9 - leading
- Calyx -
Eine Woche später begann das jährliche Wald-Aufräumprojekt unserer Schule, an der jede Stufe beteiligt war. Ich wurde mit den Schülern meines Kunstunterrichts in eine Gruppe von etwa zwanzig Personen gesteckt.
Morgens liefen wir gemeinsam fünfzehn Minuten bis zum der Schule anliegenden Waldstück und folgten dem breiten Waldweg. Hier in der Nähe war es, wo ich Zachary in der Vollmondnacht angegriffen hatte.
Seltsamerweise kam mir das Ereignis ganz weit weg vor. Als wäre es schon vor Jahren geschehen, dabei war es gerade einmal wenige Wochen her. Der Gedanke daran bereitete mir manchmal noch immer das Gefühl von Unbehaglichkeit.
Es war ein so unglaubliches und unbeschreibliches Empfinden gewesen, zum ersten Mal Ophelias Geruch zu riechen.
Mein Kopf und mein Körper, alles in mir hatte einfach nur Mate geschrien. Ich hatte mich verwandelt und war so schnell gerannt wie noch nie in meinem Leben.
Und dann hatte ich noch einen anderen, feindlichen Geruch wahrgenommen und hatte Zachary gesehen. Zuerst hatte ich geglaubt, dass der Geruch meiner Mate an ihm daran herrührte, dass er sie verletzt hatte. Beinahe hätte ich ihn einfach so zerfleischt. Doch ich hatte keine Hormone von Angst oder Aggression vernehmen können. Die zweite mögliche Erklärung hatte mich dann so aus meiner Bahn geworfen, dass ich mich hatte zurückziehen müssen.
"Schon etwas frisch heute", bemerkte Kaylee und zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Sie hatte sich, seit wir losgegangen waren, an meine Fersen geheftet. Aber da Buh, Owen oder die anderen nicht hier waren, kannte ich sonst niemanden. Und auch wenn Kaylee manchmal ein bisschen zu nett zu mir war, störte sie mich nicht besonders.
Bevor ich etwas erwidern konnte, blieb die kleine Menge vor uns stehen. Es wurde wieder durchgezählt und jeder bekam eine Müllzange und einen großen Stoffbeutel, der anscheinend jedes Jahr wieder verwendet wurde.
Man sagte uns, dass wir uns in einer Stunde wieder hier treffen würden, dann teilten sich alle in kleine Grüppchen auf und schwärmten in verschiedene Richtungen aus.
Grimmig sah ich zu, wie Ophelia und Zachary in den Wald abbogen. Ich wandte mich ab, verließ den Waldweg und stapfte ebenfalls ins Waldinnere hinein.
"Hey, Cal", rief Kaylee plötzlich hinter mir. "Macht es dir was aus, wenn ich mitkomme?"
Ja. Ich würde gerne alleine meine Zeit im Wald genießen.
"Nein", seufzte ich dann schließlich. Die anderen konnten ja nichts für die Situation, wie sie nun einmal war.
"Aber sollten wir nicht lieber in der Nähe der Waldwege bleiben?", fragte sie unsicher.
"Keine Sorge, ich hab 'nen guten Orientierungssinn", beruhigte ich sie. "Außerdem werden die meisten anderen an den Wegen Müll sammeln. Suchen wir lieber an etwas abgelegeneren Orten, wo sich die Waldtiere meist aufhalten und der Müll ihnen dort noch gefährlicher wird."
"Oh, stimmt. Daran hab ich gar nicht gedacht."
Und was dachtest du dann? Den Wald vom Müll befreien, um ihn wieder schön und ansehnlich zu machen?
"Hungrige Füchse, Igel und andere Tiere stecken oft ihre Schnauzen in Getränkedosen oder anderen Müll und verletzen sich. Oder sie können sich nicht befreien und ersticken. Plastikmüll und Folien bauen Vögel oft in ihre Nester mit ein. Das Regenwasser kann dann nicht mehr abfließen und der Nachwuchs ertrinkt. Oder die Vögel verheddern sich in irgendwelchen Schnüren. Und denk mal an zerbrochene Glasflaschen mit scharfen Scherben. Besonders schlimm ist Plastikmüll an Flüssen, wo es zu kleinen Teilen zerfällt und das Mikroplastik in unser Wassersystem gelangt", endete ich meinen Vortrag und hatte in dieser Zeit schon drei Verpackungen von Süßigkeiten gefunden.
Die meisten dieser tödlichen Verletzungen hatte ich schon mit eigenen Augen an Wildtieren gesehen.
