Eine Schlägerei und ein Vater-Tochter-Projekt *2*
Jamie musste trotz seiner Arbeit an der Nike Kampagne augenblicklich alles stehen und liegen gelassen haben, denn er eilte bereits zwanzig Minuten später in das Zimmer der Direktorin, in dem Alany und Alex warteten. Alany war froh, das Direktorat verlassen zu können. Die Portraits der streng dreinblickenden Nonnen an den Wänden und der penetrante Duft von Rosenöl hatten sie eingeschüchtert.
Jamie war völlig durch den Wind. Zunächst wollte er Alex im Krankenhaus durchchecken lassen, doch der versicherte ihm, dass dies nicht nötig wäre. Wenigstens hatte Heather Clarington Jamie nicht als den Unruhestifter von vor zwei Jahrzehnten wieder erkannt, was unnötiges Geplänkel über früher verhinderte.
*
Während der Autofahrt beruhigte Jamie sich wieder. Außerdem wartete er mit den unangenehmen Fragen, bis er Alex im Wohnzimmer in eine Decke eingehüllt und ihm einen neuen Eisbeutel für sein Auge gebracht hatte.
„Ihr macht vielleicht Sachen", seufzte Jamie und ließ sich mit einer Flasche Bier neben Alex aufs Sofa fallen. „Jahrelang waren Mariah und du, Alex, die reinsten Mauerblümchen und nun verwandelt ihr euch in Miniaturausgaben von Richard und mir."
„Ich hab mich nicht grundlos geprügelt, sondern meine Schwester verteidigt!", protestierte Alex.
„Und deswegen bin ich stolz auf dich", versicherte Jamie ihm und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Du bist ein richtiger Mann geworden, Alexander Julian."
Alany runzelte die Stirn. „Solltest du dir nicht Sorgen machen, weil Alex verprügelt wurde?"
Jamie sah sie an. „Natürlich mache ich mir Sorgen, Alany. Schließlich sind die Schläger in eurer Schule sowas wie Adel. Allerdings kann Alex sich besser durchsetzen als ich ihm zugetraut hätte."
Alex lächelte schwach. „Ich hoffe, Nino und Tim dürsten nicht nach Rache, denn ich habe keine Lust, Mariah und Tiana im Krankenhaus Gesellschaft zu leisten."
„Wenn die beiden oder ihr Gefolge dich bedrohen, lassen Zachy und ich uns was einfallen", versprach Alany ihrem Cousin, um ihn aufzumuntern. „Haben die beiden wirklich Mitschüler gezwungen, ihre Aufsätze zu schreiben?"
„Kann gut sein", murmelte Alex, wobei seine Augen interessiert zur Keksdose wanderten, die noch vom Filmabend am Vortag auf dem Tisch stand. „Vermutlich hätten einige ihrer Bewunderer ihnen freiwillig mit den Aufsätzen geholfen, aber Nino und Tim haben's nicht geschnallt und sich deswegen ein paar Streber vorgeknüpft."
„So viel Unrecht in einer katholischen Schule, Himmel Herrgott!" Jamie rollte mit den Augen.
In diesem Augenblick fiel Alany wieder ein, was die Schulleiterin über ihren Familiennamen gesagt hatte: Vor gut zwei Jahrzehnten gab es hier diesen schlimmen Bengel, der den gleichen Nachnamen trug. Wie hieß er doch gleich... Ach ja, Jamie!
Wie sehr Jamie als minderjähriger Vater in dieser katholischen Schule gelitten haben musste! Alany wollte nicht wissen, welche Reaktion die Nachricht einer Teenagerschwangerschaft vor gut sechzehn Jahren bei Heather Clarington hervorgerufen hatte. Trotz allem schien die Schulleiterin nicht zu wissen, dass Jamie ihr Vater war. Vielleicht nahm sie an, dass es in Nottingham mehrere Familien mit dem Namen ‚O'Callaghan' gab. Oder- und das war die wahrscheinlichere Option- sie hatte das Kapitel Jamie aus ihrem Gedächtnis gelöscht, um die Schmach, die es enthielt, zu vergessen.
„Wie geht's deiner Hand, Alex?" Jamie tippte sanft auf den Verband, worauf Alex zusammenzuckte.
„Bitte Onkel Jamie, ich möchte nicht zum Arzt", wimmerte Alex und klang dabei wie eine Katze, die im Türspalt eingeklemmt war. „Mom und Dad machen sich wegen Mariah schon genug Sorgen und ich will nicht ihr zweites Problemkind sein."
Seinem angestrengten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, dachte Jamie angestrengt nach. „Wie wär's, wenn wir Richard sagen, dass du ein paar Tage bei Alany und mir bleiben möchtest, um dich zu erholen? Eine Schwester, die mit Alkoholvergiftung im Krankenhaus liegt und eine hysterische Mutter dürften als Argument genügen."
„Danke, Onkel Jamie." Alex ließ sich sichtlich erleichtert in die Kissen sinken.
„Ach Alany, wie wär's wenn du Milan anrufst und ihn fragst, ob er sich die Hand deines Cousins ansehen kann?", schlug Jamie plötzlich vor.
Alex musste gesehen haben, wie rot Alany angelaufen war, denn er brachte ihren Vater schnell von dieser Idee ab. „Nein, nein, morgen ist meine Hand bestimmt wieder in Ordnung."
