5 - wolves

- Ophelia -

Es war Mittwoch, als wir wieder zur Schule gingen. Zachary fuhr uns und ich nahm mir vor, möglichst den ganzen Tag an seiner Seite zu bleiben. Er würde mich daran erinnern, wofür ich mich so anstrengte.

Im Autospiegel kontrollierte ich noch einmal, ob der Verband um meine Nase fest saß. Ich würde einfach sagen, dass ich beim Sport eine drauf bekommen hätte und keiner würde mehr Fragen stellen.

Als wir ausstiegen, stellte ich fest, dass Calyx entweder nicht da war oder ich ihn tatsächlich durch meine Nasenkonstruktion nicht riechen konnte.

Angespannt betraten wir das Gebäude. Fast wollte ich Zac fragen, ob er ihn riechen konnte. Aber ich wollte so wirken, als sei er mir völlig egal. Als wäre mir gleichgültig, ob er sich hier befand oder nicht.

In der ersten Stunde hatten Zac und ich schon mal keinen gemeinsamen Unterricht mit Calyx. In der zweiten auch nicht.

Nach der ersten Pause mussten wir uns trennen und ich betrat aufgeregt mit schnell klopfendem Herzen den Matheraum. Ich setzte mich zu Betsy, welche mich mit verzogenem Gesicht anstarrte. "Shit. Das sieht ja noch schlimmer aus, als du mir beschrieben hast."

"Danke", erwiderte ich sarkastisch.

"Nah, Phee, mit wem hast du dich denn angelegt?", fragte Buh belustigt und setzte sich an den Tisch neben mir.

"Mit niemandem", erwiderte ich augenrollend.

"Kommst du trotzdem zum Training?", fragte er dann. "Hast nämlich Konkurrenz bekommen."

"Von wem?", fragte ich ungläubig. Ich war die Beste der ganzen Mannschaft.

"Von Calyx, dem Neuen." Bei Buhs Worten lief es mir kalt den Rücken herunter.

"Ach ja!", fiel Betsy ihm ins Wort. "Von dem wollte ich dir noch erzählen. Gott, ist der heiß. Wirklich. Klar, du hast ja deinen Zachary, aber ... Mann ...", duselte sie verträumt.

"Ja Betsy, ich hab meinen Zac", lachte ich und hoffte, dass ich mich nicht allzu seltsam benahm. In mir bildete sich ein Knäul von Emotionen, der schon bald zu platzen drohte.

Zum ersten Mal war ich erleichtert, dass der Lehrer den Raum betrat und den Matheunterricht begann. Ich gab mein Bestes, um mich zu konzentrieren und nicht über die Basketballsache nachzudenken.

In der kurzen Pause wollte Buh mir Calyx vorstellen, doch darauf konnte ich wirklich verzichten. Also entschuldigte ich mich und flüchtete auf den Pausenhof.

Wie sollte das weitergehen? Ich konnte mich ja nicht ewig vor ihm verstecken.

Glücklicherweise kam Zac dann auf mich zu. Ich liebte ihn so sehr und wollte ihn nicht verletzen, aber er war gerade der einzige, mit dem ich darüber reden konnte. Also teilte ich ihm mit, dass ich mir Sorgen um eine Begegnung mit Calyx machte.

"Du hast gesagt, dass du das schaffst, Phee. Denk daran. Und an mich", schlug Zac vor und machte mir damit ehrlich gesagt noch ein bisschen mehr Druck. Das war eben viel leichter gesagt als getan. Wenn ich mich jetzt also weiter versteckte würde Zac noch glauben, dass ich das nicht schaffen würde.

Niedergeschlagen ging ich zum Philosophieraum und setzte mich ans Fenster der ersten Reihe. Ich kritzelte in meinen Collegeblock und wartete, bis Betsy kommen würde.

Doch schon bald spürte ich, wie jemand anders den Raum betrat. Ich konnte ihn nicht riechen, aber dennoch stellten sich meine Nackenhaare auf und meine Atmung beschleunigte sich. Wie automatisch horchte ich in seine Richtung. Er blieb kurz regungslos im Raum stehen, dann ging er weiter und setzte sich in die hinterste Reihe, möglichst weit weg von mir.

"Da ist er", flüsterte Betsy mir wie aus dem Nichts ins Ohr, als sie sich praktisch in den Stuhl neben mir warf. "Ich habs dir doch gesagt. Heiß."

Mir war bewusst, dass Calyx jedes Wort verstehen konnte, also erwiderte ich nichts. Was vielleicht ein Fehler gewesen war.

"Warum so ruhig? Stimmst du mir zu?", kicherte meine Freundin weiter und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass sie die Klappe hielt.

Bevor sie noch weiteres Peinliches sagen konnte, betrat Mrs. Harding den Raum. Erleichtert klappte ich mein Heft auf. Es war wahnsinnig schwer, mein Gehirn von Wachsamkeit auf Unterrichtskonzentration zu schalten.

Doch ich tat es. Für Zachary. Zachary.