"Wie schrecklich", sagte Kaylee mit echtem Entsetzen in der Stimme.
Einige Minuten gingen wir wortlos durch den Wald. Hier und da fanden wir Einweg-Kaffeebecher und Schokoriegelpapiere, Reste von Frischhaltefolien. Sogar eine Zahnbürste und einen alten Schuh, dessen Schnürsenkel nicht aufzufinden war.
"Woher kommt dieses Umweltbewusstsein?", erkundigte sich Kaylee nach einer Weile.
"Ich habe schon immer gerne Zeit im Wald verbracht. Mein Vater hat mir all die Probleme mit dem Müll erklärt, aber wenn man so etwas mit eigenen Augen sieht, ist das nochmal was ganz anderes."
"Dein Vater?", fragte sie und ich wünschte, dass sie nicht weitersprechen würde. Natürlich tat sie es. "Sind deine Eltern getrennt?"
"Ja", log ich knapp. "Schon seit einer Weile", fügte ich hinzu.
"Meine auch", hielt sie die Konversation aufrecht.
Sie fragte noch etwas, doch dann gab es einen leichten Windstoß und der Geruch von Ophelia kam mir in die Nase.
"Wie bitte?", fragte ich verdattert nach, weil mich das für einen Moment aus dem Konzept gerissen hatte.
Verunsichert sah sie mich an. "Ach, nichts."
Verwirrt blickte ich zurück.
Ich vernahm einen leichten Hauch von Alkohol in der Luft. Wundernd blickte ich mich um und spitzte die Ohren. Doch ich war zu weit entfernt, um mehr als unverständliche Worte zu vernehmen.
Langsam änderte ich die Richtung und ich folgte sowohl den Geräuschen als auch dem Geruch von Alkohol und Ophelia.
Schließlich fing ich an, ein bisschen schneller zu gehen.
Ich vernahm Ophelias und Zacharys Geruch, sowie den von drei fremden Männern.
Die Männer lachten und unterhielten sich anscheinend normal.
Wir waren etwa hundert Meter vom Geschehen entfernt, als ich Ophelias Rufe hörte. "Hey, stehen bleiben!"
Ich begann zu sprinten. Kaylee war noch immer irgendwo hinter mir, weshalb ich nicht so schnell lief, wie ich eigentlich konnte. Jetzt schneller zu laufen als der beste Sprinter wäre wohl etwas auffällig.
Trotzdem war ich rechtzeitig dort, um zu sehen, wie die drei Männer sich von einem Haufen von Glasflaschen und Fast-Food-Resten entfernen wollten.
"Hör auf, Phee", warnte Zachary, der einige Schritte von Ophelia entfernt stand, welche ziemlich wütend aussah und ihre Müllzange drohend auf die Männer richtete. "Nehmt das sofort mit und entsorgt das ordentlich!"
Ich trat näher und stellte mich neben Zachary. "Hoffentlich reißt sie ihnen den Kopf nicht ab."
Lykantrophen waren selbst in menschlicher Gestalt um einiges stärker als gewöhnliche Menschen und hatten viel bessere Reflexe. Ophelia könnte ihnen wohl die Arme einzeln abreißen, wenn sie wollte.
Einer der Männer lachte höhnisch. "Für wen hältst du dich?"
"Hier sind nicht hundert Schüler um für euch eure Scheiße wegzuräumen. Nehmt das Zeug doch einfach mit und vermüllt den Wald nicht. Viel Aufwand ist das jetzt nun wirklich nicht", forderte Ophelia verärgert.
"Du hast da doch passenderweise ein großes Müllsäckchen. Stopf den Mist doch einfach rein und wir sind alle zufrieden", mischte sich der größte Mann ein.
"Ey, seid ihr schwer von Begriff? Es geht darum, dass ihr euren eigenen Müll wieder mitnehmt!"
"Was sagst du da, du kleine Göre?", wurde einer nun wütend.
Zac neben mir drückte nun genervt zwei Finger gegen seine Stirn. Kaylee erschien schnaufend hinter uns. "Was ... ist hier los?", fragte sie fast atemlos.
Meine Mate würde gleich drei völligen Vollidioten, die gedankenlos den Wald verschmutzten, den Arsch versohlen.
"Ich sagte", zischte Ophelia und trat langsam näher, "dass ihr euren Müll wieder mitnehmen sollt."
Als der große Mann ebenfalls vortrat, schoss Adrenalin in meine Adern. Ich hatte den dringenden Drang, vorzustürzen und ihn wieder zurück zu schubsen. Dabei wusste ich, dass Ophelia die Situation unter Kontrolle hatte.
