garten zu arbeiten! Alany konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt gewerkelt hatte. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatten Jamie und sie oft Figuren aus Holz geschnitzt. Nachdem er den Job in der Marketingfirma angenommen und der Trainer der Lions geworden war, war er allerdings meist zu müde dafür gewesen.

Obwohl es gegen Spätnachmittag kälter wurde, arbeiteten sie weiter. „Ein Gartenhaus zu bauen ist wie einen Lolli zu lutschen", dachte Alany sich, während sie die Bretter, die inzwischen auf die richtige Art und Weise neben- bzw. übereinander lagen, zusammenschraubte. „Hat man einmal angefangen, kann man nicht mehr aufhören."

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