"Also. Starten wir mit der Wiederholung letzter Stunde", begann Mrs. Harding den Unterricht und wie gewohnt schoss mein Zeigefinger in die Höhe.

"Wir haben die ersten Ansätze von Kants Theorien besprochen. Seine Theorie über die Vernunft besagt, dass nur vernünftige Handlungen freie Handlungen sein können. Sobald ein Individuum nicht nach dem kategorischen Imperativ handelt, so unterliegt seiner Entscheidung die Sinnlichkeit. Triebe und Gefühle sollten nicht als Ursache für eine Entscheidung dienen. Geschiet das, ist die handelnde Person Opfer ihrer Empfindungen und nicht zu freien, vernünftigen Entscheidungen fähig."

"Sehr gut", lobte die Lehrerin stolz und nickte anerkennend. Dann wanderte ihr Blick weiter. "Calyx ... richtig? Ja, bitte?"

Mein Herzschlag stockte einen Moment, als ich seine dunkle, ruhige Stimme hörte.

"Ich finde, dass es wenig Sinn macht, sich überhaupt weiter umfassend mit Kant zu beschäftigen. Schiller ist ihm meiner Meinung nach einen Schritt voraus." Er machte eine kurze Pause.

Ich konnte dem Drang nicht widerstehen und drehte mich wie alle anderen Schüler zu ihm um. Seine grünen Augen waren nur auf mich gerichtet.

"Schiller wollte Vernunft und Sinnlichkeit miteinander verbinden. Die vernünftige, geistige Seite und die sinnhafte, naturgegebene. Sobald beide miteinander übereinstimmen, handelt das Individuum nach dem Sittengesetz, ohne seine Sinnlichkeit außer Acht zu lassen. Eine Harmonisierung beider Seiten ist geschaffen und wahre, völlig freie Entscheidungen treffbar."

"Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Prozess bei jedem Individuum durchführbar wäre", argumentierte ich nun zurück. "Es ist einfacher, bei jeder Entscheidung den kategorischen Imperativ heranzuziehen. Moralisch zu handeln, unabhängig von Emotionen."

"So bliebe das Individuum immer nur Opfer seines Verstandes und müsste seine Natur unterdrücken. Wie viele Menschen dabei wohl glücklich werden können?", provozierte Calyx weiter.

Sein Verhalten machte mich immer wütender. "Ich sehe es wie Kant. Wenn man nur richtige Entscheidungen trifft, ist man ein guter Mensch. Ist man ein guter Mensch, ist man ein glücklicher Mensch."

"Stimmt das so, Ophelia?"

Als mein Name seinen Lippen entkam und er die Grenze zur persönlichen Ebene durchbrach, fehlten mir die Worte. Der Drang, zu ihm zu laufen um ihn entweder zu erwürgen oder andere Dinge zu tun, war fast übermächtig.

"Eine sehr interessante Diskussion, die wir in Zukunft weiterführen sollten", mischte sich unsere Lehrerin nun ein. "Allerdings haben wir Schiller noch nicht besprochen, Calyx. Das kommt erst nächstes Halbjahr."

Mit zittrigem Atem drehte ich mich wieder um und starrte auf mein Heft. Den Stift in meiner Hand zerbrach ich fast. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn.

"Was war das denn?", flüsterte Betsy mir zu. "Scheiße, war das eine sexuelle Stimmung zwischen euch. Obwohl ich kaum ein Wort verstanden habe."

"Psst", machte ich, als wäre ich noch am Unterrichtsgeschehen interessiert.

"Und wie er dich angesehen hat. Als würde er dich gleich über den Tisch legen und philosophisch mit dir diskutieren."

"Betsy!", mahnte ich sie. "Sei nicht respektlos zu Zachary."

"Stimmt. Sorry", murmelte sie dann. "Aber es war wirklich so."

Den Rest der Stunde hielt sie den Mund. Als es klingelte, stürmte ich aus dem Raum und flüchtete zu den Toiletten. Auf dem Toilettensitz versuchte ich, mich ein bisschen zu beruhigen.

Alles an ihm zog mich einfach an. Seine Stimme, seine Augen, sein Selbstbewusstsein. Was war nur los mit mir? Diese ganze Anziehungssache machte mich unglaublich wütend. Ich hatte mich ja kaum noch selbst unter Kontrolle. Wie erbärmlich.

So eine Konfrontation durfte ich mir nicht noch einmal erlauben. Ab jetzt hieß es, ihn zu ignorieren. Entschlossen verließ ich die Toilette und suchte Zachary in der Mensa auf. Den Rest des Tages hatten wir Unterricht zusammen und nur einmal mit Calyx, den wir beide mieden und ignorierten.

Als der Schultag endlich zu Ende war, hatte ich nicht einmal das Bedürfnis zu laufen. Alles war so anstrengend gewesen, dass ich einfach nur noch in mein Bett wollte. Ich fühlte mich unzufrieden und... unglücklich. Wie Calyx gesagt hatte.