„Bist du sicher?" Jamie wirkte nicht überzeugt, bohrte aber nicht weiter nach. Zu Alanys Erleichterung machte er sich schließlich auf den Weg ins Büro, da er seine Besprechung Hals über Kopf verlassen hatte, als er ihren Anruf erhalten hatte.
„Danke." Alany ließ sich erschöpft neben Alex nieder. Am liebsten wäre sie ihrem Cousin um den Hals gefallen. Unvorbereitet auf Milan zu treffen hätte ihr an einem Tag wie diesem den Rest gegeben. Wie hätte sie nur reagieren sollen? Auf der einen Seite wollte sie Milan nicht das Gefühl geben, sie verleugne ihre Gefühle zu ihm. Andererseits war sie noch nicht bereit, Jamie von ihrem ersten Kuss mit ihm zu erzählen.
„Du scheinst Milan zu mögen", sagte Alex ausweichend. „Jamie hat von ihm erzählt, aber es klang eher so, als ob er dich mit ihm aufziehen möchte. Anscheinend glaubt er nicht, dass zwischen euch tatsächlich was läuft."
Alany wich dem Blick ihres Cousins aus. Seit wann war Alex so neunmalklug?
„Ich weiß, dass du nicht über Milan reden willst, Cousinchen, aber ich bin nicht blind. Ich freu mich, dass du ihn nicht als Stück Fleisch betrachtest. Du solltest Mariah mal hören: Die Jungs vom Schwimmteam sind so heiß! Habt ihr ihre Muskeln gesehen?" Alex äffte Mariah so gekonnt nach, dass Alany lachen musste. Nur Alex schaffte es, mit einer verletzten Hand noch den Komiker zu spielen.
Einen Augenblick später sprach Alex jedoch mit ernster Stimme weiter. „Nach eurem Auszug ist Mariah durchgedreht. Früher war sie auch nicht immer normal, aber seitdem die Schule wieder angefangen hat, war es kaum noch zum Aushalten. Sie hat sich stundenlang in ihrem Zimmer eingeschlossen und zweimal pro Tag ihren Bauchumfang gemessen- ‚Sie hat zu viel America's Next Topmodel geschaut', hab ich mir gedacht. Und ihre ständigen Heul- und Kreischanfälle. Man oh man, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mir dich, meine normale Schwester, zurückgewünscht habe."
Ein Kloß bildete sich in Alanys Hals . Wie hatte sie übersehen können, dass Mariah sich selbst verlor? Wie hatte sie ihren Auftritt in der aufreizenden Schuluniform mitansehen können, ohne sofort einzuschreiten? Anscheinend hatte sich Mariah nicht mir nichts, dir nichts in eine Dramaqueen verwandelt, sondern durchlebte eine ernsthafte Identitätskrise. Sie war so mit den Veränderungen in ihrem eigenen Leben beschäftigt gewesen, dass sie für Mariahs Probleme kein offenes Ohr mehr gehabt habe. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Sie, Alany Aphrodite O'Callaghan, war den Sommer über eine blöde Egoistin gewesen. Nun entdeckte sie zu ihrem Entsetzen eine Träne auf Alex' Wange.
„Warum hast du nicht mit mir geredet?", fragte Alany sanft und schlang ihre Arme um ihren Cousin.
„Mom und Dad haben's mir verboten", schluchzte Alex und vergrub seinen Kopf in Alanys Armen. „Bis Mariah mit der Alkoholvergiftung im Krankenhaus landete, haben sie es selbst vor Onkel Jamie verheimlicht. Ihr wart gerade erst ausgezogen und sie wollten euch nicht den Start in euer neues Leben vermiesen."
Nun spürte Alany, wie ihr ebenfalls stumme Tränen die Wangen herunterliefen. „Früher haben wir alle Probleme geteilt. Gilt das nicht mehr, nur weil Jamie und ich jetzt ein eigenes Haus haben? Das ist bescheuert! Nur weil wir nicht mehr zusammenleben, heißt das noch lange nicht, dass wir keine Familie mehr sind."
Alex schniefte. „Ich hab mir so sehr gewünscht, mich wie früher mit einer Schüssel Schokoeis neben dich auf die Couch zu setzen und dir alles zu erzählen."
Alany erinnerte sich gut an die nächtlichen Unterhaltungen mit Alex, bei denen sie sich gegenseitig das Herz ausgeschüttet hatten. Warum hatten Jamie und sie bloß ausziehen müssen?
„Ich durfte dir nichts von Mariah sagen. An dem Tag, an dem sie in ihrer sexy Schuluniform erschien, wollte ich dir von den Wochen davor erzählen, aber ich hab mich nicht getraut. Bei euch schien alles wie am Schnürchen zu laufen, während es bei uns drunter und drüber ging."
„Versprich mir, dass du in Zukunft bei Problemen immer zu mir kommst, auch wenn die Erwachsenen es dir verbieten", flüsterte Alany Alex ins Ohr und drückte ihn noch fester an sich. Obwohl Alex nur ein Jahr jünger war als sie, blieb er ihr kleiner Bruder.
„Du auch", flüsterte Alex zurück. „Aber reden wir über was Netteres. Was ist jetzt mit dem hübschen Sanitäter? Hast du ihn endlich geküsst?"
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