"Wenn du allein hier wärst, würde ich dich grün und blau schlagen", drohte er nun so leise, dass nur Zac und ich es verstanden.
Plötzlich schoss Ophelias Faust hervor und traf den Mann auf die Nase. Er brüllte auf, seine Augen tränten. Sein Arm schoss ebenfalls hervor, doch schon hatte sie ihn umgriffen und verdreht. Zu allem Überfluss rammte sie ihm dann noch das Knie in den Unterleib.
"Sag mal, spinnst du?", rief Zachary und eilte zu ihr hin, um sie von dem Mann wegzuziehen.
Die beiden Männer rannten zu ihrem Freund, um ihm aufzuhelfen. "Fuck Mann, wir nehmen den Scheiß ja schon mit!", schrie einer von ihnen. "Du hast sie ja nicht mehr alle!"
Der eine stützte den anderen, der dritte sammelte ihren Müll ein. Zusammen zogen sie ab. Ich sah ihnen schmunzelnd hinterher.
Ich bemerkte, dass sich Kaylee von hinten an meinen Arm gekrallt hatte. "Alles okay?", fragte ich.
"Ja", stieß sie hervor. "Das war beängstigend."
"Wir müssen zurück", bemerkte Zachary mit einem Blick auf sein Handy.
Wutentbrannt schnappte sich Ophelia ihren Müllbeutel. Ich fragte mich, mit welchem Enthusiasmus sie gesammelt haben musste. Ihrer war mit Abstand der vollste von unseren.
Schließlich gingen Kaylee und ich vor, die beiden anderen folgten uns in einigem Abstand. Trotzdem konnte ich jedes ihrer Worte verstehen.
"Was ist denn los mit dir?", fragte Zachary Ophelia mit vorwurfsvollem Ton.
"Ich war einfach so wütend. Und du, du hättest sie einfach ignoriert und hättest wahrscheinlich noch ihren Scheiß weggeräumt!"
"Ja, Phee, das ist es, was Menschen machen. Hast du nicht bemerkt, dass Kaylee da war? Was, wenn du dich vor den Männern verwandelt hättest?"
"Fuck, darum gehts ja. Ich hab mich seit Wochen nicht verwandelt, wegen uns!", wütete sie nun.
"Na und? Ich verwandle mich auch nur bei jedem Vollmond. Du musst versuchen, deine Gefühle mehr unter Kontrolle zu bekommen, ernsthaft. Sonst gefährdest du die Sicherheit des ganzen Rudels", warf er ihr nun vor.
Fast wäre ich stehen geblieben und hätte ihm eine reingehauen. Er hatte ja überhaupt keine Ahnung, wie schwer die ganze Situation war.
Wenn er nur ansatzweise wüsste, wie stark die Anziehung zwischen Ophelia und mir war, dann könnte er verstehen, wie viel Kraft es kostete, sich von seinem Mate fernzuhalten. Es kostete so viel Kraft und das tat sie nur für ihn.
Ein heftiger Stich von Eifersucht durchfuhr mich.
Und wenn er nur wüsste, wie frustrierend es für jemanden wie sie und mich war, sich nicht verwandeln zu können. Nur weil er sich so gut an das Menschenleben gewöhnt hatte, musste das nicht für jeden gelten.
Es lag in unserer Natur, unserem Drang nach Freiheit nachzugehen. Egal, wie entspannt du dich fühlst oder in welchem tiefsten Wald du dich befindest, ganz gleich an wie wenig Pflichten du gebunden wärst oder wie schnell du auf einem Highway mit offenem Autodach entlangbretterst und der Wind dir ins Gesicht peitscht, in Menschengestalt bist du nie vollkommen frei.
"Bist du sicher, dass wir richtig gehen?", wollte Kaylee wissen und riss mich unsanft aus meinen tiefen Gedanken.
"Ja, ich bin mir sicher."
Ich hatte Ophelias Antwort nicht verstanden. Nun herrschte völlige Stille hinter uns.
Als wir zum vereinbarten Treffpunkt zurückkehrten, war ich erstaunt, wie viel Müll wir allein in unserem Kurs gesammelt hatten.
Ich betrachte all die Tüten, die zufriedenen Gesichter und fühlte mich wohl zum ersten Mal wie ein Teil des Ganzen.
An diesem Anblick sah ich ganz deutlich, wie viel Menschen gemeinsam eigentlich bewirken konnten.
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