Als wir endlich zuhause ankamen und Zac den Motor ausschaltete, blieb ich sitzen und schnallte mich nicht ab. Besorgt wendete er sich mir zu. "Wie geht es dir?"

"Ich weiß nicht", wich ich aus. Dabei wollte ich doch mit ihm reden. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich zugeben konnte, wie schwer mir das alles fiel.

"Du wirst dich daran gewöhnen. Aller Anfang ist schwer", versuchte Zac, mich aufzumuntern. Wahrscheinlich hatte er Recht.

Wir stiegen aus und umarmten uns lange. Ich wollte nicht aussprechen, dass ich Angst hatte, ihn zu verlieren. Also lächelte ich ihn an und lief auf mein Zimmer, ohne zu Mittag zu essen.

In meinem Bett kugelte ich mich zusammen und zog mir die Bettdecke bis zum Hals. Lange Zeit starrte ich an die Wand vor mir. Vielleicht sollte ich nicht so streng mit mir sein. Bis auf die eine Sache in Philosophie war der Tag ja gut gelaufen.

Nach einigen Minuten setzte ich mich wieder auf. Vielleicht machte es Sinn, ein wenig mehr über diese Anziehungskraft zu verstehen. Um dann besser dagegen vorgehen zu können.

Augenblicklich fiel mir eine Person ein, die ich fragen konnte. Nicht meine Eltern, welche ihre Seelenverwandten nie getroffen hatten. Sondern Ethel.

Also lief ich wieder aus dem Haus und zum Rand des Dorfes, zu dem abgelegenen, alten Haus. Vor dem Türklopfer zögerte ich. Ethel hatte ihren Seelenverwandten verloren. Hoffentlich war es nicht allzu respektlos, sie auszufragen. Aber hatte ich eine andere Wahl?

Ich klopfte an. Es dauerte einen Moment, bis die Tür geöffnet wurde. Ein faltiges Gesicht sah mir entgegen, der Mund schmallippig und aufeinander gepresst, aber ihre Augen blitzten mir halbwegs lebendig entgegen. "Ich habe mich schon gefragt, wann du herkommen würdest", krächzte sie mit einer Stimme, die ihren Hals zu belasten schien.

Ich war nur imstande, ein kleines "Oh" aus meinem Mund zu entlassen.

"Komm doch rein", bot sie freundlich an, woraufhin ich erleichtert das Haus betrat. Es war warm und gemütlich hier drin. Über dem Kaminfeuer schwenkte ein alter Kessel. Ich konnte die Gulaschsuppe riechen und das Wasser lief mir im Mund zusammen.

"Woher weißt du von all dem?", fragte ich schließlich.

"Das ist ein kleines Dorf. Viel spricht sich hier herum", antwortete sie.

Das hätte ich mir denken können. "Ist es in Ordnung, wenn du mir etwas über diese Seelenverwandtschaftssache erzählst?", begann ich vorsichtig und setzte mich gegenüber von ihr in den alten, quietschenden Ledersessel.

"Aber natürlich, mein Kind. Du hättest gar nicht so lange vor meiner Tür herumstehen müssen. Schenkst du uns beiden eine Schüssel Suppe ein?", fragte sie und legte sich eine dünne, selbstgestrickte Decke über den Schoß.

Mit Freude gab ich uns beiden etwas zu essen und pustete die Suppe auf dem Holzlöffel etwas kühler, um sie zu probieren.

"Also, du hast ihn getroffen, im fremden Rudel", begann Ethel dann, woraufhin ich nickte. Sie sah mich durchdringend an. "Aber du liebst jemanden hier."

"Richtig", seufzte ich. "Ist es irgendwie möglich, keine Ahnung, dem zu widerstehen und seine eigene Entscheidung zu treffen?"

Ethel sah mich halb lächelnd, halb mitleidig an. "Ich finde es eigentlich schade, dass heutzutage viel weniger Lykantrophen ihren Seelenverwandten finden. Viele gewöhnen sich zu sehr an das Menschenleben und haben nur noch zwangsweise mit ihrer Natur zutun, wenn sie sich bei Vollmond verwandeln müssen."

Wortlos sah ich sie an und wartete, bis sie weitersprach.

"Wenn du nicht so verbunden mit der Natur und deinem wölfischen Selbst wärst, dann wäre das vielleicht gar nicht passiert. Es ist also keine Bestimmung der Natur, die dir etwas auferzwingt. Es bist du selbst. Ein Teil von dir möchte das so - diese Verbundenheit spüren, diese natürliche Seite ausleben. Zu einem kleinen Teil hast du diese Entscheidung also selbst getroffen." Sie machte eine kurze Pause, um ein wenig zu essen und gab mir Gelegenheit, sie schockiert anzustarren.

"Er wird nicht ohne Grund dein Seelenverwandter sein, denk daran, Ophelia. Aber du wirst deinen Freund ebenfalls nicht ohne Grund lieben. Ich befürchte, dir liegt ein Kampf mit dir selbst bevor. Und nur du allein kannst ihn führen."

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